Jan Kuhlmann:  

Patienten im Datenkreis

Messen, Steuern, Regeln im Kreislauf des Beitragswesens.

Der große Plan: EDV-Kontrolle der Behandlungen

Die Hoffnungen

Messen, Steuern und Regeln in der Gesundheitsmaschine

Weitere Aussichten

1989 arbeitete ich als Programmierer bei einer Krankenkasse. Es war das Jahr, nachdem das Gesundheitsreformgesetz verabscheidet worden war. Für Fachleute hieß das Gesundheitsreformgesetz schon damals SGB V.. Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch. Darin sind Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung geregelt. Ein ganzes Kapitel: “Versicherungs- und Leistungsdaten. Datenschutz” mit 21 Paragraphen behandelt die automatische Verarbeitung der Informationen, die mit der Behandlung der krankenversicherten Menschen zu tun haben. Von all dem, was die einundzwanzig Paragraphen vorschrieben und ermöglichten, war 1989 nichts realisiert. Bis heute, 1995, ist nur ein Bruchteil davon verwirklicht. Ich bekam zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die Aufgabe, in einer Projektgruppe diese Umsetzung des Zehnten Kapitels des SGB V. in die Wirklichkeit der Krankenkasse vorzubereiten.

Jedesmal, wenn ich diese §§ 284 bis 305 genauer ansah, wurde mir schwindlig. Allein schon, wenn ich abzuschätzen versuchte, wie viel Platz auf den Festplatten des Rechenzentrums für die Informationen gebraucht würde, die die Krankenkasse bis jetzt noch jedes Quartal auf Zehntausenden von Krankenscheinen in großen braunen Pappkartons bekam. Und was das kosten würde. Aber wenn es nur das gewesen wäre. Programmierer haben wenig Illusionen über Datenschutz. Bei den Krankenkassen sind auch die Gehälter aller Versicherten gespeichert, und in der EDV-Abteilung mußten einfach einige wissen, wie man da herankam. Irgend jemand kam auch an die optimal geschützten Informationen über die versicherten Beschäftigten unserer Kasse selbst und konnte das Gehalt der Abteilungsleiter nachsehen. Nach dem neuen Gesetz sollten in diesem offenen System auch die Diagnosen unserer Krankmeldungen, die an uns verübten Behandlungen der Ärzte und die Arzneimittel stehen, die unsere Versicherten und wir verschrieben bekommen.

Wenn es nur um den Zugang ginge, wäre das halb so schlimm. In der Regel würde es mich und andere Programmierer wenig interessieren , ob Sonja Walzmann aus Pirmasens im letzten Quartal ihre Schulter röntgen ließ, oder ob Franz Hegewisch in Erlangen beim Masseur war. Unsere Programme würden dafür sorgen, daß Facharzt und Masseur ihr Geld bekommen, und damit gut. Das Schwindelgefühl bei meiner Arbeit kam auf, wenn ich daran dachte, daß Datenkreisläufe nicht nur das Mühlrad des Bruttosozialproduktes antreiben, sondern auch benutzt werden zum Messen, Steuern und Regeln der Lebenssituationen zahlloser nichtsahnender Menschen durch andere, die Macht dazu haben.  

 

Messen, Steuern, Regeln im Kreislauf des Beitragswesens.

An der Wand eines Gruppenleiters in der EDV unserer Kasse hing damals ein Diagramm von der Größe zweier Plakate. Zahllose Pfeile zwischen etwa 50 kleinen Kästchen markierten darauf den verschlungenen Weg von Informationen - Datensätzen - durch viele Programme und Rechner. Stolz erklärte der Programmierer den dargestellten Vorgang, der “Produktionskreislauf” hieß. Produktion im Unterschied zu Test, es handelte sich um die “echten”, die “Produktions”daten. “Kreislauf”, weil die Datensätze durch die verschiedenen Rechner eine insgesamt kreisförmige Bewegung vollzogen und am Ende, vielfach überprüft, gespeichert und statistisch verarbeitet, zu ihrem Ursprung zurückkehrten.

In der bisherigen Krankenkassen-EDV geht es um Beitragsdaten, um Informationen, die die Krankenkasse oder andere Sozialversicherungen benötigen, um ihre Beiträge einzuziehen und ihre Mitglieder zu verwalten (Abbildung 1). Eigentlich ist das harmlos, Sozialversicherung kostet nun mal Geld. Aber man kann die Daten, die man eigentlich nur zum Kassieren braucht, per EDV auch zum Messen, Steuern und Regeln einsetzen.

Ein paar Monate vorher mußte ich einmal alle Geschäftsstellen der Krankenkasse nach Zahl der verwalteten Mitglieder und nach Beitragseinnahmen pro Mitarbeiter absteigend sortieren. Am Ende der Liste sollten die Geschäftsstellen stehen, die am wenigsten Beiträge einbrachten. Es kostete ein paar Stunden, Daten aus der Mitglieder- und Beitragsverwaltung mit solchen aus dem Personalwesen zu verbinden und die Liste zu erstellen. Die meiste Zeit war ich mit der Erstellung schöner Balkendiagramme beschäftigt. Später sind die letzten acht Geschäftsstellen meiner Liste geschlossen worden - das war der Sinn der Sache. Weitere werden wahrscheinlich folgen (die Liste wird natürlich aktualisiert). In den geschlossenen Geschäftsstellen betreute vorher je eine Mitarbeiterin ein paar hundert Mitglieder. Die Betroffenen, auch Alte und Kranke ohne eigenes Auto, müssen jetzt zur nächsten Geschäftsstelle, manchmal 50 km weiter weg, fahren. Natürlich war eine solche Anwendung nicht in den Gesetzen vorgesehen, die die Erfassung und Verarbeitung der Beitragsdaten regeln. Aber sie gehörte zu den ziemlich naheliegenden Dingen, die man mit den Daten machen kann und darf. Als ich mich mit dem “elekronischen Krankenschein” befassen mußte, habe ich mir überlegt, wie man die Informationen über Arztbesuche der Versicherten zum Messen, Steuern, Regeln benutzen wird. Entsprechend dem Programmierer-Motto: Was machbar ist, wird irgendwann einmal gemacht. Daher das Schwindelgefühl. Ich fing an, genauer hinzuhören, wenn über Krankheit und soziale Selektion oder über Gentests bei Einstellungen geredet wurde.

Beitragsdatenverarbeitung

Datenverarbeiter lieben Validität und Konsistenz von Daten. Validität heißt, daß die gespeicherten Daten die Einheiten der “realen Welt” immer richtig bezeichnen. Jedesmal wenn z.B. jemand umzieht, muß durch ein festes Verfahren gesichert sein, daß die neue Anschrift dem Computer bekannt wird. Kein einziger Umzug darf lange unbemerkt bleiben. Konsistenz heißt, daß die Daten in sich widerspruchsfrei sind, und daß an mehreren Stellen gespeicherte Daten, die dasselbe bezeichnen (z.B. die Anschrift einer Person), immer gleich sein müssen. Validität und Konsistenz werden von deutschen Verwaltungen am liebsten durch einen geschlossenen Kreislauf von Übermittlungen gesichert, in den der betroffene Informationslieferant mittels Auskunftspflichen möglichst eng hineingeflochten wird.

