Hans-Jürgen Jonas:  

”Punkte machen” - Die ärztliche Behandlung

 

Organvorgaben für die Reparatur
Abrechnung nach Ziffern und Punkten
Unternehmen Arztpraxis

Gegensteuerungsversuche von Gesundheitsbürokratie und ärztlicher Selbstverwaltung
Computereinsatz als Sachzwang einer pathologischen Ziffernakrobatik?
Am Tropf der Pharmaindustrie
Informierte Gesundheitskonsumenten oder mündige Patienten?

Dr. von Testname eilt in sein Sprechzimmer. Er schüttelt Erika Mustermann zur Begrüßung die Hand. “Die letzte Patientin für dieses Quartal” denkt er und setzt sich an seinen Schreibtisch. “Sie sind zum ersten Mal hier - was kann ich für Sie tun?” Während Erika Mustermann von ihren Beschwerden erzählt schlägt er die von seiner Arzthelferin vorbereitete Krankenakte auf. “Das hört sich ganz nach einer Blasenentzündung an. Ah ja, da haben wir es ja. Ihre Urinprobe, die sie vorhin abgegeben haben, wimmelt von Keimen”. Dr. von Testname stellt ihr routinemäßig noch einige Fragen und trägt die Ziffer 61 (Vollständige Untersuchung mindestens eines Organssystems einschl. Befragung, Beratung und Dokumentation) in ihre Krankenakte ein. Dann schlägt er der Patientin “um andere Ursachen auszuschließen” eine Ultraschalluntersuchung der Harnwege und Nieren vor, da es durchaus sein könne, daß die Blasenentzündung bereits auf die Nierenbecken übergegriffen habe. Als ihn Erika Mustermann fragt, ob diese Untersuchung denn unbedingt notwendig sei, weist er sie auf die Gefahren einer unerkannten Nierenbeckeninfektion hin. Ganz nebenbei streut er noch einige Bemerkungen über das statistische Risiko von Blasenkrebs “von Frauen in ihrem Alter” ein und schickt die Patientin in eine seiner Behandlungskabinen. Zurück im Sprechzimmer erklärt Dr. von Testname, die Annahme einer Blasenentzündung habe sich bestätigt, die Nieren seien dagegen noch nicht angegriffen und auch sonst habe er nichts Auffälliges finden können. Er holt ein Medikament aus seinem Glasschränkchen und gibt es Erika Mustermann zusammen mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für ihren Arbeitgeber. Mit den Worten: “Wenn das Medikament in 10 Tagen noch nicht angeschlagen hat, kommen Sie bitte nochmal vorbei” verabschiedet er sich von ihr. Als Erika Mustermann den Raum verlassen hat, trägt er schnell noch die Ziffern 382 (Sonographie des Harntraktes mit Untersuchung beider Nieren und der Harnblase einmal im Behandlungsfall) nach, fügt eine 71 (Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gemäß

3 des Lohnfortzahlungsgesetzes) hinzu und ergänzt - nach kurzer Überlegung - die Ziffer 9 (Erörterung und Planung gezielter therapeutischer Maßnahmen zur Beeinflussung systemischer Erkrankungen mindestens eines Organsystems). Die Ziffer 3500 (Orientierende Untersuchung) wegen der Urinuntersuchung hatte die Arzthelferin bereits eingetragen.

Dr. von Testname schließt das Krankenblatt und lehnt sich einen Moment zurück. - Im letzten Monat des Quartals dürfte er wieder etwas Boden gutgemacht haben. Um wirtschaftlich zu arbeiten, müsse er 400 DM pro Stunde umsetzen, hat ihm sein Steuerberater vorgerechnet. Dieser letzte Behandlungsfall gerade dürfte ihm immerhin etwa 80 DM gebracht haben. Nicht eingerechnet ist der kleine Nebenverdienst von der Pharmafirma für jede Rückmeldung über das neue Medikament, aber der ist auch nicht der Rede wert. Wenn allerdings erstmal die Belastung für das neue Ultraschallgerät wegfällt, liegt er mit seinen jetzigen Umsatzzahlen glatt im Gewinnbereich. Wenn nur nicht alle drei Monate immer diese lästige Abrechnerei wäre. Aber irgendwie muß man ja an sein Geld kommen. Sein Kollege macht das alles schon mit Computer - es soll ja bereits Programme geben ,mit der man jeden Behandlungsfall optimal auslasten kann...- “Jetzt aber erstmal an die Arbeit” unterbricht er sich und geht in die Anmeldung, um zu sehen, wie weit seine Artzhelferin schon mit den Abrechnungsbelegen für dieses Quartal gekommen ist. 

 

Organvorgaben für die Reparatur

Wenn wir uns in ärztliche Behandlung begeben, erwarten wir Beratung und Hilfe für unsere individuellen Probleme. “Können Sie mir einen guten Arzt nennen?” ist eine der häufigsten Anfragen an Patientenberatungsstellen. Noch häufiger ist allerdings die Suche nach einem guten Rechtsanwalt bzw. die Frage nach einer Rechtsberatung, wenn etwas bei der medizinischen Behandlung “schief gelaufen” ist. Durch die Tür einer Arztpraxis schreiten wir in eine andere Welt. Wir sind bereit, die Verantwortung für uns abzulegen und begeben uns in die Hände derjenigen, deren Job es ist, über uns zu befinden (vgl. Anders 1956: 44.). Oftmals, ohne genau zu wissen, wodurch das ärztliche Handeln bestimmt und wodurch der Blick der Ärzte tatsächlich geleitet wird.

