Claus Stark:  

Patienten á la carte

Chipkarten in Medizin und Gesundheitswesen

Bedeutung der Chipkarte in der heutigen Technomedizin
Kleine Geschichte der Medizinischen Chipkarte

Erika Mustermann hat Schmerzen im Knie. Deshalb sucht sie die Praxis von Dr.med. von Raitzenstein auf. Von der Arzthelferin wird sie aufgefordert, sich mit ihrer Chipkarte auszuweisen. Ihre MediCard kommt in den blinkenden Schlitz des Empfangscomputers. Das ärztliche Expertensystem Galileus bittet um die Freigabe des medizinischen Datenbereichs auf ihrer Karte. Dazu gibt Erika Mustermann ihre persönliche PIN, die zwölfstellige persönliche Geheimnummer, ein. Galileus führt die Vor-Anamnese durch, indem es ihre Krankengeschichte auf spezielle Fragen hin analysiert. Im Sprechzimmer wird Erika Mustermann bereits von einem der Assistenzärzte erwartet. Auf dem Computer präsentiert Galileus dem Arzt eine vorstrukturierte Grundinformation über ihren aktuellen Gesundheitsstatus. Der Arzt befragt sie nochmals kurz und ergänzt die Angaben im Computer.

Er untersucht ihr Knie. Danach gibt er den Befund seiner “eingehenden körperlichen Untersuchung eines Organsystems” in den Rechner ein. Galileus macht ihn darauf aufmerksam, daß die Patientin vor 15 Monaten an der Hüfte operiert wurde. Mit dem Einverständnis von Erika Mustermann wird die Akte umgehend elektronisch von der Orthopädischen Klinik angefordert und überspielt. Galileus berechnet eine erste Diagnose, die der Arzt bestätigt. Daraufhin schlägt Galileus eine optimale Behandlungsstrategie vor. Der Arzt klärt die Patientin auf und empfiehlt ihr, dem Therapieplan zuzustimmen. Nachdem Erika Mustermann das JA-Feld angeklickt hat, bucht Galileus die bei den Behandlungspartnern vorab eingeholten Termine. Er spielt den Behandlungsplan und die Rezepte auf die MediCard. Auf dem Heimweg geht Erika Mustermann schnell noch am Automaten vorbei, um sich ihre aktuelle Medikamentenzuteilung abzuholen. Morgen früh wird sie zur Krankengymnastik gehen, nachmittags hat Galileus für sie ein Schlammbad im Therapiezentrum gebucht.

Chipkarten in Medizin und Gesundheitswesen

Erika Mustermanns Arztbesuch ist in dieser Form noch Utopie. Allerdings schreitet die Computerisierung des Gesundheitswesens mit großen Schritten voran. Wir gehen dabei gewohnt gründlich vor: Deutschland ist weltweit Vorreiter, seinen Bürgern die Nutzung einer Technologie - diemal in Form der Krankenversichertenkarte - gesetzlich vorzuschreiben. Sie ist aber nur die sichtbare Spitze des Eisbergs einer Umstrukturierung unseres Gesundheitswesens (Hammer/Roßnagel, 1989; Schaefer, 1993). Der großen Wandel vollzieht sich dagegen eher unsichtbar für die Allgemeinheit: 1994 waren bereits mehr als die Hälfte aller Arztpraxen mit EDV ausgerüstet - Tendenz stark steigend. Das ist nicht allein der Karte zuzurechnen. Auch der Zwang, künftig die Abrechnung nur noch mit komplizierten Diagnoseverschlüsselungen und Abrechnungsmodalitäten durchführen zu können, wird seinen Teil dazu beigetragen haben. Innerhalb kürzester Zeit wird ein ganzer Berufsstand - natürlich mit finanzieller Unterstützung der Versicherten - computerisiert. Auch Krankenhäuser sind ohne KIS, einem Krankenhausinformationssystem, nicht mehr arbeitsfähig; Sie müssen komplexe Statistiken führen und ihren Kostenträgern regelmäßig vorrechnen, daß sie noch profitabel arbeiten - oder sie werden geschlossen.

