Ute Bertrand:  

Wohin die Reise geht

Abschied vom Prinzip “Alles allen”
Gesundheit als Konsumgut
Krankheit als vermeidbares Informationsproblem
Anstiftung zum “Body-Controlling”
Verwissenschaftlichung der Rationierung
Service-Ethik für die Rationierung

Alle reden über Gesundheit. Allein die Diskussion über die Zukunft des Gesundheitswesens dreht sich vorrangig nicht um Gesundheit, sondern ums Geld. Das wird sich auch künftig nicht ändern, gesundheitsökonomische Argumente werden eher noch an Bedeutung gewinnen. Es ist nicht mehr anrüchig, Geld und Gesundheit in einem Atemzug zu nennen. Vielmehr gilt der Anspruch als naiv, Geld dürfe keine Rolle spielen, wenn es um das Leben von Menschen geht. Gesundheitspolitik geht mittlerweile zu weiten Teilen in Wirtschaftspolitik auf. Verschärft wird die Konkurrenz zwischen Armen und Reichen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Alten und Jungen, Kranken und Gesunden, wer was zu welchen Anteilen bezahlen soll.

Wir haben uns die Pläne der Gesundheitsreformer angeschaut, um herauszufinden, womit wir rechnen müssen. Nachfolgend stellen wir die markantesten Punkte der Reiseroute ins künftige Gesundheitswesen vor. 

 

Abschied vom Prinzip “Alles allen”

Gesundheitspolitiker und Gesundheitsfunktionäre, Gesundheitsökonomen und Gesundheitsethiker verhandeln darüber, wie Sie und ich künftig behandelt werden sollen. In einem Punkt sind sie sich einig: “Alles allen” - diesem Grundsatz könne das deutsche Gesundheitswesen nicht mehr folgen. “Wir kurieren uns zu Tode”, formuliert es griffig der Gesundheitsökonom Walter Krämer. (1994) Das läge an der High-Tech-Medizin, die immer mehr Menschen überleben ließe und dadurch immer höhere Kosten verursache. Wir sitzen in der “Fortschrittsfalle”, lautet daher sein Resümee. Zu viele alte Menschen, zu viele chronisch Kranke stünden einer immer kleiner werdenden Zahl von Beitragszahlern gegenüber. Deshalb müsse drastisch gespart werden.

Das meint auch Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer. Er beauftragte den Rat der Sachverständigen für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Ideen vorzulegen, wie das Verhältnis von “Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität” neu definiert werden könne. Anders ausgedrückt: die Wissenschaftler sollen vorschlagen, wer in welchem Umfang seine Krankheit selbst zu verantworten und zu bezahlen hat und nicht von der “Solidargemeinschaft der Versicherten” unterstützt zu werden braucht. 1994 stellten die Experten ihr Sondergutachten zur dritten Stufe der Gesundheitsreform vor. (Sachverständigenrat 1994) Die erbetenen Optionen, so urteilt Thomas Elkeles vom Wissenschaftszentrum Berlin, bedeuten “nicht mehr und nicht weniger als die Aufkündigung des bisher in Deutschland gültigen Sozialstaat-Kompromisses”. (Elkeles 1994, 15)

Die Gutachter eröffnen die Perspektive einer weitreichenden Ausgrenzung von Leistungen und Personengruppen aus der medizinischen Versorgung . Der Katalog medizinischer Leistungen, so ihre Grundidee, soll in Grundversorgung und Zusatzversicherung aufgesplittet werden. Die Bürger könnten sich dann - je nach Geldbeutel und individueller Leidensfähigkeit - aussuchen, wieviel Gesundheit sie kaufen wollen. Dies wäre der Abschied von einem Gesundheitswesen, das zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Beschäftigten finanziert wird.