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Dieser Kreislauf funktioniert schon seit 25 Jahren, ohne daß man besonderen Grund zur Klage gehabt hätte. Das Schöne daran ist, daß die Sozialversicherungen auf all das, worüber sie bisher in Computern Informationen sammelten, so gut wie keinen Einfluß hatten. Sie konnten Arbeitgeber, Einkommen, Staatsangehörigkeit oder Beruf der Menschen zwar messen, aber weder steuern noch regeln. Man wäre erstaunt, wenn man wüßte, wieviele Tonnen Papier mit höchst detaillierten Statistiken über die Versicherten jeden Monat ausgedruckt werden. Von allen EDV-überwachten Größen konnten die Krankenversicherungen aber bisher nur ihre Organisationen, ihre Erweiterungspläne und ihre Beitragssätze ändern. Sie mußten bisher ihre Pläne an Entwicklungen in der Gesellschaft anpassen, statt umgekehrt. 

 

Der große Plan: EDV-Kontrolle der Behandlungen

Die Krankenversichertenkarte, die inzwischen eingeführt wurde, ist ein kleiner Teil des großen EDV-Plans, der 1989 ins SGB V. aufgenommen wurde. Sein Kernstück sind die

295-300 SBG V., die die Abrechnung ärztlicher Leistungen und die Prüfung der Ärzte und Krankenhäuser regeln.

295 Abs. 2 schreibt vor, daß zukünftig die Kassenärztlichen Vereinigungen Abrechnungen über sämtliche ärztlichen Leistungen an die Kassen auf Wunsch auf Datenträgern liefern müssen. Gemäß

296 müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen zusätzlich in jedem Quartal über jeden Behandlungsfall umfangreiche Daten auf Datenträgern austauschen. Der Austausch läuft darauf hinaus, daß für beide Seiten das gesamte Verhalten jedes einzelnen Arztes und jeder einzelnen Ärztin bis in die Einzelheiten EDV-transparent gemacht wird. Nicht nur die vom Arzt abgerechneten Leistungen und die Diagnosen, sondern auch seine Krankschreibungen, Verschreibungen von Arzneimitteln und Heil- und Hilfsmitteln, die Überweisungen zu anderen Ärzten, die Krankenhauseinweisungen und die angeordnete Krankengymnastik, Psychotherapie oder Massage werden EDV-überprüft.

Gemäß § 297 werden darüber hinaus in jedem Quartal für eine Stichprobe von 2 % der Ärzte diese Informationen arzt- und patientenbezogen übermittelt. Insoweit ist das Arztgeheimnis aufgehoben. Wesentlicher Zweck der Datenübermittlung ist die Kontrolle der Ärzte. Diese Kontrolle wird zukünftig gemeinsam von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen durchgeführt. Das Verfahren dazu ist in § 106 SGB V. geregelt. Prüfungsmaßstäbe sind Durchschnittswerte und Richtgrößen. 

 

Prüfung der ärztlichen Leistungen

Auch heute schon werden die Abrechnungen der Ärztinnen und Ärzte geprüft. Sie prüfen sich gegenseitig in ihrer Kassenärztlichen Vereinigung. Das Gesamteinkommen aller Ärzte ist “gedeckelt”, es darf nicht mehr steigen. Rechnen sie mehr ab, wird einfach der Stücklohn pro Leistung gekürzt. Der Einzelne kann trotzdem mehr verdienen, wenn er auf Kosten seiner Kollegen viel mehr Leistungen abrechnet. Damit nun kein wildes Wett-Abrechnen der Ärzte beginnt und die Preise pro Leistung nicht ins Bodenlose fallen, haben die Ärzte die Selbstkontrolle eingeführt. Schon dieser bisherigen Prüfpraxis liegt die Vorstellung zugrunde, daß es für eine bestimmte Diagnose die optimale und wirtschaftlichste Behandlung gibt (Spiolek 1992, 212). Die Tätigkeit einer Ärztin gleicht nach dieser Vorstellung der eines guten Ingenieurs, der an einer Maschine einen Schaden feststellt und die optimalen Maßnahmen zur Behebung ergreift, wobei jede beliebige gut ausgebildete Kollegin jeden einzelnen Handgriff genau so machen würde.

Diese im Gesetz vorgesehene Prüfung der ärztlichen Leistungen nach Durchschnittswerten geht von der Hypothese aus, daß der Durchschnitt aller Ärzte einer Fachrichtung in jedem Quartal zutreffenderweise immer die gleichen Krankheiten bei den Patienten feststellt und diese entsprechend dem definierten “optimalen” Stand der ärztlichen Kunst behandelt (Baader 1983: 3f; Ratajczak 1992: 247). Dadurch muß es bei allen Ärzten einer Fachgruppe immer zum gleichen Leistungsspektrum kommen: hinsichtlich der Aufteilung der Leistungen z.B. in technische und nicht technische Leistungen, hinsichtlich der Summe der Einnahmen pro Krankenschein, sogar hinsichtlich jeder einzelnen Ziffer der Gebührenordnung für Ärzte (Ratajczak 1992: 246). Wenn die Ärztin von der durchschnittlichen Punktzahl pro Schein, dem “Scheinschnitt”, um bis zu 20 % nach oben abweicht, wird das hingenommen als normale Streuung beim “Patientengut”. Bei einer Abweichung nach oben zwischen 20 % und 50 % wird eine Einzelfallprüfung vorgenommen, bei der einzelne Behandlungen mit dem “Stand der Kunst” verglichen werden. Bei Verstößen dagegen werden Kürzungen verhängt. Liegt die Abweichung über 50 %, ist eine solche Einzelfallprüfung nicht mehr nötig für den Vorwurf des unwirtschaftlichen Verhaltens. Das Honorar wird automatisch gekürzt. Bei einzelnen Gebührenziffern setzen die Überprüfungen bei 50 % Überschreitung ein, die automatischen Kürzungen bei 100 % (Brüggemann/Mader 1990: 174).

Dem medizinischen Laien muß dieses System geradezu absurd erscheinen. Das Verhältnis zwischen Ärztin und Patientin ist ein Verhältnis zwischen Menschen, und dieses Verhältnis entzieht sich jeglicher Standardisierung und Normierung. Die Kontrollen bewirken, daß die Ärzte die Patienten nicht mehr als Individuen, sondern als Instanzen der Klasse Patient sehen, die in die statistisch am besten passende Schublade einsortiert werden müssen. Die logische Unstimmigkeit dieses Systems zeigt sich z.B. daran, daß zwar die Ärztinnen, die mehr Leistungen abrechnen als der Durchschnitt, bestraft werden, weil der Durchschnitt den “Stand der Kunst” repräsentiert; daß aber den Ärztinnen, die wesentlich weniger abrechnen, nichts geschieht, auch wenn sie nach unten noch weiter vom “Stand der Kunst” abweichen.

Nach dem Gesetz sollen die Behandlungen von Allgemeinärztinnen bald nach “Fallkomplexpauschalen” bezahlt werden, deren Höhe sich nach der Schwere der festgestellten Krankheit richtet. Wenn der Arzt eine bestimmte Krankheit feststellt, soll er künftig zur Behandlung einen festen Betrag als Honorar für sich selbst und einen weiteren Betrag für Medikamente, Heil- und Hilfsmittel bekommen. Dasselbe System wird im Krankenhaus eingeführt (§ 87 Abs. 2a SGB V., § 17 Abs. 2a Krankenhausfinanzierungsgesetz). Das Prinzip des Kontrollsystems für Einzelleistungen wird zur Zeit in Projekten auf die Diagnose-Pauschalen der Krankenhäuser übertragen. Die festgestellten Krankheiten werden damit ähnlich kontingentiert und standardisiert, wie jetzt die Behandlungen. So, wie die Ärztinnen jetzt in jedem Quartal einen Vorrat an Tätigkeiten und Medikamenten unter den Patienten aufteilen, werden sie zukünftig einen Vorrat an Krankheiten zuweisen müssen. Kein Arzt darf dann in einem Quartal mehr Allergien als Schnupfen feststellen.