Medizin ohne Computer und Chipkarten wird man sich bald nicht mehr vorstellen können, sollte sich dieser Trend fortsetzen. Bereits jetzt arbeiten Medizininformatiker an europaweiten Computernetzwerken, die die Institutionen der verschiedenen europäischen Gesundheitswesen verbinden sollen. Der spanische Arzt soll in dänischen Krankenakten stöbern können, wenn er einem Unfallopfer Erste Hilfe leistet. Experten aus Norwegen und Belgien werden dem deutschen Kollegen via Videokonferenz und ferngesteuertem Operationsbesteck bei einer Transplantation hilfreich zur Seite stehen. Expertensysteme wie APACHE III werden auf der Intensivstation über Leben und Tod befinden. Und nicht zuletzt: Die Arbeitskräfte werden im Binnenmarkt Europa erst dann wie freie Nomaden umherziehen, wenn sie sicher sein können, im fremden Land auch krankenversicherungs- und medizintechnisch versorgt zu werden.

Und was meinen die Patienten, Erika Mustermann und Willi Normalverbraucher, dazu? Sie stellen schließlich die größte Gruppe auf dem “Spielfeld” Gesundheitswesen. Um sie dreht sich offiziell alles, sie stehen im Mittelpunkt aller Bemühungen - und damit allen anderen im Wege, wie führende Medizininformatiker auf Fachtagungen flachsen. Laut Umfragen der Technikerkrankenkasse und des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen, die 1993 anläßlich der Einführung der Krankenversichertenkarte durchgeführt wurden, wird das elektronische Krankenscheinpendant von den Versicherten sehr gerne angenommen. Es ist ja wirklich praktisch, ohne Krankenschein direkt zum Facharzt gehen zu können, zumal der Datenschutz in den Broschüren der Krankenkassen sehr ernst genommen wird. So werden neue Technologien mustergültig eingeführt. Die Medizin eignet sich sehr gut als Testfeld der Ingenieure und Informatiker, denn die gesellschaftliche Akzeptanz ist in diesem Bereich sehr hoch - sie erwartet kein großer Widerstand. “Der Patient wird die Medizinische Chipkarte von sich aus fordern!” freuen sich die Kartenprotagonisten schon heute - und wahrscheinlich behalten sie sogar recht, denn ihre Verheißungen sind sehr verlockend.

C. Peter Waegemann, Veranstalter kommerzieller Chipkartenkongresse, rechnete bereits 1992 mit ca. 50 Anwendungen, die mit der Chipkarte im Gesundheitswesen machbar seien (Waegemann, 1993). Neben der Krankenversichertenkarte, einer rein verwaltungstechnischen Anwendung, sind sehr viele medizinische Anwendungen möglich: Notfallkarten, Gesundheitskarten und Apothekenkarten sind nur einige Beispiele, die heute schon in Deutschland erprobt werden. Allerlei Pässe lassen sich auf einem entsprechenden Kärtchen unterbringen: Impfungen, Blutspenden, Organspendewilligkeit, Allergien, AIDS-Befund, Röntgenuntersuchungen und weiteres sind problemlos in wenige Bytes zu speichern. Für chronisch Kranke soll in Zukunft nur noch mit Dialyse-Karten, Krebsnachsorge-Karten und dergleichen eine adäquate Behandlung sicherzustellen sein. Schwangeren wird ein elektronischer Mutter- und Säuglingspaß verpaßt. Und für Beschäftigte im Gesundheitswesen werden Professional Cards zum Berufsalltag gehören.

Die “Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen” machte 1994 darauf aufmerksam, daß sich diese Karten schnell gegen die Patienten und Bürger richten könnten, z.B. in Form einer “KrankenerfassungsCard, RisikogruppenCard, DurchleuchtungsCard, EntsolidarisierungsCard und einer 08/15-BehandlungsCard” (Gesundheitsladen Köln, 1994). Und tatsächlich: Bei der Definition und Realisierung von Chipkarten-Projekten werden Vertreter von PatientInnenstellen und Selbsthilfegruppen nicht gefragt. Industrie- und Standesinteressen dominieren und auf Nachfrage bei den Verantwortlichen behaupten diese schlicht, daß sie selber ja auch Patienten seien und daher deren Interessen implizit Berücksichtigung fänden.