Ziel ist es, die Lohnnebenkosten von den Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen abzukoppeln. Der Arbeitgeber-Beitrag zur Krankenversicherung soll möglichst stabil gehalten und die Kostensteigerung in vollem Umfang auf die Patienten abgewälzt werden. Ungebremst könnte dann die teure High-Tech-Medizin weiter entwickelt werden; sie müßte ja nicht mehr allen Versicherten gleichermaßen zur Verfügung stehen. Die Kosten trügen allein jene, die es sich leisten können, medizinische Spitzenleistungen privat zu finanzieren. Während die Interessen der Erwerbstätigen zumindest formal in den Selbstverwaltungsgremien der Krankenkassen repräsentiert sind, haben Nicht-Erwerbstätige, etwa alte Menschen, keine Lobby. Daher ist stark damit zu rechnen, daß Sparmaßnahmen sich zuerst und am einschneidendsten gegen sie richten werden.

Neben der Ausgrenzung medizinischer Leistungen aus dem Katalog der Gesetzlichen Krankenversicherung lassen sich auch Menschen ausgrenzen, um Kosten zu senken. Akzeptanz für solche Einschnitte ist vor allem dann zu erwarten, wenn die Kriterien für die Rationierung “objektiv” erscheinen. Wissenschaft und Technik dienen dazu, solche glaubwürdigen Kriterien zu entwickeln. Chipkarten und Computernetze, Epidemiologie und Statistik liefern die Datenbasis, um Gruppen zu definieren, die schlechter behandelt werden dürfen als andere. Immer differenziertere Risikoprofile können entwickelt und der Leistungsanspruch entsprechend bestimmt werden.

Es wäre nichts grundsätzlich Neues, daß Personengruppen im Gesundheitswesen ungleich behandelt werden. Schon jetzt kommen hierzulande medizinische Leistungen nicht allen gleichermaßen zugute. Besonders benachteiligt werden etwa alle Ausländerinnen und Ausländer, die in Deutschland leben und auf Sozialhilfe angewiesen sind. Nur wenn sie lebensbedrohlich erkrankt sind oder eine schwere oder ansteckende Krankheit haben, übernimmt das Sozialamt die Kosten der Behandlung. (

120 Bundessozialhilfegesetz) Ansonsten müssen sie ohne Arzt auskommen oder einen finden, der sie gratis behandelt. Auch Behandlungen von Asylbewerbern, die chronisch krank sind, dürfen nicht abgerechnet werden. (

4 Asylbewerberleistungsgesetz) Eine solche Praxis widerspricht eindeutig der ärztlichen Berufsethik. Wer hierzulande Arzt oder Ärztin wird, hat ein Gelöbnis abgelegt. Darin verspricht er/sie: “Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der ärztlichen Ausübung meiner Pflichten keinen Unterschied machen, weder nach Religion, Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung.” (Berufsordnung für die deutschen Ärzte, 1994) Wenn Bundestag und Bundesrat jedoch einmal Gesetze erlassen, die erlauben, daß vor dem Arzt nicht alle Menschen gleich sind, droht auch anderen Gruppen ohne Lobby, wie armen, chronisch kranken oder behinderten Menschen, eine ähnliche Diskriminierung.  

 

Gesundheit als Konsumgut

In seinem Buch “Solidarität 2000” hat der ehemaliger Vorsitzende des Sachverständigenrates, Michael Arnold, seine Ideen veröffentlicht, wie die medizinische Versorgung nach der Jahrtausendwende finanziert werden könnte. Sein Fazit: “Der Bevölkerung muß deutlich gemacht werden, daß viele medizinische Leistungen und Güter Präferenzgüter sind und ohne grundsätzliche Gefährdung der Gesundheit und Verletzung von Chancengleichheit entsprechend der individuellen Kaufkraft erworben werden können.” (Arnold 1993, 189) Arnold setzt dabei voraus, es ließe sich ein allgemein verbindlicher Katalog von nicht-notwendigen medizinischen Leistungen erstellen. Diese medizinischen Luxus-Leistungen brauchen folglich nicht für jeden zur Verfügung stehen - genausowenig wie ein neuer Porsche, ein Ölgemälde oder eine Leder-Couch. Welche Behandlungen aber sind notwendig und welche nicht? Medizinisch ist diese Unterscheidung nicht allgemeinverbindlich zu begründen. “Der Bevölkerung” scheint Arnold in dieser Hinsicht auch nichts zuzutrauen. So bleiben Wissenschaft und “freier Markt” als Garanten für eine gerechte Zuteilung medizinischer Leistungen.