Bei der Verschreibung von Arzneimitteln können statt Durchschnittswerten auch Richtgrößen zur Prüfung herangezogen werden, die zwischen Ärzten und Kassen ausgehandelt werden. Auch alle anderen ärztlichen Tätigkeiten (Krankschreibungen, Krankenhauseinweisungen usw.) sollen nach

106 SGB V. an Durchschnittswerten gemessen werden. Das System läuft darauf hinaus, daß der Arzt in jedem Quartal ein begrenztes Kontingent an Geld für Medikamente, an Krankschreibe-Tagen und Überweisungen in Krankenhäuser zur Verfügung bekommt. Die Höhe des Kontingentes bemißt sich nach dem Durchschnitt ihrer Kollegen oder nach politisch verordneten Richtwerten. Nur diese feste Menge darf unter den Patienten aufgeteilt werden. Gesundheitsleistungen werden rationiert, möglichst, ohne daß die Patienten es bemerken.

Nach aktuellen Planungen der Ortskrankenkassen und des Bundesministeriums für Gesundheit soll die Kontrolle aber viel weiter hinunter gehen. Bis jetzt wird nur statistisch geprüft, ob das gesamte Abrechnungsverhalten eines Arztes auffällig ist oder nicht. Nur bei Auffälligkeiten prüft man die einzelnen Behandlungen. In Zukunft soll jeder einzelne Behandlungsfall, auch über längere Zeit als ein Quartal, darauf überprüft werden. ob Diagnose und Therapie “plausibel” sind. Wissenschaftler sind schon dabei, im Auftrag der Verbände Profile für “richtige” Behandlungen zu bilden. Warum auch nicht, könnte man denken. Bei der Diagnose Lungenentzündung darf ein Arzt keine Massage verschreiben, aber Antibiotika. Bei Verstauchung darf es keine Beruhigungspillen geben, aber einen Verband und eine Röntgenaufnahme. Das kann per Computer geprüft werden.

Bei jedem einzelnen Patienten soll der Arzt in Zukunft nicht nur daran denken, was seiner Meinung nach dem Patienten fehlt, und was dieser haben will. Wenn er eine Massage verschreiben will, muß er überlegen: “Habe ich noch Geld für Massagen übrig?” “Brauche ich diese Massagen für andere Patienten dringender als für diesen?” “Welche Krankheit müßte ich feststellen, um eine Massage zu rechtfertigen?” “Darf ich diese Krankheit noch feststellen, oder habe ich davon schon zu viele in diesem Quartal?” “Welche Medikamente darf ich bei dieser Diagnose verschreiben, welche nicht?” Die Papierform muß stimmen, bei jedem einzelnen Patienten. Die Ärzte werden damit genötigt, sich mehr und mehr als Verwaltungsbeamte der Ärzteverbände und Krankenkassen zu verhalten.  

 

Wie es technisch funktionieren soll

Kernstück dieses Projektes war die Ausstattung aller Versicherten (ca. 85 % der Bevölkerung) mit einer Krankenversichertenkarte, auf der persönliche Daten in einem Microchip gespeichert sind, insbesondere Name, Anschrift, die Krankenkasse und die Versichertennummer. Die Ärzte wurden auf Kosten der Versicherten durchgängig mit Geräten ausgestattet, in denen die Karten gelesen werden können. In der einzelnen Arztpraxis werden die Abrechnungsscheine (früher: Krankenscheine), die Rezepte und Krankmeldungen automatisch mit den Versichertendaten bedruckt. Die Arztnummer, das Behandlungsdatum, der Befund, die vom Arzt abgerechneten Leistungen werden maschinenlesbar hinzugefügt. Der Abrechnungsbeleg (oder ein entsprechender Datensatz) wird an die Kassenärztliche Vereinigung weitergeleitet. Dort werden die Informationen automatisch gelesen und ausgewertet. Die Kassenärztlichen Vereinigungen reichen die Daten seit 1994 per Datenträger an die Landesverbände der Krankenkassen weiter. Die Kassen speichern die Informationen in Rechnern, um die Ärzte zu überprüfen.

Das in der Praxis ausgedruckte maschinenlesbare Rezept muß der Versicherte bei der Apotheke einreichen. Dort wird zu jedem verschriebenen Medikament noch die Pharmazentralnummer erfaßt und auf das Rezept gedruckt. Auf diesem Rezept stehen jetzt Kennzeichen des Versicherten, seiner Krankenkasse, des Arztes, der Apotheke, der Medikamente, sowie die Preise - alles maschinenlesbar. Das Rezept wird von einem Lesegerät erfaßt, als Datensatz an ein Apotheken-Rechenzentrum weiter geleitet und von dort an die Krankenkasse. Dort wird es im Großrechner gespeichert. Das gleiche gilt von allen anderen Rezepten, z.B. für Brillen, Rollstühle, Verbände. Bei den Krankenkassen sollen alle Leistungen, die ein Arzt verordnet hat, zusammengeführt und an die Kassenärztliche Vereinigung gemeldet werden. So ermittelt man die Ärzte, die ihr zugeteiltes Kontingent überschritten und mehr verordnet haben, als sie durften.

Muß man ins Krankenhaus, ist man einer besonders intensiven Datenabschöpfung der Krankenkasse ausgesetzt. Alle Behandlungsinformationen, die das Krankenhaus hat und die sich irgendwie standardisieren lassen - insgesamt mehr als 30 verschiedene Datenfelder - müssen an die Krankenkassen weiter geleitet werden. Natürlich maschinell lesbar und damit für die Computerkontrolle aufbereitet. Da man in Deutschland gründlich arbeitet, wurde auch die Krankschreibung nicht übersehen. Auch sie wird vom Arzt maschinenlesbar ausgedruckt, einschließlich des digitalen Nummernschlüssels für die Krankheit auf dem Abschnitt für die Krankenkasse.

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Die aktuellen Pläne

Wie diese riesigen Datenmengen (siehe Abbildung 2) übermittelt und verarbeitet werden sollen, ist bis Redaktionsschluß dieses Buches, Mai 1995, nicht endgültig geklärt. Kassen und Ärzteverbände müssen die Einzelheiten durch Vertrag regeln. Von den vorgesehenen neun Abschnitten des “Vertrags über den Datenaustausch mit Datenträgern” sind erst vier vereinbart worden. Daß auch sie wieder geändert werden, steht schon fest.

Die Angestellten-Krankenkassen wollen die private Firma debis, die EDV-Tochter des Daimler-Benz-Konzerns, zur Schaltzentrale für Gesundheitsdaten machen. Die Ärztekammern, Krankenhäuser und Apotheken sollen alle Behandlungs-Informationen an debis liefern. Dort sollen sie nach Krankenkassen aufgeteilt und an die Krankenkassen übermittelt werden. Es wäre der logisch nächste Schritt, daß debis die Daten nicht nur verteilt. Eine Krankenkasse allein hat gar nicht genug Informationen, um das “Leistungsverhalten” eines Arztes statistisch so zu untersuchen, wie es die Kassenärztliche Vereinigung kann. Jede Kasse hat nur Behandlungsinformationen über ihre Versicherten. Nur eine Zentralstelle könnte, um einen Arzt zu überprüfen, gleichzeitig auf die Daten aller verschiedenen Angestellten-Kassen zurückgreifen. Debis könnte diese Funktion übernehmen.