Bevor noch ein Arzt individuell an uns tätig wird, gibt die ärztliche Gebührenordnung bereits einen Rahmen vor, der das Arzt-Patient-Verhältnis grundlegend beeinflußt. Wie im ersten Kapitel dieses Buches erörtert, ist die Vorstellung einer Mensch-Maschine, mit Werkzeugen und Untermaschinen in Form von Gliedmaßen und Organen seit der Zeit da Vincis bis heute die zentrale Vorstellung der Medizin (vgl. Ongaro-Basglia 1985: 28f.). Mit der Gebührenordnung wird nicht nur die isolierende, organfixierende Sichtweise des vorigen Jahrhunderts in unsere Zeit transportiert (vgl. Hoffmann 1988: 15), auch die fachliche Aufgliederung der Medizin spiegelt sich in diesem ärztlichen Bezahlungsystem nahezu originalgetreu wider.

Die ärztliche Berufsordnung unterscheidet Ärzte mit eher übergreifenden Tätigkeitsbereichen (Allgemeinmediziner, Kinderärzte und Internisten) von Spezialärzten mit bestimmten, genau eingegrenzten Organen bzw. Organsystemen als Aufgabengebieten. Aus Sicht der Gebührenordnung sind konkurrierende Zuständigkeiten allerdings wieder säuberlich getrennt: Hals-Nasen-Ohrenärzte dürfen zwar bis hinunter in die Luft- und Speisewege behandeln, von den Bronchien abwärts gehören die Patienten abrechnungstechnisch jedoch den Lungenfachärzten. Und während Herz-Kreislauf, Lunge und Magen beispielweise zum Gebührenhoheitsgebiet der Internisten gehören, dürfen Urologen Blase und ableitende Harnwege als Organsysteme für sich beanspruchen. Allerdings könnten zum Beispiel die Nieren - die beiden letztgenannten Fachgruppen zugeordnet sind - zu einer honorarbestimmten Intressenkollision führen. Aber auch hier sorgt die Gebührenordnung für feinsinnigen Verdienstausgleich: Internisten müssen bezüglich chirurgischer Tätigkeiten gebührenblind sein. Vor dem Hintergrund von Einzelleistungsvergütung und Organaufteilung kann von Ärzte ebensowenig eine ganzheitliche Sichtweise ihrer Patienten erwartet werden, wie von Fließbandarbeitern dier Überblick über die Gesamtheit des Produktionsprozesses.  

 

Abrechnung nach Ziffern und Punkten

Die Zerstückelung einer medizinischen Behandlung in unterschiedliche Handgriffe gehört zu den besonderen Merkmalen des Abrechnungssystems für niedergelassene Ärzte. Der Rahmen für das ärztliche Honorar wird durch den Ziffernkatalog einer Gebührenordnung festgelegt. Hier sind alle anerkannten medizinischen Behandlungen in genau definierte Einzelleistungen aufgeteilt. In den Gebührenordnungen der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), dem Bewertungsmaßstab Ärzte (BMÄ) der Primärkassen und der Ersatzkassen-Gebührenordnung (E-GO) sind etwa 2500 Leistungsbeschreibungen aufgelistet, in der staatlichen Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), die für Privatversicherte gilt, rund 1000 Ziffern mehr. Mit der Einführung eines Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) 1978 wurde beabsichtigt, die unterschiedlichen Gebührenordnungen anzugleichen: “Der Bewertungsmaßstab muß den Inhalt der abrechnungsfähigen Leistungen - durch die entsprechenden Leistungsdefinitionen - und ihr wertmäßiges, in Punkten ausgedrücktes Verhältnis zueinander bundeseinheitlich festlegen” (Wezel/Liebold 1994: Abschitt 4: 1). Für den Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung existiert mittlerweile ein einheitliches Ziffern- und Punktzahlsystem. Das ärztliche Honorar für die jeweiligen Einzelleistungen ergibt sich durch Multiplikation der in der Gebührenordnung festgelegten Punktzahl für eine Leistung mit dem “Preis” eines Punktes, dem Punktwert,. Deshalb ist das “Punkte machen” zur Grundlage der ärztlichen Behandlung geworden.

Der von Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen vereinbarte Punktwert (zur Zeit 11 Pf.) wird durch die “Deckelung der Arzthonorare” (Budgetierung) korrigiert: wenn die Gesamtheit aller Ärzte mehr “Punkte macht”, wird der Punktwert gekürzt, so daß die Honorarsumme, die insgesamt an die Ärzte gezahlt wird, gleich bleibt. Der korrigierte Punktwert ergibt sich praktisch, wenn man das von den Kassen gezahlte Budget durch die Summe der Punkte teilt, die alle Ärzte zusammen abrechnen. Es gibt unterschiedliche Budget-Töpfe: aufgeteilt nach 18 deutschen Regionen, nach 5 Leistungsarten: Grundleistungen, Einzelleistungen, Labor usw., und manchmal noch nach Kassenarten. Zur Zeit liegt der Punktwert zwischen 5 und 11 Pfennig, je nach Region, Leistungsart und Kasse (vgl. Broglie u.a. 1990: 30).

Schauen wir uns unter diesen Gesichtspunkten noch einmal unser eingangs geschildertes Abrechnungsbeispiel an. Erika Mustermann ist wie ungefähr 85 % ihrer Mitbürger gesetzlich krankenversichert. Dr. von Testname legt daher den EBM mit BMÄ oder E-GO für seine Honorarzusammenstellung zugrunde.