Die Kartentechniker treibt ganz andere Sorgen um: “In Frankreich und anderen Ländern ist man schon viel weiter - wir werden zum Entwicklungsland, wenn die Deutschen erst jahrelang die Folgen diskutieren wollen!” unken sie. Sie berauschen sich auf Kongressen und Workshops immer wieder erneut an den “Chancen” der Karte, daß sie gar nicht merken, wie sich ihre Kritikfähigkeit dabei verflüchtigt. In Sonntagsreden fordern die Techniker zwar sozialorientierte Technikgestaltung - tatsächlich sind adäquate Anstrengungen in dieser Hinsicht nicht zu erkennen. Einige geplante Chipkartenprojekte sollen nun kritisch unter die Lupe genommen werden. Beim Studium der nachfolgend beschriebenen Chipkarten ist zu beachten, daß vieles noch nicht Realität ist. Bis auf die Krankenversichertenkarte findet in Deutschland bisher noch keine weitere Karte Anwendung im Routinebetrieb. Daher müssen oft Vermutungen angestellt werden, wie es sein könnte - in der Hoffnung, daß die Grenze zwischen Realität und Fiktion jeweils klar erkennbar bleibt. Über die Plausibilität der Annahmen möge der Leser selbst urteilen.

 

Pflicht für (fast) alle : Die Krankenversichertenkarte

Die Krankenversichertenkarte (KVK) wurde durch das Gesundheitsreformgesetz von 1988 eingeführt. Gesetzliche Grundlage ist

291 im Fünften Sozialgesetzbuch (SGB V). Der Gesetzgeber hatte nicht unbedingt eine Chipkarte vorgesehen: Ein Pappkärtchen hätte es auch getan - ihm kam es nur auf die eindeutige Identifikation aller Versicherten an. Die Krankenkassen favorisierten die Magnetstreifenkarte, um Maschinenlesbarkeit zu erreichen. Die Ärzte, jahrelang gegen jegliche Versichertenkarte, setzten sich schließlich an die Spitze der Bewegung und forderten ein zukunftsweisendes Konzept: Die Chipkarte. Die KVK wurde von Ende 1993 bis Anfang 1995 in Deutschland flächendeckend an alle Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung verteilt. Rund 90 Prozent der Bevölkerung, das sind ca. 73 Millionen Menschen, verfügen heute über dieses Kärtchen. Bei den Ärzten, Krankenhäusern und Altenheimen wurden in diesem Zeitraum ca. 150000 Lesegeräte und Formulardrucker installiert, um diese Karte auch benutzen zu können. Der hundertjährige Krankenschein hat damit ausgedient.

Die KVK ist das grundlegende Glied in der Kette der Datenübertragung im “Neuen Gesundheitswesen”: Der auf ihr gespeicherte Datensatz dient allen Leistungserbringern, von der Hebamme über den Apotheker bis zum Arzt, als Leitinformation aller ihrer Leistungsdatensätze, die sie an die Abrechnungsstellen schicken. Mit dieser Leitinformation lassen sich alle Daten dort auch wieder automatisch zusammenführen (siehe Kapitel 4). Die KVK stellt nur eine Komponente dieser neuen “stromlinienförmigen Datenflüsse” dar: Ärzte, Krankenkassen, Krankenhäuser, Patienten, Krankheiten und Medikamente müssen geeignet durchnumeriert werden, damit alle diese Daten mit Computern verarbeitet werden können. Schätzungsweise müssen 20 dieser Numerierungssysteme (Nummernkreise) aufgespannt werden, um unser Gesundheitssystem effektiv zu computerisieren. Gelinge dies nicht, drohe ein elektronisches “babylonisches Verständigungswirrwar”, warnen die Verantwortlichen (Geiss, 1994). Für viele Ärzte war die Einführung der KVK der richtige Zeitpunkt, sich einen Computer für die Verwaltung ihrer Praxis, ein Arztpraxissystem, zuzulegen. Diese Systeme leisten wertvolle Dienste bei der optimalen und schnellen Abrechnung. Viele Ärzte rechnen heute schon papierlos via Diskette ab. Umfassende ISDN-Vernetzung der Praxen, Apotheken, Abrechnungsstellen und Leistungsträgern wird dann bald auch die Disketten obsolet machen.