Gesundheit wird zum Konsumgut erklärt. Offensiv vermarktet wird diese Idee mit einem Ansatz, den Gesundheitssystemforscher als “Konsumerismus” bezeichnen. Danach ist der Patient ein “Konsument mit souveränen Rechten” und “seine Bedürfnisse” sind “Nachfrageelemente im marktwirtschaftlichen Sinne”. (Schwartz 1995, 47) Auf diesem wirtschaftsliberalen Weg verschwindet die Rolle der Autorität, die von oben herab Leistungen zuteilt - und damit die Schwierigkeit, Rationierungsentscheidungen öffentlich zu verantworten. Als “König Kunde” sollen die Patienten “frei” und “selbstbestimmt” aus dem medizinischen Leistungsangebot auswählen. “Patientenorientiert” nennen die Wissenschaftler deshalb ihren Ansatz.

Die Aushöhlung des Sozialstaats kommt auf Samtpfoten daher: als Angebot an freie, informierte KonsumentInnen medizinischer Leistungsangebote, die selbstbestimmt auswählen können. Der Bioethiker Hans-Martin Sass war einer der ersten, der sich für eine Zweiteilung der Krankenversicherung stark machte und dies bis heute als großen Fortschritt für die Versicherten darstellt. In seinen Veröffentlichungen ist viel die Rede von Verantwortung, Aufklärung und den Rechten der Versicherten. So fordert er etwa, der Staat solle sich verstärkt “für die Verankerung von Verantwortungsbewußtsein, für die Risikoaufklärung und Risikoerfahrung der Bürger zuständig fühlen”. Das “Recht des einzelnen, für seine Gesundheit selbst zu sorgen, müsse endlich anerkannt werden”. (Sass 1988) Eine schöne Umschreibung dafür, daß die BürgerInnen einsehen sollen, daß sie ihre Krankheiten selbst verschuldet haben und folglich auch selbst dafür zu zahlen haben. 

 

Krankheit als vermeidbares Informationsproblem

So verwandelt sich der Spar-Zwang in ein Gesundheits-Angebot; Kürzungen in Wahlfreiheit, Autonomie und Selbstbestimmung. Bei dieser Umdeutung ist “Information” der Schlüsselbegriff; er hüllt die marktwirtschaftliche Orientierung im Gesundheitswesen in ein modernes sprachliches Gewand und suggeriert Offenheit und Transparenz. Mündig zu sein, heißt in der Informationsgesellschaft, ohne Bevormundung zu entscheiden, wieviel Gesundheit man sich kaufen will. Zugeteilt wird nicht; man selbst wählt aus. Der Patient wird als “Steuerungsinstanz” beschrieben und soll den Eindruck gewinnen, es könne gar nicht ungerecht zugehen.

Informationen können auch dabei helfen, den sogenannten Leistungsmißbrauch im Gesundheitswesen aufzudecken - ein Weg zu sparen, der der Öffentlichkeit momentan besonders gut zu vermitteln ist. Grundsätzlich gilt: Krankheit sei vermeidbar, wenn man nur ein ausreichendes Informations- und Risikomanagement betreibt und einen adäquaten Lebensstil pflegt. Wer krank wird, muß nachweisen, daß er seine Krankheit nicht selbst verschuldet hat, denn fahrlässiges Verhalten kann von der “Gemeinschaft” nicht belohnt werden. Solidarität gilt all jenen, die mit vergleichbaren Risiken beladen sind wie man selbst und die ihren eigenen Lebensstil verantwortungsvoll kontrollieren. So wird mit dem Angebot an “Risikoinformationen” im Rahmen der “Risikoaufklärung” zugleich die Verantwortung für entsprechende Vorsorge an die Patientin weitergereicht. Die Selbstausforschung, bis hinein in die Gene, wird zur moralischen Verpflichtung der Versicherten und zur ökonomischen Notwendigkeit. Das Recht auf Wissen verkehrt sich zur Pflicht zum Wissen - und ganz nebenbei zur Akzeptanz biologistischer Denk- und Verhaltensmuster.