Aus medizinischer Sicht bildet die “Vollständige Untersuchung” (Ziffer 61) einen wesentlichen Bestandteil medizinischer Behandlungen. Mit 200 Punkten wird sie höher bewertet als Ziffer 4 “Beratung, einschl. symptombezogener klinischer Untersuchung” (120 Punkte) oder etwa Ziffer 8 “Beratung, einschl. symptombezogener klinischer Untersuchung im Bereich von mehr als einem Organsystem” (150 Punkte). Sie darf - im Gegensatz zu den anderen beiden Ziffern - aber nur einmal im Quartal abgerechnet werden. Ökonomisch gesehen ist eine besonders gründliche und gewissenhafte Untersuchung für Dr. von Testname dennoch ein finanzielles Verlustgeschäft. Bezogen auf das Umsatzziel von 400 DM pro Stunde müßte er bei einem Punktwert von beispielsweise 10 Pfennigen 20 Menschen vollständig untersuchen, wofür ihm rein rechnerisch nur jeweils drei Minuten pro Patient Zeit blieben. Im Vergleich zum untersuchenden und beratenden Anteil rechnet sich der medizinisch-technische Leistungsteil der Behandlung schon eher.

Mit 405 Punkten bringt ihm die Ultraschalluntersuchung (Ziffer 382) z.B. genausoviel ein, wie die gesamten übrigen Einzelleistungen zusammen. Die Untersuchung z.B. nur der Nieren hätte ihm als “Sonographische Untersuchung eines Organs” (Ziffer 385) 180 Punkte eingebracht, eine zusätzliche “Sonographische Untersuchung bis zu drei weiteren Organen, je Organ” (Ziffer 386) 70 Punkte, also immerhin 155 Punkte weniger, als die durchgeführte Komplexuntersuchung. Noch einträglicher wäre allerdings, vorausgesetzt Dr. von Testname verfügte über ein eigenes Röntgengerät, eine “Harntrakt-Kontrastuntersuchung” (Ziffer 5080) mit 540 Punkten. Ähnlich hoch vergütet wie die Sonographische Komplexuntersuchung ist auch die bei Urologen beliebte Blasenspiegelung “Zystoskopie ggf. einschl. Urethroskopie und/oder Probeexzision bei der Frau” (Ziffer 1784), die mit 350 Punkten immer noch um die 75 % besser vergütet wird als eine vollständige Untersuchung.

Dr. von Testname und seine Umsatzziele sind natürlich eine Erfindung für unser Abrechnungsbeispiel. Aber die von ihm beispielhaft abgerechneten Leistungen sind allesamt in der Hitliste der 50 umsatzstärksten Leistungen der Arztgruppe “Urologen” zu finden (Krimmel/ Schirmer 1992: Abschnitt 8.51): Rang 1 belegt die Ultraschallkomplexuntersuchung noch vor der “Vollständigen Untersuchung” und der “Harntrakt-Kontrastuntersuchung” (Platz drei). Die ersten beiden Ziffern zusammen abgerechnet ergeben bereits knapp 20% des durchschnittlich erzielten Gesamtumsatzes dieser Fachärztegruppe. Dr. von Testname findet sich also durchaus im Kreise seiner realen Kollegen wieder. 

 

Unternehmen Arztpraxis

Mit der Notverordnung vom 8.12.1931 (RGBl. I: 699) wurde im System der Gesetzlichen Krankenversicherung die strikte Trennung von Finanzierung und Leistungserbringung eingeführt, die nahezu unverändert auch heute noch Gültigkeit hat. Die Sicherstellung der ambulanten medizinischen Versorgung ist seither das Monopol der freipraktizierenden Ärzteschaft. Als deren Vertretung wurden die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) institutionalisiert. Hatten die Krankenkassen bis dahin noch die Möglichkeit, durch Einzelverträge bzw. Anstellung von Ärzten oder Einrichtung von Ambulatorien die Entwicklung der medizinischen Versorgung zu beeinflussen und zu kontrollieren, so wurden ihre Kompentenzen weitestgehend auf die Finanzierung des durch die Kassenärzte vermittelten Leistungsangebots beschränkt. 

 

Vom Krankenversicherungsbeitrag zum Arzthonorar

Mit der Einführung der Kassenärztlichen Vereinigung als Ärztevertretung, veränderte sich auch das System der kassenärztlichen Abrechnung. Aus abrechnungstechnischer Sicht erweiterte sich das Dreieck Patient-Kasse-Arzt zu einem Viereck Patient-Kasse-Kassenärztliche Vereinigung-Arzt. Vereinfacht läßt sich das Abrechnungssystem anhand von zwei Kreisläufen darstellen, die jeweils in umgekehrter Richtung verlaufen.

Kreislauf der Abrechnungsscheine: Die Krankenkassen stellen ihren Mitgliedern Berechtigungsausweise, z.B. eine Krankenversichertenkarte (früher: Krankenschein) aus, die die Patienten bei den Ärzten abgeben. Die Ärzte übertragen ihre Leistungen auf einen maschinenlesbaren Abrechnungsbeleg, auf den schon die Versichertendaten der Krankenversichertenkarte aufgedruckt wurden, und schickt diese Belege quartalsweise an ihre Kassenärztliche Vereinigung. Diese prüft die Abrechnungen auf Richtigkeit und stellt den Krankenkassen, auf der Grundlage sämtlicher Einzelrechnungen, pro Quartal eine Gesamthonorarforderung; die Krankenkassen erhalten die Abrechnungsbelege zugesandt, beschränken sich aber bisher auf Stichprobenkontrollen.