Welche Daten auf der KVK gespeichert werden dürfen, wurde durch den Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch festgelegt. Neben den Daten zur ausstellenden Krankenkasse sind es folgende versichertenbezogene Daten: Versichertennummer, Versichertenstatus, Ergänzung zum Status: Ost/West, Titel, Vorname, Namenszusatz, Familienname, Geburtsdatum, Straßenname und Hausnummer, Wohnsitz-Ländercode, Postleitzahl, Ortsname, Gültigkeitsdatum und die einfach strukturierte Prüfsumme. Es erheben sich aber immer wieder Stimmen aus dem Lager der Sozialbürokraten und Medizintechniker, die Beschränkungen des Gesetzgebers endlich neu zu überdenken - Potentiale der Karte würden sonst ungenutzt brachliegen. Es muß darauf geachtet werden, daß diese Schranken nicht schleichend fallen und “sinnvolle kleine Ergänzungen” die kleine KVK schließlich zu einer Super-Pflicht-Gesundheits-KVK aufblähen.

Die KVK wird als Wegbereiter weiterführender Kartensysteme angesehen. Zum einen wird durch die KVK die technische und organisatorische Infrastruktur mit all den Computern, Kartenlesern, Computernetzen, der Software, den Nummernkreisen und der Schulung des Personals geschaffen. Zum anderen werden Hemmschwellen gegenüber einer Neuen Technologie mit einer leicht zu handhabenden Versichertenkarte natürlich sehr schnell abgebaut. Es ist - bewußt aus diesem Grunde? - kein komplizierter Paßwortschutz in die KVK eingebaut worden. Bereits Mitte 1994 wurde die Karte von den beteiligten Institutionen als erfolgreiches Jahrhundertprojekt gefeiert. Nach dem Nachweis der Machbarkeit und der Akzeptanz stünden nun viele Interessenten Schlange, die dieses Ausweis- und Abrechnungssystem auch haben wollten. Sogar international dient sie als nachahmenswertes Beispiel: Österreich soll als erstes Land eine KVK-kompatible Versicherungskarte herausbringen und die wechselseitige Anerkennung im grenzüberschreitenden Verkehr mit Deutschland vereinbaren (Geiss, 1994). Das wird der Anfang der länderübergreifenden elektronischen Zusammenarbeit sein. Aber auch außerhalb des Medizinbetriebes stößt die KVK auf wirtschaftliche Verwertungsinteressen: Sie wird bereits jetzt als computerlesbare Stechkarte in einem “genialen Zeiterfassungssystem für kleine und mittlere Betriebe” genutzt. Weitere nicht-medizinische KVK-Anwendungen in Tankstellen und Banken werden “nicht ausgeschlossen” (Kumpfert, 1995). Die Privatwirtschaft weiß, wie sie aus unseren Versicherungsbeiträgen Profit schlagen kann.

 

Krankengeschichte im Geldbeutel

Die gesamte Krankengeschichte auf einem kleinen Kärtchen: Arztbriefe, Befunde, Röntgenbilder, Allergien, Impfungen, Medikamente, Besonderheiten - das sind die Träume vieler Medizininformatiker! Das Thema der lebensbegleitenden Krankenakte wird in der Fachwelt intensiv diskutiert. Vorbei wären dann mit einem Schlag die Zeiten, in denen Ärzte jungfräuliche Krankenakten anlegen mußten, wenn ein neuer, unbekannter Patient die Praxis betrat. Von der Wiege bis zur Bahre - alles wäre jederzeit über jeden Patienten computergerecht verfügbar.

Eine Krankenakte ... la Carte würde verschiedene Bereiche besitzen: Allgemein zugänglicher Bereich: Hier würden solche Daten gespeichert, die auch jetzt zum Teil unsere Krankenversichertenkarte enthält: Name, Adresse, Geburtstag und administrative Daten wie die Versichertennummer. Zusätzlich könnten z.B. die Telefonnummern der nächsten Angehörigen in diesem Bereich abgelegt werden.


Notfall-Bereich: Hier wären Informationen für den Rettungsdienst verfügbar: Blutgruppe, Hinweise auf Unverträglichkeit von Medikamenten, Besonderheiten wie Schrittmacher, Diabetes und AIDS-Status.


Dokumente: Impfpaß, Röntgenpaß, Mutter- und Säuglingspaß, Medikamente-Paß, Diabetesausweis, Organspendepaß, AOK-Präventionspaß und Behandlungspläne für beispielsweise die Krebsnachsorge. Beliebige medizinische Ausweise sind auf dem Chip möglich.


Krankengeschichte: Enthält die detaillierte Krankengeschichte des Kartenbesitzers und evtl. auch die von Familienmitgliedern.