Die Konkurrenz, die Orts-, Betriebs- und Innungskassen (sog. Primärkassen), ist nicht untätig. In einem Modellversuch in Bayern wollen die Primärkassen, gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit, diese “Kassenübergreifende Auswertung” der Krankheitsdaten erproben. Krankenhäuser, Apotheken und Ärzteverbände sollen einer einzigen Zentralstelle die Behandlungsdaten aller Versicherten liefern. Dort sollen die Daten durchgeprüft werden. Ein solches Gesundheits-BKA ist zwar im Gesetz nicht vorgesehen, aber das Seehofer-Ministerium fördert es und wird eventuell notwendige Änderungen des Gesetzes rechtzeitig veranlassen. 

 

Die Hoffnungen

Die Bekannten, denen ich von den Verdatungs- und Kontrollplänen erzählte, verstanden meine Bedenken nicht. Die Skepsis wegen der Speicherung von Informationen über ihre Krankheiten und Krankschreibungen teilten sie. Aber daß man den Ärzten endlich mal auf die Finger sehen müsse, sei doch klar.

Noch größer war meine Verwunderung, als ich mit kritischen Fachleuten aus den Krankenkassen sprach. Es muß doch endlich etwas geschehen, war der Tenor. Daß man das Gedröhn um die “Kostenlawine im Gesundheitswesen” in Frage stellte, war Ehrensache. In diesem Milieu kennt man die Zahlen und die Fakten. (Siehe dazu Seite _). Aber daß sich die Ärzte mit sinnloser Apparatemedizin zügellos bereichern, daß sie unsinnige Arzneimittel verschreiben und man dem nur mit scharfen Kontrollen beikommen kann, war allgemeine Meinung. Die Frage, wer denn kontrollieren, was der Kontrollmaßstab sein solle, löste nur Achselzucken aus. Wer kontrollieren solle? “Na, am besten wir! Hauptsache, den Ärzten wird endlich auf die Finger geklopft.”

Eine Vokabel kam immer wieder vor: Selbstbedienung der Ärzte. (Siehe S. _). Die einzelnen Ärzte werden nach Einzelleistungen bezahlt. Sie können also ihr Einkommen dadurch steigern, daß sie den Patienten mehr oder aufwendigere Behandlungen “verkaufen”. Solange dieses Entgeltsystem besteht, scheint es, als sei eine schärfere Kontrolle der Ärzte notwendig. Die Kontrolle setzt aber voraus, daß jemand besser als Arzt und Patient weiß, wie man einen Menschen und seine Krankheit richtig behandelt.

Auch in den ehemaligen sozialistischen Staaten haben die Institutionen sich selbst vorgestellt als wissenschaftlich gebildete, allwissende Überväter, die den Bürgerinnen und Bürgern soziale Leistungen gerecht und gleichmäßig zuteilen können, weil sie bis ins Detail über sie informiert sind. Dasselbe Konzept, nämlich Eigennutz und Eigenwilligkeit der Menschen durch dichte und unausweichliche Kontrollen zu bekämpfen, steht hinter den Plänen zur EDV-Kontrolle der Ärzte. Gesichtspunkte der “Wirtschaftlichkeit” und des Marktes werden mehr und mehr zur Leitlinie dieser Kontrollen (Kühn 1991). Wir sind auf dem Weg, die Nachteile des Sozialismus mit denen des Kapitalismus zu vereinigen.

 

Selbstbedienung und Selbstbeteiligung

Das “Institut der deutschen Wirtschaft” bezifferte die Netto-Jahreseinkommen niedergelassener Ärzte bei Laborärzten auf 692.000 DM, bei Orthopäden auf 323.000, Urologen 211.000, Allgemeinärzten 143.000, Kinderärzten 132.000 DM. Das ist bei den Allgemeinärzten soviel, wie ein Bundeskanzler nach Hause trägt, bei den anderen erheblich mehr. Des öfteren kommen Fachleute auf die Idee, daß hier enorme Möglichkeiten der Kostensenkung stecken (Welzk (1995): 142).

Gesundheitsökonomen sprechen davon, daß bei den Ärzten Bedarfswecker und Bedarfsdecker identisch seien. Also: Die Ärzte sagen den Patienten, welche Behandlung ihnen fehlt, und bieten sie ihnen an. Die Patienten akzeptieren das Angebot, das ihnen der Arzt als “gesundheitsnotwendig” darstellt. Bei uns kostet das die Patienten erst einmal nichts (das ist das Sachleistungsprinzip). Das Beispiel der USA zeigt, daß die Patienten den Ärzten auch dann glauben, wenn sie die bestellte Behandlung gleich selbst bezahlen müssen. Sofern sie es sich irgendwie leisten können. Dort wird pro Kopf noch viel mehr für Gesundheitsleistungen ausgegeben als bei uns. Selbstbeteiligung der Versicherten änderte am Verbrauch von Gesundheitsleistungen in den hochentwickelten Industrieländern nichts. Sie bewirkt nur eine unsoziale Verteilung der Belastung (siehe Seite _).

Solange am Prinzip der Einzelleistungs-Vergütung nichts geändert wird, werden die Einkommen der Ärzte nicht sinken. Da diese das wissen, halten sie an dem Prinzip fest. Wenn man Kosten sparen will, ohne Rationierung und Standardisierung von Gesundheitsleistungen, ohne 3-Klassen-Medizin, müßte das Bezahlungssystem geändert werden. Man müßte sich allerdings möglicherweise auf einen Ärztestreik, einen politischen Krieg eines ganzen Wirtschaftszweiges gefaßt machen.  

 

Messen, Steuern und Regeln in der Gesundheitsmaschine

Ärzte gehören in Deutschland zu den Großverdienern. Oben in Kapitel 3 haben wir gezeigt: Gespräche mit den Patienten bringen ihnen so gut wie nichts ein, es sei denn, sie stufen die Patienten gleich als psychiatrische oder psychosomatische Fälle ein. Auch eine gutwillige und materiell anspruchslose Allgemeinmedizinerin hat deshalb nur zwei Möglichkeiten, nicht pleite zu machen: entweder sie erbringt technische Leistungen, von der Blutabnahme über die Spritze bis zum Röntgenbild, die sie selbst für unnötig hält. Damit deckt sie die Verluste, die sie durch Gespräche macht. Oder sie rechnet Leistungen ab, die sie nicht erbracht hat. Die materiell anspruchslosen Ärzte, mit denen ich gesprochen habe, tun ein wenig von beidem. Da kann man sich ausrechnen, wie die materiell anspruchsvollen Ärzte abrechnen.