Kreislauf der Geldscheine: Die Versicherten bezahlen ihren Krankenkassen monatliche Beiträge. Aus diesen Geldern muß die Kasse, nach Abzug der Verwaltungskosten, die Gelder für die unterschiedlichen Bereiche zahlen: Ärztehonorare (ambulante Versorgung), Krankenhaustagessätze (stationäre Versorgung), Arzneimittel usw. Die Gelder für die ambulante Versorgung werden der Kassenärztlichen Vereinigung als Gesamtvergütung zur Verfügung gestellt, diese verteilt sie auf Grundlage der abgerechneten Einzelleistungen unter den Ärzten. Werden mehr Einzelleistungen abgerechnet, als die Krankenkassen aufgrund ihres Beitragsaufkommens zur Verfügung stellen können, müssen sie die Beiträge erhöhen. Durch die Budgetierung der Arzthonorare und der verordneten Leistungen (siehe S. _) wird dies zur Zeit verhindert. 

 

Ausweitung der Gebührenordnung durch den medizinisch-technischen Fortschritt

Der Auftrag zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung macht aus den niedergelassenen Ärzten Leistungsanbieter: “Angebot und Nachfrage bestimmen den wirtschaftlichen Erfolg auch des _Unternehmens_ Arztpraxis”.(Frenzel/ Mundenbruch 1994: 39) Das Leistungsangebot können die Ärzte weitestgehend in eigener Regie bestimmen. Die Gebührenordnung ist die Grundlage für die materielle Absicherung des Leistungsangebotes. In eigens dafür geschaffenen Arbeitsgruppen von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen wird der Leistungskatalog der Gebührenordnung laufend aktualisiert. Neben der Erhöhung der Gebührensätze ist die Aufnahme neuer Leistungen, die Anpassung der Gebührenordnung an die medizinisch-technische Entwicklung (vgl. Brück 1978: 7f) deren wichtigste Aufgabe.

Der Zusammenhang von medizinisch-technischer Entwicklung und Ausweitung des Einzelleistungsangebotes in der Gebührenordnung soll im folgenden kurz am Beispiel des Ultraschalls angedeutet werden. Die Sonographie wurde im 2. Weltkrieg zur Feindesaufklärung für U-Boote entwickelt. Nach Kriegsende fanden erste Tagungen über therapeutische Einsatzmöglichkeiten der Ultraschall-Technik statt (Leidel 1949). Mit Verweis auf die noch völlig ungesicherten Befunde über die Auswirkungen des Ultraschall auf den Körper lehnten die Krankenkassen eine Aufnahme von Ultraschall-Leistungen in die Gebührenordnungen zu diesem Zeitpunkt ab. Erst mit der Änderung der Mutterschafts-Richtlinien 1979, der Einführung von “zwei Ultraschalluntersuchungen zur Beurteilung der Schwangerschaft im Sinne eines >Screening<“ (Hansmann 1981: 725), erzielte die Ultraschalluntersuchung ihren endgültigen Durchbruch im diagnostischen Anwendungsbereich; eine zusätzliche dritte Untersuchung ist Ende 1994 beschlossen worden (Mutterschaftsrichtlinien 1994). Bis Ende der 70er Jahre hatten erst zwei Ultraschall-Untersuchungen Eingang in die Gebührenordnung gefunden. Mittlerweile gibt es einen eigenen Abschnitt für Ultraschalluntersuchungen mit 14 Ziffern (EBM 1994: 70-71), im Bereich der Mutterschaftsvorsorge drei weitere Leistungsziffern (EBM 1994: 44-45, 73) und im Bereich Gynäkologie und Geburtshilfe 9 Ziffern. Inzwischen wird dort unterschieden zwischen normalen Sonographien (720 - 950 Punkte) und der nächsten technischen Generation: “zweidimensionale farbcodierte Doppler-echokardiographische Untersuchung” (1100 - 1450 Punkte) (EBM 1994: 119-120).  

 

Leistungsangebote im Spiegel betriebswirtschaftlicher Berechnungen

Bei Geräten mit geringen Investitionskosten herrscht im Bereich der ambulanten Versorgung vollständige Investitionsfreiheit, lediglich bei medizintechnischen Großgeräten wird bisher steuernd eingeriffen. Bei der Honorierung medizinisch-technischer Leistungen in der Gebührenordnung wird von dem Prinzip ausgegangen, daß auch ein Arzt mit niedriger Untersuchungsfrequenz die technischen Untersuchungen zumindest kostendeckend erbringen kann (vgl. Wanek 1994: 170). Die Anschaffungskosten eines Ultraschallgerätes werden beispielsweise mit ca. 30000 DM angegeben.Da “in der Durschnittspraxis mit 1100 Patienten je Quartal und 14% sonographischer Untersuchungen rechnerisch 616 Untersuchungen anfallen” ergibt sich folgende Kalkulation: “Den Jahreserlösen in Höhe von 18303 DM stehen periodengleiche Kosten von 8799 DM gegenüber, so daß ein Überschuß von 9504 DM jährlich entsteht. Nach gut drei Jahren hat sich damit das Gerät aus seinen eigenen Erlösen finanziert. Addiert man den Jahresüberschuß und die kalkulatorischen Zinsen, so ergibt sich eine Verzinsung des investierten Anfangskapitals von immerhin 35%” ((Miethe 1989 Abschnitt B-I 3.1.1.8: 2-3). Nach drei Jahren bringt ein Ultraschallgerät also reinen Gewinn; die zu erwartende Nutzungsdauer liegt zwischen acht und zehn Jahren. Die Honorarregelungen für medizinisch-technische Leistungen geben nicht nur einen ökonomischen Anreiz zur immer weiteren Ausstattung der Praxen mit Medizintechnik, sondern fordern auch zur überdurchschnittlichen Auslastung dieser Techniken heraus: “Der ökonomische Zwang, im Sinne der Gebührenordnung _Punkte zu machen_, hatte angesichts der bis zur Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes vergleichweise günstigen Honorierung medizinisch-technischer Leistungen und der Chance beträchtlicher Produktivitätsgewinne in diesem Bereich lange Zeit die Wirkung, die Mengenexpansion insbesondere bei den medizinisch-technischen Leistungen voranzutreiben. Darunter litt die Zuwendung zum Patienten” (Alber 1992: 106f.) 