Bei den Planungen der individuellen als auch der gesellschaftlichen Zukunft werden wir nicht mehr sagen, etwas mache uns ärgerlich oder traurig, wir seien gegen diese Technik oder für den Erhalt dieses Waldes - wir werden, von Wissenschaftlern informiert und von Experten beraten, vorrangig gesundheitliche Risiken diskutieren. Denn das Argumentieren im Namen der Gesundheit ist über jeden Ideologieverdacht erhaben. Gesundheit gilt als Konsens-Gut, als gemeinsame Zielvorstellung, über die sich unter verständigen Menschen nicht streiten läßt. Gesundheit fungiert als Ideologieersatz in einer Zeit, da der Widerstreit verschiedener Gesellschaftsentwürfe und weltanschaulicher Bekenntnisse an Überzeugungskraft verloren hat. 

 

Anstiftung zum “Body-Controlling”

Jeder ist so “frei”, gesundheitliche Risiken einzugehen oder es bleiben zu lassen, sich selbst zu versichern oder andere “Präferenzen” im Leben zu verfolgen. Die Patientin kann Gesundheit nicht bloß in Form medizinischer Leistungen kaufen, sondern auch eintauschen gegen risikobehaftete Lebensfreuden, wie Rauchen oder Trinken. Unter den Überschriften “Sündensteuer” und “Gesundheitspfenning” tauchen diese Ideen auch im Gutachten der von Seehofer beauftragten Sachverständigen wieder auf.

Keiner will der Rationierer sein. Deshalb werden “Problemlösungen” Konjunktur haben, die entweder niemandem oder allen diese Rolle zuweisen. Informationstechniken in der Gesundheitsbürokratie bedienen beide Möglichkeiten. Zum einen läßt sich mit ihnen eine Struktur aufbauen, über die anonym, ohne Ansehen der Person medizinische Leistungen nach “wissenschaftlichen” Kriterien zugeteilt werden können. Zum anderen bietet sich gerade die Chipkarten-Technik an, gesundheitliche Risiken und Kosten zu privatisieren. Wir können damit unser eigenes, individuelles Gesundheits-Konto verwalten und uns zugleich frei und selbstbestimmt fühlen, weil wir über das uns zugeteilte “Gesundheitsbudget” allein entscheiden dürfen.

Spinnen wir den Gedanken weiter, der dem oben beschriebenen geplanten Chipkarten-Versuch des Landesverbandes Sachsen der Betriebskrankenkassen zugrunde liegt: die Idee eines persönlichen Gesundheits-Kontos, auf dem sich für bestimmte Verhaltenweisen Bonus-, für andere Maluspunkte speichern lassen. Mit dieser persönlichen Bilanzierung ließe sich die Rationierung direkt an den Patienten weitergegeben. Jeder kann sich seinen Anspruch auf Gesundheit selbst erarbeiten: alle Verhaltensweisen, die - selbstverständlich “abgesichert” durch epidemiologische Studien - als gesundheitsrelevant betrachtet werden, ließen sich quantifizieren: Rauchen, fettes Essen, Trinken und gefährliche Sportarten gäben Abzüge auf der Punkteskala; regelmäßiges Schwimmen, Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen und Fitneßtraining gäben Pluspunkte. Ebenso wäre es jederzeit möglich, Pluspunkte dazuzukaufen. Auf einer multifunktionalen Chipkarte ließe sich gleich alles integrieren: schon beim Zigaretten-Ziehen am Chipkarten-Automaten um die Ecke würde das Gesundheitskonto entsprechend belastet.