Solange die Kontrolle der Abrechnungen nur über die “Scheinschnitte” funktioniert, kann das gut gehen. Denn den Einblick in die Einzelleistungen haben nur die Kassenärztlichen Vereinigungen. Die aber haben keinerlei Interesse, die vielen Tricks der Ärzte aufzudecken, die sogar in Seminaren vom Hartmannbund gelehrt werden. Viele Ärzte haben schon ein Praxis-EDV-System mit einer Ärzte-Software, die von der Kassenärztlichen Vereinigung anerkannt ist. Bestandteil jedes dieser Programme ist, daß der Anwender jederzeit feststellen kann, wie weit er mit ihren Behandlungen im Quartal noch vom Durchschnitt der Ärzte seiner Fachrichtung und von der eigenen Abrechnungsleistung im letzten Quartal entfernt ist. Damit wird der Arzt darauf orientiert, pro Krankenschein ein wenig mehr als den Durchschnitt abzurechnen. Die Kostensteigerungen werden dadurch für die Kassen nicht greifbar, sie lassen sich nicht auf den einzelnen Arzt zurückführen.
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Wenn aber jetzt die Krankenkassen in die Einzelheiten des “Leistungsgeschehens” hineinsehen können, werden eine Vielzahl von Plausibilitätsprüfungen möglich. Stimmt der Durchschnitt der Diagnosen? (Nicht alle Patienten können eine sehr schlimme Krankheit haben). Stimmt der Zusammenhang zwischen Diagnose und Leistung? (Bei einem Schnupfen kann man keine Blutabnahme machen). Stimmt das Verhältnis zwischen Leistungszeit und Arbeitszeit (ein Arzt kann nicht 100 besonders gründliche Untersuchungen am selben Tag durchführen). Und in den Stichprobenprüfungen können die Kassen sogar direkt die Patienten fragen, was der Arzt getan hat.

Den einzelnen Ärzten bleiben nur Ausweichstrategien. Man kann ehrlich sein und bei normalen Infektionen nur eine einfache Untersuchung und Beratung aufschreiben. Dann muß der Patient nach drei bis vier Minuten das Behandlungszimmer verlassen. Also: Griff zum Rezeptblock, Billig-Arzneimittel, der nächste bitte. Oder man kann öfter als bisher etwas wirklich Schlimmes bei Patienten finden, etwas, das eine intensive Behandlung erfordert. Diese intensive Behandlung führt man dann auch wirklich durch. Am besten, man kombiniert beide Methoden, dann stimmt die Statistik über alle Patienten.

Bisher haben die Ärzte auch ein bißchen die Patienten betrogen. Wenn sie sich ausführlicher mit uns unterhalten hatten, schrieben sie zum Ausgleich ein paar teure Gebührenziffern und eine entsprechend schlimme Diagnose. Wir wußten zum Glück nichts von unserem Siechtum. Wenn aber die Kassen auch die Apothekenrezepte, Röntgenleistungen usw. in die Kontrolle einbeziehen, geht das nicht mehr. Dann werden wir den Verdacht des Arztes auf Magengeschwür oder auf einen kleinen Gehirntumor, der bei schlimmen Magen- oder Kopfschmerzen ja aufkommen kann, bitter ernst nehmen müssen. Er wird uns nicht sagen, daß er diese Diagnose gerade braucht, um in diesem Quartal seinen Schnitt zu machen. Das gleiche gilt für schwerwiegende psychiatrische und psychotherapeutische Diagnosen, z.B. “psychische Dekompensation”. Die dazugehörigen Behandlungen sind inzwischen mit ähnlich hohen Punktwerten ausgestattet wie technische Leistungen. Ihre Nutzung wird “ganzheitlichen” und anderen Ärzten dringend empfohlen, damit sie rentabel arbeiten (Machens (1994): 127; Brüggemann/Mader (1990): 127-130). Die Kontrolle der Ärzte erzwingt, daß sie demnächst nach den Möglichkeiten der Gebührenordnung nicht nur aufschreiben, sondern auch Krankheiten feststellen und behandelt werden. Und wir, die Patientinnen und Patienten, werden mitmachen. Was bleibt uns übrig, als den Fachleuten zu vertrauen. Wir müssen uns damit abfinden, daß wir nach einer Medizinalordnung kuriert werden, und daß bei uns die Krankheiten auftreten, die dort stehen.  

 

Steuerung der medizinischen Weltsicht

Durch die Art der Abrechnung wird auch bestimmt, wie medizinische Leistungen unter den Patienten aufgeteilt werden. Budgets für Arzneien und Hilfsmittel haben ebenso ihre Auswirkungen, wie Diagnose-Pauschalen. Die Tendenz der Budget-Kontrollen richtet sich gegen die Alten und Kranken. Denn je jünger und gesünder die Patienten sind, desto weniger Hilfsmittel und Medikamente verlangen sie vom Arzt, desto geringer wird dessen Risiko, sein Konto für Medikamente und Hilfsmittel zu überziehen. Mit vielen alten oder behinderten Patienten hängt der Arzt schnell in den Maschen der Kontrolle. Es ist seit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993 im finanziellen Interesse der Ärzte, jüngere und gesündere Patienten zu behalten, und überzählige Alte und chronisch Kranke zur Konkurrenz abzuschieben. Der ideale Patient, die ideale Patientin ist mittelkrank. Weder ganz gesund (daran verdient man nichts), noch behindert oder chronisch krank (zu hoher Ressourcenverbrauch, Gefahr des Honorarabzugs.) Der Normalmensch hat eine Normkrankheit.

Für die Allgemeinmediziner und Praktischen Ärzte soll es in Zukunft eine “Leistungskomplexpauschale” pro Patient und Quartal geben, deren Höhe sich nach der Schwere der Krankheit richten soll. Damit werden Ärzte noch mehr Menschen, die kaum zu klagen haben, für ziemlich krank erklären müssen, aber die, denen es sehr schlecht geht, werden oft gesünder sein, als sie denken. Wir werden gesunde Kranke, und kranke Gesunde. Denn je schlimmer die Krankheit ist, die die Ärzte bei mir feststellen, desto mehr Geld der Kasse dürfen sie für mich ausgeben, desto mehr verdienen sie selbst. Die Festbeträge richten sich aber nach Durchschnittspatienten. Bei derselben Krankheit ist die Behandlung von Jungen und Gesunden einfacher und billiger. Die Heilung von Alten, chronisch Kranken oder Behinderten ist viel teurer, sie verbrauchen mehr Arbeitszeit, Mittel und Medikamente, als ihre Pauschalen hergeben. Sie sind für die Krankenhäuser schon heute eine Belastung. Auch für die Ärzte werden sie es bald sein. Bei ihnen ist es ökonomisch ungünstig, neue Krankheiten zu erkennen, denn man müßte sie mit Verlust behandeln. Da sieht der Arzt lieber nicht so genau hin.

Die Fachärzte sollen weiterhin Einzelleistungs-Vergütungen erhalten. Im Interesse der Transparenz, die von den Kassen angestrebt wird, müßte es dort bei der harten Medizin bleiben. Also bei der Körperteil- und Organreparatur nach Zeitvorgaben, denn nur eine solche Behandlungsweise ist mit dem neuen System prüfbar. Eine sanfte Medizin entzieht sich der Kontrolle. Bei ihr ist einem bestimmten äußerlichen Symptom nicht eine ganz bestimmte, mit bestimmten Mitteln ausgeführte Diagnose und Therapie zugeordnet. Wenn die sanfte Medizin sich bei Fachärzten durchsetzten würde, wären die Kontrollinvestitionen der Kassen sinnlos. Doch die Kassen werden es uns nicht leicht machen. Sie werden mit ihren Kontrollen sanfte Behandlungsweisen noch unrentabler machen, als sie schon sind.