 

Einkommenssteigerung durch Leistungsausweitung

Ebenso wie Akkordarbeiter durch die schnellere Ausführung bestimmter Handgriffe ihren Lohn steigern können, steigt das Einkommen von Ärzten mit der Zahl der pro Stunde durchgeschleusten Patienten. Im Unterschied zu Fließbandarbeiter organisieren Ärzte ihren Praxis-Betrieb allerdings selbst - die Zeitvorgaben für die Reparatur sind hausgemacht. Eine Praxis mit vielen Behandlungskabinen bietet die beste Voraussetzung für eine Akkordmedizin im 3-Minuten Takt. Und da fragende Patienten sehr zeitintensiv (sprich: störend) sind, raten Organisationshandbücher gleich zu einer Praxiseinrichtung, die zufällige Patientenkontakte des Arztes von vornherein architektonisch ausschließt.

Darüber hinaus können Ärzte die Höhe ihres Einkommens durch die Ausweitung der Menge der abgerechneten Leistungen nahezu selbst bestimmen. Zwar soll mit einem komplexen Regelwerk, besetehend aus nur einmal im Quartal abrechenbaren Leistungen und Ausschlußziffern, allzu einfachem Mehrfachabrechnen ein Riegel vorgeschoben werden. Aber Schulungsseminare der Kassenärztlichen Vereinigungen und umfangreiche Handkommentare zur Gebührenordnung (vgl. z.B. Broglie u.a. 1991: 66ff) sparen nicht mit Tips wie jeweils am günstigsten abgerechnet werden kann. Wo immer möglich, weisen sie auf sogenannte Abrechnungsketten hin: “Die folgenden Angaben über rechnerisch günstige Ziffernkombinationen helfen Ihnen, kostengünstig arbeiten zu können. Daneben sollten Sie auch darauf achten, daß Sie vor allem solche medizinisch sinnvollen Leistungen zusammen durchführen, die sich mit geringem Zeitaufwand kombinieren lassen. Wenn etwa ein Patient für die Durchführung einer Neuraltherapie 410-466 schon ausgezogen daliegt, benötigen Sie kaum zusätzliche Zeit, um noch 1 ml Xylocain intra- und paravenös zu injizieren (253)” (Machens 1994: 125).

In der Software für Arztpraxen ist vorgesehen, daß Leistungsketten vom Arzt einprogrammiert und mit einem Kürzel jederzeit aufgerufen werden können. “So könnte z.B. eine Leistungskette für die Exzision eine Hauttumors die EBM-Ziffern 61-406-2100-80-203 umfassen (Systemuntersuchung Haut, Infiltrationsanästhesie bis 5 ml, kleine Exzision aus Haut/Schleimhaut, Zuschlag für ambulantes Operieren, Kompressionsverband)”, heißt es in einem EDV-Ratgeber für Arztpraxen (Hick 1993: 113). Bei bestimmten Krankheiten, wo Patienten regelmäßig wieder in die Praxis bestellt werden, umfassen solche Leistungsketten 4 aufeinanderfolgende Arztbesuche. Fachliteratur belehrt Ärzte darüber, wie z.B. mit einem Fall von Bronchialasthma 640 Punkte in einem Quartal “gemacht” werden können (Hach 1987, Teil 2 Kap. 7 S. 4). Diese Tips sind so legal wie Steuertricks und fordern keineswegs zum Abrechnungsbetrug auf, sondern nur zur konsequenten Ausnutzung sämtlicher, im Regelwerk liegender Möglichkeiten. 

 

Leistungsausweitung durch Risikogruppenbildung

Bei genauerer Betrachtung ergibt sich, daß Ärzte nicht nur das Angebot medizinischer Leistungen bereitstellen und beeinflussen, sondern auch steuernd auf die Nachfrage einwirken können. Denn mit der Erstellung eines Krankheitsbefundes stecken sie auch den Behandlungsrahmen ab, für den sie hinterher die Leistungen erbringen. Im Zusammenhang möglicher Leistungsausweitungen erfreut sich seit geraumer Zeit der Risikobegriff besonderer Beliebtheit: die Diagnostizierung von Risikopatienten begründet nahezu jede Ausweitung einer Behandlung als medizinische Notwendigkeit. Als Beispiel bietet sich wiederum die Ultraschall-Untersuchung an. Bei einer normal verlaufenden Schwangerschaft können Ärzte mittlerweile bis zu drei Ultraschall-Untersuchungen abrechnen. Obwohl es sich hier um eine kann-Bestimmung handelt, ist die Durchführung dieser Untersuchung bereits zur gängigen Praxis bei der “Schwangerschaftsüberwachung” geworden. Aber damit nicht genug. Mit der Feststellung einer Risikoschwangerschaft können statt der drei nunmehr bis zu zehn Ultraschalluntersuchungen abgerechnet werden. Ein Präventionsleitfaden der AOK verzeichnet als Risikoschwangerschaften die Schwangerschaften

Inzwischen ist die obere Grenze des “Risikoalters” auf 35 Jahre heruntergesetzt worden. Bei derzeit sinkender Zahl von Schwangerschaften wird die Risikodefinition so ausgeweitet, daß die Anzahl der Risikoschwangerschaften (und damit die Amortisation der Ultraschallgeräte) konstant bleibt. Und da Risikofaktoren heutzutage überall lauern können, wundert es nicht, wenn sich aus dem medizinisch-technischen Leistungs-Angebot früher oder später eine Patientennachfrage nach diesen Angebot entwickelt. 