Damit wird jeder zum Manager seiner selbst: Wie ein Unternehmer seinen Betrieb, bewirtschaftet jeder seinen Körper, um das Beste rauszuholen. Leistungsstreben und Kosten-Nutzen-Denken - ohnehin im Alltag fest verankert - sollen nun auch Umgangsweisen mit dem eigenen Körper prägen. Der Leistungsgedanke geht jetzt unter die Haut. Selbstkontrolle und Selbst-Optimierung nach vorgegebenen Zielen suggerieren ein Maximum an Freiheit innerhalb der gesteckten Grenzen. Immer gibt es welche, denen es noch besser oder noch schlechter geht als einem selbst. So bleiben Anreiz und Hoffnung, der eigenen Gesundheit Schmied zu sein und einen Weg zu finden, trotz krankmachender Umwelt gesund zu bleiben. Das “Body-Controlling” nicht mitzumachen, wäre dumm; nicht nur wegen der finanziellen Nachteile, sondern auch wegen des sozialen Drucks und dem Zwang zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens. In Technik realisiert, wirken die Gedanken biologistischer Lebensplanung wie Verhaltensanweisungen im Alltag. 

 

Verwissenschaftlichung der Rationierung

Wer zahlt schon gern für andere mit, wenn es nicht sein muß. Der Verursacher von Schäden soll für ihre Beseitigung selbst geradestehen. Dieses Verursacher-Prinzip harmoniert mit der Sichtweise von Gesundheit als Konsumgut. Damit kombinieren lassen sich Konzepte, die an der Effektivität des Gesundheitswesens ansetzen: Wie läßt sich mit einem begrenzten Mitteleinsatz ein möglichst großer Output an Gesundheit erwirtschaften, lautet die Frage. Sie mündet folgerichtig in die Aufstellung von “Hit-Listen” der effektivsten medizinischen Leistungen und der aussichtsreichsten Patienten. Dafür muß Gesundheit berechenbar gemacht werden. Gesundheitsökonomen arbeiten daran, den Erfolg des Gesundheitswesens unabhängig vom Urteil der Patienten und Patientinnen meßbar zu machen. Auf dieser Grundlage ließen sich dann Entscheidungen wissenschaftlich unterfüttern, welche medizinischen Behandlungen grundsätzlich notwendig und welche verzichtbar sein sollen.

Ein bekanntes Verfahren, das angewandt wird, um den Erfolg medizinischer Eingriffe zu beziffern, beruht auf der Berechnung “qualitätskorrigierter Lebensjahre”, sogenannter QUALYs. Demnach läßt sich jedes menschliche Leben durch zwei Dimensionen beschreiben: die “Lebensqualität” und die “Restlebenserwartung”. Die Lebensqualität kann zwischen 0 (=Tod) und 1 (=bestmöglicher Gesundheitszustand) variieren. So läßt sich - in der Tradition von Kosten-Nutzen-Analysen, wie sie in der Finanzwissenschaft entwickelt wurden - darstellen, mit welchem Mitteleinsatz wieviel “Lebensqualität” zu erwirtschaften ist. (Graf von der Schulenburg u.a. 1994) Operationen, die auf Dauer ein schmerzfreies Leben ohne Behinderung ermöglichen, haben demnach eine höhere Priorität, finanziert zu werden als solche, die Schmerzen bloß lindern und Behinderungen nicht verhindern. Die Unterscheidung in lebenswertes und lebensunwertes Leben kleidet sich in Wissenschaftlichkeit. In der “Rosser-Matrix”, die in Großbritannien benutzt wird, um den Sinn medizinischer Behandlungen einzuschätzen, hat beispielsweise das Leben eines unter starken Schmerzen leidenden Rollstuhlfahrers den Wert Null - genauso wie der Tod. (Kurbjuweit 1992, 38)

Deutsche Gesundheitsökonomen verweisen seit einigen Jahren vermehrt auf Vorbilder im Ausland, von denen es zu lernen gelte. Ihre wissenschaftlichen Ansätze sind in der Tat praktikabel, anwendungsnah, entscheidungsleitend, gesellschaftsgestaltend. Drei solcher “Vorbilder” seien hier kurz vorgestellt:

* Die US-amerikanische Studie “The Economics of Dying” kommt zu dem Schluß, daß die höchsten Kosten, die ein Patient durch seine gesundheitliche Betreuung verursacht, im letzten Jahr seines Lebens anfallen. Drei Wege stellen die Autoren der Studie zur Diskussion: Die Pflege in einem Hospiz statt in einem teuren Krankenhaus; die Formulierung von “Richtlinien für die Vermeidung vergeblicher medizinischer Maßnahmen” und die Abgabe von Erklärungen, daß man im Falle aussichtloser Krankheit keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht (living will). 29,7 Milliarden Dollar, rechnen die Wissenschaftler vor, ließen sich durch Kombination dieser drei Wege einsparen. Diese Kostensenkung durch die billigere Behandlung Sterbender sei allerdings zu gering, um damit die Gesundheitsreform zu finanzieren. (Emanuel/Emanuel 1994, 540 ff.)