Für die Fachärzte läuft es deshalb darauf hinaus, ihre Behandlungsweise einzufrieren. Das Verständnis von ärztlicher Kunst, das dem “einheitlichen Bewertungsmaßstab” zugrunde liegt, nämlich die Organ- und Körperteilreparatur nach Zeitvorgaben, wird unveränderbar festgeschrieben. Auch die jetzige Verteilung der Krankheiten und Behandlungen auf die Gesamtheit der Patienten wird zunächst eingefroren, dann planmäßig beschränkt. Wir bekommen eine Standardmedizin mit Standarddiagnosen und Standardtherapien. Ob es uns persönlich besser oder schlechter geht als der Standard vorsieht, ist unwichtig. Wer anders behandelt werden will, muß sich privat versichern.  

 

Auf dem Weg zur Klassenmedizin

Ärztevertretungen fordern bereits seit langer Zeit, daß die gesetzliche Krankenversicherung nur die sogenannte Grundsicherung abdecken solle. Alles, was darüber hinaus gehe, sollten die Patienten selbst zahlen (und könnten dafür eine private Zusatzversicherung abschließen). Beim Zahnersatz wurde schon ein erster Schritt in diese Richtung gemacht.

Die Aufspaltung in Grund- und Zusatzsicherung kann nicht nur dadurch geschehen, daß bestimmte ärztliche Leistungen ausdrücklich aus dem Leistungskatalog herausgenommen werden. Möglich ist auch, daß die Kassen und Ärztevereinigungen eine ärztliche Behandlungsweise, die uns Patienten angemessen erscheint, durch ihre Kontrollen unmöglich machen. Wenn die Kontrollen wirklich greifen und die Ärzte dadurch zur Minimal-Medizin gezwungen werden, wächst der Anreiz, dieses System mit einer privaten (Zusatz-)Krankenversicherung hinter sich zu lassen - natürlich nur für die, die es sich leisten können. Die Grundversorgung der etwas Ärmeren, die noch von den Kassen bezahlt wird, könnte dann um so rigider kontrolliert werden. Grundlagen dieser Kontrolle liegen schon bereit: Theorien darüber, wessen Gesundheit und Leben zuerst geopfert werden muß, wenn das Geld knapp wird.

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”Kostenexplosion im Gesundheitswesen”

In der Öffentlichkeit wird die Ausgabensteigerung im Gesundheitswesen (Abbildung 4) oft als eine Katastrophe dargestellt. Aber der Anteil von Fernreisen, Autokäufen und Spielbankumsätzen am BruttoInlandsprodukt ist in den letzten Jahren noch weit massiver gestiegen. Mit wachsendem Wohlstand wird eben im Verhältnis weniger für Essen, Kleidung und Wohnen ausgegeben und mehr für Gesundheit, Spielbanken und Autos.

Der wesentliche Unterschied bei den Gesundheitskosten ist, daß Autos, Fernreisen und Rouletteeinsätze nicht sozial gerecht verteilt werden, daß man ihre Kosten nicht vom Lohn abzieht. Die Wohlhabenden bezahlen da klaglos die geforderten Preise für sich ganz allein. Sie geben für die Versorgung der Ärmeren keinen Pfennig, es herrscht Ruhe hinsichtlich der Preise der Autos und Fernreisen. Die gleiche Ruhe könnte auch bei unseren Gesundheitskosten herrschen, wenn die Wohlhabenden für ihre ganz persönliche Gesundheit doppelt so viel Geld zahlen würden wie die momentanen Krankenkassenbeiträge, aber keinen Pfennig den Ärmeren zu opfern bräuchten. So ist es in den USA. Die Kosten des Gesundheitswesens für die Gesellschaft sind dort doppelt so hoch, der Gesundheitszustand der Armen ist trotzdem miserabel. Aber niemand spricht dort von einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Statt dessen sprechen viele in den USA von einer katastrophalen Sozialpolitik. Viele verarmte Weiße mußten erleben, daß sie oder ihre Nachbarn mit 50 vom staatlichen Gesundheitssystem fallengelassen wurden, daß behinderte Kinder sterben mußten. Die staatliche Krankenversicherung war ein Hauptthema des Wahlkampfes von Bill Clinton, er versprach Besserung für deren Finanzen. Aber wir hinken ja immer 10 Jahre hinter den USA her. 

 

Weitere Aussichten 

 

Der medizinische Lebenslauf

Krankenversicherungen und Mediziner planen die lebenslange elektronische Patienten-Akte. Damit sollen, unter anderem, teure Doppeluntersuchungen verhindert werden. Jedem Mediziner, der uns untersucht, sollen die Informationen über unsere bisherigen Behandlungen zur Verfügung stehen. Entweder auf unserer Gesundheits-Chipkarte, oder über ein Computer-Netzwerk, an das alle Ärzte und Krankenhäuser angeschlossen sind. Um meine Zweifel an diesem Konzept zu erklären, hmöchte ich hier folgende Geschichte erzählen, die, wie ich weiß, kein Einzelfall ist:

Militärmediziner hatten bei mir eine Nierenentzündung festgestellt und mich für untauglich erklärt. Ich selbst hatte nichts gemerkt und glaubte nicht richtig daran. Aber meine Freundin machte sich ernsthafte Sorgen, ich ging zum Urologen. Der Arzt fragte mich, welche Niere entzündet war, aber ich hatte es vergessen. Er forderte die Befunde bei der Bundeswehr an. Aber als sie wochenlang nicht kamen, machte er Röntgenaufnahmen beider Nieren und fand in der linken Niere eine chronische Entzündung. Er zeigte sie mir auf dem Röntgenbild, die Entzündung sei da, deutlich zu sehen. Er behandelte sie fast ein Jahr lang, ich mußte Sulfonamide in hohen Dosen nehmen, aber meine Urin-Befunde und die Röntgenaufnahmen wurden nicht besser. Der Arzt wollte zur Chemotherapie mit Cortison übergehen, oder mich zwecks “offener Nieren-Biopsie” aufschneiden, ich weigerte mich. Meine Freundin meinte, ich sollte vernünftig sein, man könnte daran sterben. Aber jetzt kamen die Befunde von der Bundeswehr. Die Ärzte im Bundeswehrkrankenhaus hatten die Entzündung ganz eindeutig in der rechten Niere erkannt. Die Aufnahmen lagen bei, und die Entzündung in der rechten Niere war mit Filzstift eingekreist. Ansonsten waren die Bilder identisch mit denen von meinem Arzt. Danach bin ich einfach nicht mehr hingegangen; das ganze ist 20 Jahre her.

Inzwischen weiß ich aus Erfahrung: ich könnte mir jederzeit wieder beim Urologen eine Nierenentzündung abholen, auf jeder gewünschten Niere, ich brauche nur leichte Rückenschmerzen rechts oder links zu haben. Der Urologe würde die Entzündung auf dem Röntgenbild sofort sehen: wegen des Urin-Befundes muß sie einfach da sein. Ich könnte dann solange Cortison schlucken, bis wirklich eine Niere kaputt ist. Wenn es damals einen Ort gegeben hätte, wo man meine medizinischen Daten hätte abrufen können, wäre ich um diese Erfahrung ärmer. Jeder Urologe hätte zuerst in den Computer geschaut und geprüft, was seine Kollegen gesehen haben. Und dann hätte er das gleiche gesehen. Da wäre ich machtlos gewesen und hätte Cortison eingenommen. Und hätte wahrscheinlich keine Chance mehr gehabt, manche Einstellungsuntersuchungen zu überstehen. Mein Leben wäre gründlich anders verlaufen.