 

Gegensteuerungsversuche von Gesundheitsbürokratie und ärztlicher Selbstverwaltung

Aufgrund der Ineffizienz der Institution verbandsinterner Selbstregulation wurden durch Eingriffe des Gesetzgebers Prüfausschüsse im Abrechnungssystem eingerichtet. Diese paritätisch - aus Vertretern von Kassenärztlicher Vereinigung und Krankenkassen - besetzten Ausschüße haben vor allem die Aufgabe, das Abrechnungsverhalten von 2 % der Ärzten im Quartal auf “Wirtschaftlichkeit” zu überprüfen. Geprüft wird, ob die Abrechnungsmengen einzelner Ärzten mit dem Durchschnitt der entsprechenden Ärztegruppe innerhalb eines kassenärztlichen Abrechnungsbezirkes übereinstimmt, wobei bis zu 19% Überschreitung des Druchschnittswertes als normale Streuungsbreite gilt. Allerdings werden in der Regel Überschreitungen bis zu 49 % toleriert, erst danach werden Honorarabzüge vorgenommen. Zur besseren Selbstkontrolle erhalten die Ärzte von ihren Kassenärztlichen Vereinigungen in regelmäßigen Abständen Übersichtsstatistiken über die abgerechneten Leistungen der Vergleichsgruppe. Anhand von Strichlisten bzw. eigenen Statistiken müssen Ärzte ihr Budget der Einzelleistungen für das laufende Quartal ermitteln und entsprechend einteilen. Ganz allgemein greift dieser Kontrollmechanismus nur schlecht und vertieft vorhandene Ungerechtigkeiten des Abrechnungssystems noch weiter. Beispielsweise dürften Fachärzte mit hohem technischem Leistungseinsatz, die gleichzeitig mit einem überschaubaren Leistungsspektrum von 20 - 30 Ziffern arbeiten, kaum Schwierigkeiten haben, ihre Einzelleistungsvergütung auf hohem Niveau zu halten (vgl. Dr. Med. Mabuse 1982: 28).

Sozial oder ganzheitlich arbeitende Mediziner, die versuchen, den individuellen Problemlagen ihrer Patienten gerecht zu werden, werden gleich mehrfach “bestraft”:

Im Gegensatz zu einer Klempnerrechnung, kann uns eine zu hohe Ärzterechnung nicht nur unser Geld, sondern möglicherweise auch unsere Gesundheit kosten. Aus Sicht der Patienten ist es daher keineswegs ein Vorteil, wenn die “abgerechneten Taten” aus Angst vor der Wirtschaftlichkeitsprüfung auch begangen werden. 

 

Computereinsatz als Sachzwang einer pathologischen Ziffernakrobatik?

Mit zwei Jahren Verspätung wurde Ende 1994 die Einführung der Krankenversichertenkarte (KVK) abgeschlossen. Sie war im Gesundheitreformgesetz (GRG) von 1988 beschlossen worden und ersetzt den bisher üblichen Krankenschein als Mitgliedsausweis. Aber nicht die Forderung nach breiter öffentlicher Diskussion über die sozialen Folgen dieser Technik, vorgebracht von einer kleinen Schar kritischer Informatiker und Datenschützer sowie der unabhängigen Patienten-Beratungsstellen, hat diesen Aufschub erwirkt, sondern der hinhaltende Widerstand der organisierten Ärzteschaft. Und obwohl die Krankenkassen den Ärzten den Einstieg in das Computerzeitalter mit einem Zuschuß von 750 DM pro ÄrztIn erleichterten, haben die Ärzte berechtigten Grund zur Sorge: “Dieser >Eckstein< des GRG-Transparenzkonzeptes ermöglicht die problemlose Erstellung maschinenlesbarer Belege als Voraussetzung der Zusammenführung und Auswertung der umfangreichen Datenmengen u.a. zum Zwecke der Wirtschaftlichkeitsprüfungen” (Wanek 1994: 392).

Die Krankenversichertenkarte ist “anerkanntermaßen ein erster Schritt, um Ärzte und Patienten an die neue Technologie zu gewöhnen” (BSI 1994: 5). Aber auch ohne “Gewöhnung” hat die Bürokratisierung des ärztlichen Abrechnungssystems bereits einen Grad erreicht, der den Anteil mit Computer ausgestatteter Arzt-Praxen rapide ansteigen läßt: Je nach Gebührenordnung bis zu 3500 Ziffern, eine unüberschaubare Zahl an Ausschlußziffern und ständige Aktualisierungen der Ziffernfolge lassen die Praxis-EDV schon rein äußerlich als Sachzwang erscheinen. Allerdings erschöpft sich abrechnungsstatistisch gesehen das Behandlungsrepertoire vieler Ärzte in 20 - 30 Positionen. Und je nach Fachrichtung machen zwischen 5 - 15 Ziffern bereits 50 - 75 % des Praxisumsatzes aus (vgl. Frenzel/ Mundenbruch 1994: 39).