* In Großbritannien gibt es Altersgrenzen für Dialyse. Wer mit sechzig Jahren schwer an den Nieren erkrankt und die teure Blutwäsche nicht privat zahlen kann, muß sterben. (Kurbjuweit 1992, 37)

* In Oregon stellte eine von der Regierung beauftragte Kommission für die Mitglieder der Armenversicherung “Medicaid” eine Prioritätenliste medizinischer Leistungen zusammen. An oberster Stelle stehen präventive Leistungen. Sie sollen am meisten Gesundheit zu den geringsten Kosten bringen. Nach Position 565 der insgesamt 696 Leistungen setzte die Kommission den Rotstift an. Diese Leistungen werden von der Versicherung nicht finanziert. Der Direktor der Kommission betont, daß die Liste unter Bürgerbeteiligung demokratisch erstellt wurde und in vorbildlicher Weise medizinische Fakten und Wertvorstellungen der Bevölkerung in Einklang bringe. Über Anhörungen und eine Telefonumfrage hatte man 3.500 BürgerInnen ins medizinische “ranking” einbezogen. Die Kommission war eingesetzt worden, nachdem es 1987 zu Protesten gekommen war, weil Organtransplantationen ohne öffentliche Debatte aus finanziellen Gründen verweigert worden waren. (Sipes-Metzler 1994, 305 ff.) 

 

Service-Ethik für die Rationierung

Das “moralische Erlaubnis” dieser Rationierungen erteilt die utilitaristische Güterethik, ein Zweig der Bioethik, der in den letzten Jahren Karriere gemacht hat. Sie definiert ein Ziel, etwa das großtmögliche Lebensglück für die größtmögliche Patientenzahl, und beurteilt alle möglichen Maßnahmen danach, ob sie diesem Ziel nützen. Der Ansatz eignet sich zur Legitimation für jede Art von bevölkerungsbezogenen Maßnahmen. Denn er abstrahiert vom Individuum; anders als ein Arzt, der das Wohl eines konkreten Patienten im Blick haben muß. Dadurch wird es möglich, “Leben” und “Glück” verschiedener Menschen miteinander zu verrechnen. Aufgestellt werden etwa Rechnungen zwischen den “Kosten”, die ein möglicherweise behindertes Kind verursachen würde, indem es das Glück der Eltern und Geschwister mindert, sowie dem zu erwartenden Nutzen seiner Geburt. Stets urteilen Bioethiker aus großer Distanz, aus der Vogelperspektive blicken sie auf die Gesundheitsstrukturen herab. Verteilungsprobleme gehören zu ihren Forschungsfragen, etwa die, nach welchen Kriterien “gerecht” entschieden werden soll, wer zuerst eine Niere oder ein Herz transplantiert bekommt.

Gewissenskonflikte kann ein Utilitarist nicht kennen. Erlaubt die Nützlichkeits-Ethik es doch, stets eine in sich schlüssige, bestechende und eindeutige Argumentation, ein ethisches “Patentrezept”, zu liefern. Solche einfachen Problemlösungen bestätigen die immanente Logik und Dynamik der ökonomischen und technischen Sachzwänge. So leisten die Bioethiker die Anpassung der Moral an die - vermeintlich unabänderliche - technische “Entwicklung” und die Rationierung. Wo aber allein Sachzwänge regieren, endet die Politik.

Doch so muß es, so soll es unserer Meinung nach nicht kommen. Einige unserer persönlichen und politischen Wünsche, Ideen und Anregungen finden Sie im folgenden, abschließenden Kapitel.