Für jeden Datenbereich wäre jeweils ein genau bestimmter Personenkreis zugriffsberechtigt. Und da fangen die praktischen Probleme bereits an: Wer darf wann was lesen und was nicht? Wer darf die Karte mit neuen Daten versehen? Beispielsweise könnten alle den allgemeinen Bereich einsehen, auf die Notfalldaten aber hätten nur der Hausarzt und, via Professional-Card, das Rettungspersonal Zugriff. Die eigentliche Krankengeschichte würde wahrscheinlich noch feiner unterteilt werden, mit jeweils detailliert geregelten Zugriffsrechten. Der Orthopäde soll schließlich nicht ungefragt auf die Befunde des Gynäkologen zugreifen können - das Arztgeheimnis gilt auch unter Kollegen. Wenn der Orthopäde doch mal einen Blick auf diese Daten werfen möchte, sollte das nach Rücksprache mit dem Patienten aber problemlos möglich sein. Die verschiedenen Pässe müßten jeweils speziell geschützt werden. Schließlich soll der Grenzbeamte bei der Prüfung des Impfstatus nichts über die Organspendewilligkeit und den AIDS-Befund des Reisenden erfahren. Natürlich darf es technisch nicht möglich sein, daß der Betriebsarzt oder der Bankangestellte in unserer Krankenakte stöbert, bzw. uns zur Öffnung dieser Datenbereiche zwingen kann. Gleichzeitig soll der Kartenbesitzer - als Herr über seine Karte - aber jederzeit am heimischen Fernsehgerät alle Daten einsehen können. Eigentlich eine Unmöglichkeit, alle diese technischen und juristischen Anforderungen in einem Kartenkonzept zu vereinen - die Techniker sind da aber optimistisch und versprechen praktikable Lösungen. Wir dürfen gespannt sein, wie sie dieses nicht-triviale Zugriffsproblem lösen wollen. Auf jeden Fall sollte eine Gesundheits-Chipkarte für den 25-jährigen Computerhacker genauso durchschaubar und einfach zu bedienen sein wie für seine 93-jährige bettlägerige Großmutter.

Weiterhin ist die Frage offen, welche Daten wie lange in der elektronischen Akte aufgenommen werden sollen und welche nicht. Viele Forscher beschäftigen sich mit der Definition “minimaler Basisdatensätze” für die verschiedenen Medizindisziplinen: Welche Daten braucht ein Diabetiker auf seiner DiabCard, damit seine Behandlung überall in Europa sichergestellt werden kann? Welche Daten sind für einen Europäischen Notfallausweis unabdingbar? Soll die gesamte Krankengeschichte auf die Karte oder reicht die Speicherung eines Teils des Datenbestandes? Ist die Speicherung von Daten für einen gewissen Zeitraum sinnvoller als die lebenslange Dauerspeicherung? Ein viel diskutiertes Modell in diesem Zusammenhang verzichtet auf die lebenslange Speicherung auf der Karte. Der “Arzt des primären Vertrauens”, auch als Hausarzt bekannt, übernähme die Pflege der Daten für den Kartenbesitzer. Der Patient kann mit ihm jederzeit über die zu speichernden Daten diskutieren und seine Karte von ihm aktualisieren lassen. Beispielsweise kann für eine Reise lediglich der aktuelle Impfstatus eingespielt werden oder für eine Bewerbungsuntersuchung das Gen-Profil. Aber warum so kompliziert? Warum soll der Kartenbesitzer - als Herr über seine Karte - seine Daten nicht selber einspielen dürfen? Dieses Recht wird ihm aber von allen Seiten abgesprochen. Er sei dazu nicht in der Lage. Man könne sich dann auf die Daten nicht verlassen - schließlich sei beispielsweise ein Impfpaß ein amtliches Dokument. Es bedarf also einer Autorität, um Vertrauen in die Daten haben zu können. Dem Bürger traut man nicht. Der oft postulierte mündige Patient kommt nicht aus seiner Unmündigkeit heraus. Aber warum sollte eigentlich der vom Bürger frei zu wählende “Arzt des primären Vertrauens” dieses amtliche Vertrauen genießen dürfen? Er könnte genauso ein “Chaot” sein wie seine Patienten. So ist es unwahrscheinlich, daß es den “Arzt des eigenen Vertrauens” geben wird, dem die volle Macht über die Karte gegeben wird.