Viele Patienten lassen wichtige medizinische Feststellungen noch einmal von einem zweiten Arzt gegenchecken, ohne ihm von der ersten Untersuchung zu berichten. Solche Doppel-Untersuchungen sollten möglich sein. Niemand soll wissen, ob es überhaupt, und wo es medizinische Informationen über uns gibt, es sei denn, wir wünschen es. Daß es eine allgemein bekannte Stelle gibt, bei der Gesundheitsdaten gespeichert sind, verletzt schon unser Selbstbestimmungsrecht. Bisher konnte jeder Versicherte unwiderlegbar behaupten, er sei nicht in ärztlicher Behandlung. Man muß häufig bei der Einstellungsuntersuchung den eigenen Arzt von der Schweigepflicht gegenüber dem Betriebsarzt entbinden. Aber man kann seinen Arzt veranlassen, nur bestimmte Informationen weiterzugeben, kann gar keine oder nur bestimmte Behandler angeben und andere verschweigen. Zukünftig könnten Arbeitgeber die Einstellung davon abhängig machen, daß man die “Selbstauskunft” der Krankenkasse über seine gespeicherten Gesundheitsdaten vorlegt. Auf diese Selbstauskunft hat jeder einen gesetzlichen Anspruch. Der Auszug aus dem Gesundheitsregister könnte in Zukunft eine ähnliche Rolle spielen, wie die Schufa-Auskunft (Kuhlmann 1993: 205).

Aber die Gesundheitsökonomen sehen ein “hohes Sparpotential”, wenn man alle Doppel-Untersuchungen unterbinden würde. Noch mehr könnte man nach ihrer Ansicht sparen, wenn alle Menschen ihre Gesundheitsrisiken kennen und gesundheitsbewußt leben würden. Auch dazu soll die elektronische Krankenakte dienen. “Wer Risiken vermeidet, bleibt gesünder”, so heißt es. Die Anleitung des Lebens durch Medizin wird in den Alltag verlängert, jeder wird dadurch ununterbrochen Patient.  

 

Risikovorsorge und medizinisch gelenktes Leben

Früher gab es eine Sorte Gesunde und viele Arten von Kranken. Man war gesund, wenn man nicht zum Arzt ging. Zukünftig gibt es keine Gesunden mehr. “Risikoträger des Risikos X” ist eine neue Art der Diagnose. Bei jeder Behandlung muß der Arzt unsere Krankheit in ein Schlüsselverzeichnis einordnen, die “Internationale Klassifikation der Krankheiten” (International Classification of Diseases, ICD). Darin ist jeder Krankheit eine Nummer zugeordnet. In der Klassifikation, in die wir zur Zeit eingeordnet werden, nämlich der neunten Revision der ICD, sind bereits viele Bereiche mit “Risiko-Diagnosen” enthalten: Gutartige Neubildungen (210 - 229 ), Persönlichkeitsstörungen (301), Sexuelle Verhaltensabweichungen und Störungen (302), wozu auch Homosexualität gehört (Ziffer 302.0), Alkoholabhängigkeit (303) - Alkoholkrankheit ist eine andere Ziffer -, und 315 (Umschriebene Entwicklungsrückstände). Zu jeder dreistelligen Zahl gehören 5 - 10 einzelne Diagnosen (ICD-9 1988).

Die neue, 10. Revision der ICD (ICD-10 1992) enthält wesentlich mehr solche Risiko-Diagnoseklassen: Entwicklungsstörungen bezüglich Schulleistungen (F 81), Störungen der sozialen Funktion, spezifischer Beginn in Kindheit und Jugend (F 94, eine solche Krankheit ist z.B. das Nasenbohren), anormale Befunde bei der Urinuntersuchung (R 80 - R 82), anormale Befunde bei anderen Körperflüssigkeiten, Substanzen und Geweben, ohne Diagnose (R 83 - R 89), persönliche Geschichte von Risikofaktoren (Z 91). Einige Diagnosen aus dieser Zehnten Revision treffen auch dann auf mich zu, wenn ich mich glänzend fühle: Konstitutionell hohe Statur (E 343.4 ), Mäßige Protein-Mangelernährung (E 44.1), Koffein-Abhängigkeits-Syndrom (F 15.2).

Wenn ich wegen eines solchen Risikos nichts unternehme, bin ich falsch beraten. Denn mit Statistikprogrammen können Forscher Zusammenhänge zwischen Risiko und Krankheit herstellen. Etwa zwischen bestimmten Schulleistungen und der Wahrscheinlichkeit, verrückt zu werden; zwischen der Anzahl der Kinder, die eine Frau zur Welt gebracht hat, und sogenannten Fehlbildungen ihrer Neugeborenen; zwischen Ernährungszustand und Lebenserwartung. Mediziner, z.B. die Erforscher menschlicher Erbanlagen, entdecken viele verschiedene Gesundheiten, die man haben kann. Schon dem Säugling bei der Vorsorgeuntersuchung werden Eigenschaften zugeschrieben, die er nie wieder verliert.

Man braucht viele Datenspender, um statistisch zu beweisen, daß ein Gen, ein Verhalten, eine “Störung” oder ein “abnormaler Befund” zur Krankheit führt. Vorsorgeuntersuchungen, Reihenuntersuchungen von Schwangeren, von Neugeborenen und Arbeitnehmern sind ergiebige Datenquellen (Bertrand/Kuhlmann 1994). Zukünftig soll die Gesundheits-Chipkarte zur Kontrolle eingesetzt werden, ob Schwangere und Mütter von Kleinkindern sich regelmäßig untersuchen lassen, ob jeder Versicherte über 40 zur Krebsvorsorge geht. Die Karte ist Bestandteil eines elektronischen Daten-Sammel-Systems, demnächst wird es mit ihrer Hilfe Datenbanken mit jeweils Dutzenden von Gesundheits- und Lebensdaten über Millionen von Versicherte geben. Damit kommt man ohne großen Aufwand kleinsten “Risiken” auf die Spur. Ein Schritt in diese Richtung sind bundesweite Register für Fehlbildungen von Neugeborenen, und die Krebsregister, die zur Zeit geplant sind. Auch wenn die Daten anonymisiert werden: über den Umweg der Statistik wirken sie auf das Individuum zurück.

Denn in einer Risikogruppe zu sein, kann gravierende Folgen haben: Der Schularzt fordert bei der Einschulung das Kindervorsorge-Heft an, die frühkindlichen Untersuchungen beeinflussen die Schullaufbahn. Die Krankenkasse rät Risikopersonen zur Therapie und zu einem anderen Lebensstil. Die private Versicherung verlangt höhere Beiträge, oder sie weigert sich - z.B. bei Verdacht auf Homosexualität - Verträge abzuschließen. Der Frauenarzt rät zum Abbruch der “genetisch riskanten” Schwangerschaft. Die Arbeitnehmerin mit “genetischem Risiko” wird - nach dem Regierungsentwurf zum Arbeitsschutzgesetz - an einen anderen Arbeitsplatz versetzt oder entlassen. Wer nicht Risiken vermeidet, wer Ski fährt oder raucht, trotz Übergewicht keinen Sport treibt, nicht zum Zahnarzt geht, soll mehr bezahlen. Die Gemeinschaft der Versicherten könne schließlich nicht die Kosten des “unverantwortlichen Verhaltens” tragen.