Erst wenn die EDV auch zum Praxis-Management eingesetzt wird, rechnet sich die Anschaffung tatsächlich. Die entsprechenden Programme vorausgesetzt, kann eine optimale Auslastung der Abrechnungsscheine erreicht werden. Schon bevor eine Patientin das Sprechzimmer betritt, zeigen solche Programme, welche Nummern noch verfügbar sind - Ärzte brauchen nur noch auf die Vorschläge des Computers zu klicken. Solche Programme weisen natürlich auch auf Anschlußnummern hin, die sich gegebenenfalls anbieten und die sonst vielleicht einfach übersehen worden wären. So wundert es nicht, daß immer mehr Ärzte sich von findigen Softwareherstellern helfen lassen, um in dem Wirrwarr von Nummern, Definitionen und Statistiken nicht vom rechten Pfad abzukommen. Und das vorgegebene Umsatzziel wird nahezu nebenbei erreicht! 

 

Am Tropf der Pharmaindustrie

“Ich gehe zum Arzt - denn der will ja auch leben. Mit dem Rezept gehe ich dann zur Apotheke - die wollen ja auch leben. Zu Hause werfe ich die Pillen dann weg - ich will ja auch leben!” (Patientenweisheit aus dem Gesundheitsladen Köln.)

“Non-compliance” heißt übersetzt soviel wie “mangelnde Zusammenarbeit” und meint Patienten, die ärztliche Ratschläge einfach nicht befolgen. Aus Sicht der Patienten erweist sich dieses Verhalten als schlichte Überlebensstrategie in einem ritualisierten Handlungssystem, das Gesundheitswesen heißt.

1986 wurden an Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung 18,7 Mrd Tagesdosen Medikamente (Reichelt 1988: 83) verordnet, 1988 waren es ca. 730 Millionen Arzneimittelpackungen mit rd. 21,5 Mrd. Tagesdosen (Alber 1992: 89) . Rein rechnerisch entfielen damit auf jedes Krankenkassenmitglied 340 bzw. 390 Tagesdosen, also über eine Tagesdosis pro Tag - Tendenz steigend. “Das griechische Pharmakon (ebenso wie das lateinische medikamentum) hatte sowohl die positive Bedeutung von Heilmittel, Arznei, Zaubertrank als auch die negative von Gift . (...) Die positive oder negative Bedeutung hängt direkt von dem Gebrauch, dem Zweck, dem Kontext ab, in dem die Substanz verwendet wird, von der Menge und Qualität, von der Eigenart des Leidens, von dem Spielraum, der dem Leidenden offensteht, sich seines Körpers mit Hilfe fremder Substanzen zu vergewissern, bzw. davon in welchem Maße er von ihr bestimmt und konditioniert wird” (Ongaro-Basaglia 1985: 99). Die doppelte Wortbedeutung: Arznei - Rauschmittel ist noch im englischen Begriff drug lebendig. Die Selbstmedikation ist kaum noch praktizierbar, da die Abgabe von Medikamenten per Verschreibungspflicht in ärztliche Verwaltungsmacht übergegangen ist. Von Selbstmedikation wird heute eher abfällig gesprochen, und erlaubt ist sie auch nur mit Mitteln, denen kaum oder nur geringe objektive Wirkungen zugeschrieben werden.

Das Produktionsvolumen der Pharmaindustrie in der Bundesrepublik wird für 1991 mit rund 31 Mrd. DM (vgl. Huber 1992: 41) angegeben. Der Etat für “Marketingmaßnahmen”, wozu vor allem Geschenke an Ärzte gehören, wird auf ca. 5 Mrd. DM jährlich geschätzt. Das A und O des Pharmaumsatzes ist die direkte, persönliche Betreuung der Ärzte durch Pharmareferenten, denn bei etwa 80000 Medikamenten und Hunderten Neuzulassungen pro Jahr brauchen auch Ärzte manchmal den richtigen Durchblick. Bei umsatzstarken Praxen kann sich die Pharmaindustrie einen Referenten für die Betreuung von lediglich drei Kassenärzten leisten. Der Konkurenzkampf um die größten Marktanteile unter den “ca. 2000 Arzneimitteln, die rd. 90 % der gesamten Arzneimittelausgaben der GKV verursachen” (Alber 1992: 89) ist hart. Von daher sind die Pharmaberater mit reichhaltigen Budgets ausgestattet. Von 50 DM-Gutscheinen für das Ausfüllen von “Erkenntnisberichten” über ein Pharmapräparat, über ADAC-Schleuderkurse, Kompensationszahlungen in Form von sogenannten Naturalrabatten (das sind kostenlose diagnostische Hilfsmittel z.B. Röntgenkontrastmittel, die über die Gebürenordnung abgerechnet werden können), bis zu kostenlosen Arzneimittel-Mustern reicht die Palette der stets gut aufeinander abgestimmten Provisonstechniken. Und ohne Subvention der Arzneimittelhersteller könnten kaum Fortbildungen der Ärzteschaft stattfinden. Besonders verschreibungsfreudigen Ärzten werden z.B. die Flugreisen zu Kongressen finanziert (vgl. Huber 1992: 42 f.).

Woher weiß ein Pharma-Unternehmen, welche Ärzte bei “seinen” Medikamenten verschreibungsfreudig waren und dafür belohnt werden sollten? Die Patienten lösen ihre Rezepte in der Regel in Apotheken in unmittelbarer Nähe der jeweiligen Arztpraxis ein. Die Apotheken-Umsätze mit den verschiedenen Arzneimitteln wiederum werden zu Abrechnungszwecken über die Apothekenrechenzentren elektronisch erfaßt. Diese stellen die Verkaufsstatistiken demInstitut für medizinische Statistik zur Verfügung. Das Institut liefert der Pharmaindustrie exklusiv kleinräumige Übersichten unter dem Titel “Regionaler Pharma-Markt” (RPM). Durch RPM kann die “Leistung” eines Pharma-Referenten überprüft werden. Der Referent kann seinerseits feststellen, wie “seine” Ärzte verschrieben haben, und kann seine Zuwendungen entsprechend verteilen (Huber 1992: 41).