Ob sich nun auf der Karte eine komplette Krankengeschichte befindet oder nicht: Alle Daten müßten irgendwo außerhalb der Karte sicher verwahrt werden, um nicht bei Verlust der Karte unwiderruflich verloren zu sein. Gäbe es dann eine zentrale Stelle, die diese Speicherung übernähme? Das könnte der Hausarzt sein, ein noch zu schaffendes Bundesgesundheitsregister oder privatwirtschaftliche “Gesundheits-Schufas”. Vielleicht gäbe es eine dezentrale Sicherung, d.h. jeder Befund und jedes Röntgenbild würde am Erzeugungsort gespeichert. Auf der Chipkarte des Patienten wären dann Verweise auf diese Datenquellen eingetragen, aber auch diese müßten irgendwo zentral gesichert werden.

Wird der glückliche Kartenbesitzer wenigstens seine eigene Krankengeschichte lesen und verstehen können? Dazu benötigt er zumindest einen Computer mit Kartenleser. Dazu kommt dann noch ein einfach zu bedienendes Programm, mit dem er sich den Karteninhalt anschauen kann. Dieses Programm würde die gespeicherten Zahlenkolonnen in eine patientengerechte Darstellung bringen. Das hört sich gut an, erregt aber die Datenschützer: Daten würden manipuliert für eine schöne Darstellung, dem Kartenbesitzer würde lediglich eine Teilsicht auf seine gespeicherten Daten erlaubt.

Für den Fall, daß mal kein Kartenleser verfügbar sein sollte, sollen wichtige Informationen über den Gesundheitsstatus als Piktogramme auf den Kartenkörper aufgedruckt werden. Beispielsweise könnten Blutgruppe, Behinderungen, Besonderheiten wie Herzschrittmacher, Organspendewilligkeit und die HIV-Infektion solche Informationen sein. Ein Foto des Kartenbesitzers auf dem Kartenkörper soll Verwechslungen vermeiden. Sanitäter sollen sich mit den Piktogrammen noch schneller den notwendigen Überblick während einer Rettungsaktion verschaffen und Reiseveranstalter könnten mit einem Blick auf die Karte eine behindertengerechte Fahrzeugausstattung anbieten. Gut gemeint, kann der Schuß nach hinten losgehen: Die Chipkarte könnte als moderner “Judenstern” Karriere machen, da quasi für jedermann ersichtlich wäre, ob der Kartenbesitzer beispielsweise seine Organe der Gesellschaft vorenthält oder eine HIV-Infektion vorliegt. Auch noch so unverdächtige gesundheitliche Informationen, die öffentlich zur Schau getragen werden (müssen), könnten die gesellschaftliche Diskriminierung fördern, solange die Menschen es nicht gelernt haben, vernünftig miteinander umzugehen.

Durch die vollständige oder auch teilweise Krankenakte auf dem Chip kämen übrigens die Mediziner in ungeahnte Bedrängnis: Würden sie regreßpflichtig, wenn ihnen im Falle einer Falschbehandlung nachgewiesen werden könnte, daß sie sich vor der Behandlung des Patienten nicht ausführlich mit dessen elektronischer Akte beschäftigt hatten? Und wenn sie korrekt sein wollten: Welche Teile der Krankengeschichte müßten sie lesen, um sicher zu sein, daß sie alle wesentlichen Informationen für die Behandlung kennen? Sie müßten für jede Behandlung alle explizit berücksichtigten und nicht-berücksichtigten Daten als beurteilt markieren und diese Beurteilung in die aktuelle Behandlungsakte mit aufnehmen. Die zeitintensive Kartenanamnese müßte deshalb in den Gebührenordnungen der Ärzte sehr hoch bewertet werden. Neben dem finanziellen Aspekt hätte dies auch noch einen weiteren gewichtigen Vorteil für den Arzt: Sollte der Patient ihm vorsätzlich wichtige Informationen vorenthalten, kann dieses nachträglich aus der Dokumentation erkannt werden - der Patient trüge dann die Folgen einer Fehlbehandlung allein.