Dem medizinisch gesteuerten Leben könnte in Zukunft große Wichtigkeit zukommen. Religiöse und politische Ideologien liefern den meisten Menschen keine ausreichende Erklärung mehr für ihr Schicksal. Religion, politische Haltung, Geschlecht oder Herkunft werden nicht mehr als Erklärung für die eigene Lebenssituation herangezogen. Doch verschiedene Lebenschancen, fast unüberwindliche Schranken gibt es immer noch in unserer Gesellschaft. Medizin und Psychologie sind im Begriff, diese Lücke zu füllen. Bekannte erklären mir, daß sie durch eine Therapie jetzt ihre wahren Bedürfnisse verstanden hätten. Arbeitslose, Streßopfer und Benachteiligte sehen oft bei sich selbst ein medizinisches oder psychisches Problem - wie z.B. die hysterischen Frauen im 19. Jahrhundert. Schon meinen Genetiker, für Alkoholismus, Schizophrenie und Kriminalität gebe es erbliche Risikofaktoren.

Gerade die Personenkreise, die einmal mit Vorsorgemedizin geschützt werden sollten, werden durch die Risiko-Vorsorge ausgegrenzt. Empfindliche Arbeitnehmer an giftigen Arbeitsplätzen werden nicht geschützt, man nimmt ihnen den Arbeitsplatz. Arme, die ungesünder arbeiten und leben als Wohlhabende, bekommen nicht etwa mehr Geld, sie sollen mehr zahlen für ihren Versicherungsschutz. Behinderte werden als vermeidbar hingestellt, Homosexuelle ausgegrenzt, Straffällige als unheilbar weggesperrt. US-Gewerkschaften, die früher Präventionsprogramme unterstützt haben, raten jetzt den Beschäftigten, sich nicht mehr untersuchen zu lassen. In Deutschland käme eine solche Warnung womöglich zu spät. Denn eine Pflicht zu Risiko-Untersuchungen gehört zu den Plänen, die Bundesgesundheitsminister Seehofer für die dritte Stufe der Gesundheitsreform angekündigt hat. Jede und jeder Versicherte soll mindestens einmal jährlich zum Arzt. “Wenn sich herausstellt”, so Seehofer im Juli 1994 in einem Interview, “daß der Versicherte durch gesunde Ernährung, notwendige Hygiene, regelmäßige Bewegung, Verzicht auf Nikotin und weitgehenden Verzicht auf Alkohol zu seiner eigenen Gesundheit aktiv beiträgt, soll er weniger Selbstbeteiligung im Krankheitsfall und weniger Versicherungsbeitrag zahlen.” Im gleichen Atemzug forderte Seehofer die direkte Ankopplung der Ärzte an die Großrechner der Krankenkassen. Sie wäre erforderlich, um die Meldungen über den Gesundheits-TÜV technisch zu handhaben. 

 

Rationierung von Gesundheitsleistungen und Qualität des Lebens

Wenn jeder sein Leben lang Patient ist und ärztlich betreut wird, kostet das Geld. Das ist das Thema der Gesundheitsökonomen. In der Gesundheitspolitik ist ihr Wort in den letzten zehn Jahren immer wichtiger geworden. Die elektronische Zuteilung von Gesundheitsleistungen soll nach ihren Vorschlägen in Zukunft nach neuen Maßstäben geschehen: denen von Ökonomie und Bioethik. Berichte des “Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen” sind zur Leitlinie der Gesundheitsreformen geworden. Darin haben die Gesundheitsökonomen ihre Argumente schon durchgesetzt.

Gesundheitsökonomen und Ärzte profitieren von einem Dogma der Neuzeit: niemand darf etwas wichtiges nur deswegen bekommen, weil er es will. Das wäre die Ökonomie der Bedürfnisse. Das Gesetz der Marktwirtschaft ist aber Knappheit. Wenn jemand sich etwas wertvolles nicht kaufen kann, muß wenigstens wissenschaftlich festgestellt werden, daß er es braucht (Stone 1993: 52). Bei der Gesundheit soll nicht das Geld darüber entscheiden, ob man behandelt wird. Aber, wenn weder das Geld entscheiden soll, noch der bloße Wunsch des Einzelnen ausreicht, was dann? Bisher haben “objektive Befunde” entschieden. Wenn Ärzte uns krank schreiben, dürfen wir zu Hause bleiben, sonst nicht. Wenn ihr Befund es verlangt, behandeln sie uns, sonst nicht. Nur, wenn sie es sind, die uns Medikamente verschreiben, uns ins Krankenhaus einweisen, bekommen wir, was wir wünschen. Sie sollen uns nur dann etwas geben, wenn wir es wirklich brauchen. Wenn aber jeder ein gesunder Kranker ist, wenn Krankheit nichts objektives mehr ist, wird das schwierig. In der Medizin hat sich beinahe die Ökonomie der Bedürfnisse durchgesetzt.

Das war die Chance der Gesundheitsökonomen: Sie wollen jetzt die angeblich knappen “medizinischen Güter” verteilen. Ihre erste Forderung ist, sie wieder an die zu verkaufen, die zahlen können. Dazu schlagen sie verschiedene Versichertenklassen und die Ausgrenzung von Leistungen vor. Aber nach welchen Kriterien sollen die Leistungen ausgewählt werden, die die Versicherung noch zahlt; wie sollen diejenigen Versicherten ausgewählt werden, die Leistungen erhalten? Die Medizin hat keine Maßstäbe dafür. Gesundheitsökonomen bringen da eine neue Wissenschaft ins Geschäft: die Bioethik. Ihr Vorschlag: Was uns am glücklichsten und längsten leben läßt, wird noch bezahlt. Was weniger Glück und langes Leben bringt, muß jeder selbst kaufen (Arnold 1993: 163 - 165). Aber was das Glück ist, und wie viel Lebensdauer man durch eine Behandlung erwerben kann, dürfen Patienten nicht selbst einschätzen, die Bioethiker stellen es objektiv fest. Sie berechnen die Qualität und Lebenserwartung, die unser Leben durch eine Behandlung statistisch bekommt. Da Alte und Behinderte angeblich nicht so glücklich sind wie Junge, Nichtbehinderte, und vielleicht kürzer zu leben haben, erhalten sie weniger Leistungen. Die Normen der Bioethik sollen zu Qualitätsmaßstäben der Medizin werden, indem ermittelt wird, welche Behandlung objektiv für welche Gruppe von Patienten die beste ist, also welche ihnen mit dem gegebenen Geld die höchste “Lebensqualität” verschafft (v. d. Schulenburg u.a. 1994). Eines Tages werden das Richtlinien für Ärzte sein, deren Einhaltung per EDV überwacht wird.

Um solche Qualitäts-Berechnungen anzustellen, werden sehr große Datenmengen aus dem “Leistungsgeschehen” gebraucht. Man benötigt Liegezeiten im Krankenhaus, Alter der Patienten, Kosten der Operationen und den weiteren Krankheitsverlauf für Tausende von “Fällen”. Erst mit Hilfe der Krankenversichertenkarte und der Vernetzung im Gesundheitswesen können diese Daten gesammelt und genutzt werden. Die Krankenversichertenkarte verwandelt den unverwechselbaren einzelnen Versicherten in den statistischen Versicherten, der Arztcomputer macht das unverwechselbare einzelne Gespräch oder die Operation zur statistisch verwertbaren Behandlungsinformation. In dieser “zweiten Realität” werden neue Tatsachen hergestellt, die sich auf den unverwechselbaren Versicherten auswirken: es wird festgestellt, wieviel man noch in ihn investieren soll und kann.