Gegensteuerungsversuche der Gesundheitsbürokratie, mittels Zuzahlungen der Patienten den Arzneimittelkonsum zu drosseln, müssen wirkungslos bleiben. Sie fördern keineswegs, wie behauptet, deren “Selbstverantwortlichkeit” im Medikamentenumgang, sondern tragen höchstens zu einer Entlastung der Krankenkassen bei den Arzneimittelausgaben bei. Bisher haben die Patienten stets alles, was ihnen der Azt verschrieben hatte, brav bei den Apotheken abgeholt. Wenn die Krankenkasse es nicht bezahlte, dann zahlten sie selbst. Dennoch gehen die Kostendämpfungsversuche im Gesundheitswesen auch an den Pharmaunternehmen nicht spurlos vorbei. Eine Steigerung des Umsatzes ist bei festgeschriebenen Gesundheitsausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung künftig nur zu erreichen, wenn die Patienten mehr zur Kasse gebeten werden: “Patienten sollten sich nach Auffassung der 31 größten deutschen Pharmafirmen viel stärker an ihren Behandlungskosten beteiligen” (Kölner StadtAnzeiger 1994). “Wer leben will, muß zahlen” lautete bereits vor einigen Jahren die Devise des Gesundheitsökonomen Walter Krämer (Krämer 1982). Aber auch in einem “Schlanken Gesundheitswesen” , in dem nur noch Kernbereiche durch die Krankenversicherung finanziert werden, wird sich die Pharmaindustrie weiterhin lukrative Absatzmärkte zu verschaffen wissen: z.B. mit der Patentierung gentechnisch hergestellter Medikamente. 

 

Informierte Gesundheitskonsumenten oder mündige Patienten?

In den vorangegangen Betrachtungen zur medizinischen Handlungsrelevanz der Gebührenordnung ging es keineswegs darum “einzelne Ärzte als profitgierige Individuuen zu denunzieren” (Wulff 1971: 969). Vielmehr sollte der Blick auf einen Teil der Patient-Arzt-Beziehung gelenkt werden, der für die meisten Patienten im Verborgenen bleibt und daher von ihnen nicht hinterfragt werden kann.

Die Mängel des ärztlichen Abrechnungssystems sind seit langem bekannt und die medizinische Überversorgung als Nachteil des jetzigen ärztlichen Honorierungssystems immer wieder benannt worden (vgl. z.B. Abholz 1992; 1994). Dessenungeachtet wird das System der Einzelleistungsvergütung von Standespolitikern seit jeher als die einzig angemessene ärztliche Vergütungsform heftig verteidigt. Nur diese leistungsbezogene Honorierungsform, so die Argumentation, könne eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung garantieren. Aus der Sicht der Patienten darf, angesichts der vielen nachgewiesenen Fehldiagnosen, überflüssigen Behandlungen und Operationen, dies allerdings bezweifelt werden.

Nur selten als Nachteil benannt wird die “naturgemäß” mit dem System der Einzelleistungsvergütung verbundene Notwendigkeit eines “starken Prüfungs- und Überwachungsapparat(es)” (Wimmel 1951: 60). Der Computereinsatz zur Herstellung von Transparenz im Leistungsgeschehen der Gesetzlichen Krankenversicherung ist daher die logische Konsequenz dieser Grundbedingungen: Computer ersetzen nur die ohnehin schon weitgehend formalisierten Abläufe. Die quantitative Bewertung der ärztlichen Leistung trägt bereits die Logik der Gewinnmaximierung in sich. Die Fixierung auf die Einkommenssteigerung erklärt auch, warum aus den Reihen der Ärzte bisher so wenig Kritik an der zunehmenden Bürokratisierung des Abrechnungssystems laut wird. Die Gesundheitsbürokratie, allen voran die gesetzlichen Krankenkassen, versuchen, durch den Einsatz der Datenverarbeitung das Abrechnungsverhalten der Leistungsanbieter transparenter zu machen. Die Ärzte schaffen sich Computer und Spezialsoftware an, um die Gesundheitsbürokratie auszutricksen. Der Computereinsatz verlagert nur die Ebene der Auseinandersetzung, dreht die Spirale aus Überwachung und Kontrolle und Gegenmanövern eine Umdrehung weiter. Chip- und Computerindustrie drehen ein bißchen mit.

Egal ob über die Einführung eines Duales Systems von pauschal bezahlten Hausärzten und einzelleistungsbezahlten Techno-Medizinern diskutiert oder an die Selbstheilungskräfte der ärztlichen Selbstverwaltung durch Stärkung der Ärzteopposition appeliert wird - die Reformdiskussionen finden unter Ausschluß der Patienten statt. Gewiß, sie sollen künftig die Rechnungen ihrer Ärzte besser kontrollieren können z.B. mit Hilfe der geplanten medizinischen Chipkarten. Aber wäre dadurch tatsächlich etwas gewonnen? Könnten Patienten tatsächlich mehr kontrollieren als nur die Menge der abgerechneten Leistungen, ohne gleich zu Experten des Abrechnungssystems werden zu müssen? Privatpatienten erhalten bereits Rechnungen ausgestellt und sind deswegen doch wohl kaum als mündiger anzusehen.

Die Deformation der Gesundheit durch die Verdienststrategien kann nur aufgebrochen werden, wenn Patienten zu Experten Ihrer Gesundheits- und Lebensbedürfnisse werden. In wieweit hierbei ärztliche Hilfestellung oder Begleitung von Nöten ist und wie diese bezahlt wird, dürfte dann kein besonderes Problem mehr darstellen.