Ein großes Problem der Speicherung medizinischer Daten auf Chipkarten oder in Datenbanken wird ihr Kontextverlust sein. Nur nackte Daten können abgespeichert werden. Erst wenn ein Mensch diese Daten interpretiert, werden Informationen daraus. Eine andere Person kann die gleichen Daten völlig anders interpretieren, und zu verschiedenen Zeitpunkten können die Interpretationen völlig unterschiedlich aussehen. Um nackte Daten interpretieren zu können, müßte der Mensch den Bezugsrahmen - den Kontext - dieser Daten berücksichtigen. Wenn der Rahmen, der zum Zeitpunkt der Datenerhebung gültig war, nicht mehr gegeben ist, kann es zu Verständnisproblemen und verhängnisvollen Neu-Interpretationen kommen. Beispielsweise wurden die Bluterdateien, die jahrelang in Kliniken zur Unterstützung der Behandlung aufgebaut wurden, als datenschutzrechtlich völlig problemlos bewertet. Durch die HIV-Infizierung dieser Patientengruppe mit verseuchten Blutprodukten änderte sich die Situation. Aus der harmlosen Bluter-Datei wurde eine hochsensible AIDS-Datei, die nun auch für nicht-medizinische Institutionen interessant wurde (Kongehl, 1993).

 

 

Für die Hochmedikamentierten: Die APOtheken-Karte

Zunächst hieß sie APO-Card, dann wurde man sich der Doppeldeutigkeit des Namens bewußt und taufte sie noch schnell um in A-Card : Die neue Beratungs-Chipkarte der Apotheken, die “den Dialog zwischen Patient, Apotheker und Arzt kommunikativer als bisher” organisieren soll. Anfang 1996 soll sie flächendeckend kommen, diese “freiwillige Ergänzung zur Krankenversichertenkarte” (Diener/Kirsch, 1994). Erika Mustermann kann sich dann auf diesem Kärtchen ihre umfangreichen Medikamentenkäufe von ihrem Apotheker protokollieren lassen: Pharmazentralnummer und Datum, Dosierungshinweise und Chargennummer würden gespeichert - und das für alle Medikamente, die rezeptpflichtig oder rezeptfrei für diesen Kunden über den Ladentisch wandern. Laut Apothekerverband sollte sich besonders die “hochmedikamentierte Altersgruppe der 80 bis 84-jährigen” über diese neue Möglichkeit sehr freuen.

Die Apotheker wollen zwei Fliegen mit einer Karte schlagen: Erstens wollen sie sich als akademischer Partner des Arztes empfehlen. Sie wollen in Zukunft mehr Verantwortung bei den medikamentösen Aspekten der Behandlung übernehmen. “Pharmaceutical Care” scheint nun praktikabel geworden durch das Datenträgergespann Chipkarte-Patient, das zwischen Arzt und Apotheker pendelt. Wahrscheinlich spielen aber auch Überlegungen eine Rolle, rezeptfreie Arzneimittel in Zukunft im Supermarkt zu vermarkten und rezeptpflichtige Medikamente direkt vom Arzt ausgeben zu lassen - da kommt die Karte gerade recht, um die Kompetenzfrage zu klären. Zweitens bedeutet die Patientenchipkarte eine Marktchance, denn die Apotheken könnten sich so zum Mittelpunkt einer neuen zukunftsträchtigen Infrastruktur entwickeln und bald die vielfältigen medizinischen Daten der Bundesbürger managen.

Damit nicht eine Springflut von Patientenkarten den Markt überschwemmt und die A-Card damit ins Abseits drängt, wollen sich die Apotheker rechtzeitig die richtigen “Untermieter” auf die Karte holen - die A-Card würde damit zur MultiCard avancieren. Für die Krankenkassen könnten beispielsweise die Zuzahlungen bei den verordneten Medikamenten dokumentiert werden, oder der ADAC könnte einen Autofahrer-Notfallausweis auf der A-Card unterbringen. Auch nicht-medizinische Anbieter wie Banken und Kaufhausketten dürften ihre Dienstleistungen auf der A-Card plazieren. Diese Organisationen müßten dafür zahlen, bräuchten dann aber keine eigenen Karten mehr auf den Markt zu werfen. Diese Firmen könnten auch die Werbefläche hinten auf der Karte mieten - wie jetzt schon bei der Telefonkarte. Die A-Card dürfte sich dann auch unter Sammlern großer Wertschätzung sicher sein. Ob die A-Card in Zukunft völlig freiwillig zu verwenden ist, kann bezweifelt werden. Sie besitzt die Potenz einer Pflichtkarte, denn als Medikamentenkarte wird sie ihren Beitrag in einer “rationalen Arzneimittelversorgung” leisten wollen, was bei zukünftigen Gesundheitsreformstufen nicht unberücksichtigt bleiben wird.


 

 

Für die Sparsamen: Die Gesundheitskarte

Gesundheitskarten der Krankenkassen sind im Kommen. Auf ihnen können Versicherte Bonuspunkte sammeln, um sich so eine saftige Beitragsrückerstattung zu sichern. Im Rahmen des neuen Wettbewerbs zwischen den einzelnen Krankenkassen um “gute Risiken” ist dies sicherlich ein schlagkräftiges Argument für den kosten- und gesundheitsbewußten Bürger. Um diesen Bonus zu bekommen, müßten sie allerdings regelmäßig zum Gesundheits-Checkup bei Ihrer Krankenkasse vorbeischauen und gegebenenfalls auch Angebote zur Gesundheitserziehung und Prävention wahrnehmen.

Das hört sich gut an, kann aber den Beginn der “Rationierungsgesellschaft”, in der “knappe Ressourcen gerecht verteilt” (Dethloff, 1992) werden sollen, bedeuten. Was das heißt, wird unten eingehend diskutiert. Krankenkassenvertreter beteuern zwar stets die Freiwilligkeit solcher Kartenangebote, aber im Zuge weiterer Sparmaßnahmen werden sich die Versichertengemeinschaften vielleicht einmal dazu entschließen, denjenigen, die sich vorsätzlich gesundheitsschädigend verhalten, keinen Schutz mehr zu gewähren. Und das würden beispielsweise diejenigen sein, die keine selbstverantwortliche, gesunde Lebensführung auf der Gesundheitskarte nachweisen können. Damit bekämen auch völlig freiwillige Karten schnell Zwangscharakter (Stark, 1993; Wellbrock, 1994).

Wer aber definiert, welches Verhalten gesundheitsschädigend oder gesundheitsfördernd ist? Was ist als Risikofaktor anzusehen und was nicht? Wird man gezwungen, Cholesterin zu meiden, obwohl der Zusammenhang zwischen Eierkonsum und Herzinfarkt wissenschaftlich überhaupt nicht nachgewiesen ist? Womöglich erkranken und sterben gerade diejenigen früher, die sich krankenkassenkonform verhalten. Kann die Kasse dann wegen Körperverletzung oder Totschlag in Regreß genommen werden? Und wer stellt mit welcher Methode den Verstoß gegen die Gesundheitsregeln fest? Wird es einen Katalog geben, der Aufschluß über die Kostenstruktur von detailliert definierten Verhaltensweisen gibt? Wird Denunziation in die Gebührenordnungen der Ärzte aufgenommen werden müssen oder werden eigens “Gesundheitspolizisten” von den Kassen beschäftigt? Können sich Nachbarn so ein kleines Zubrot verdienen? Die individuelle Risikofaktorensuche lenkt ab von den wirklichen Krankmachern in Industrie und Gesellschaft. Es ist nicht zu erwarten, daß Chipkarten einen Beitrag zur Vermeidung krankmachender Arbeits- und Wohnverhältnisse leisten werden.

Die Betriebskrankenkassen in Sachsen planten bereits 1993 eine BKK-Gesundheitskarte, auf der u.a. Cholesterin- und Blutdruckwerte gespeichert werden, um Bonuspunkte für “gesunde Lebensweise” gutzuschreiben. Bei den AOKs laufen solche Pläne seit 1994 unter dem Namen “VitalCard”. Andere Kassen werden sich diesem Wettbewerb nicht entziehen können. Anscheinend koordinieren die Kassen aber nicht einmal ihre Kartenpläne, so daß demnächst vielleicht eine wahre Flut zueinander inkompatibler Gesundheitskarten mit den verschiedensten Diensten und Risikofaktoren über uns hereinbrechen wird.
 

Für die Leidenden dieser Erde: Karten für chronisch Kranke

Nierenkranke, Krebspatienten und Defibrillatorträger können aufhorchen. Für sie und viele andere chronisch Kranke werden zur Zeit eigene Chipkartensysteme (u.a. DiabCard, OnkoCard und DefiCard) erprobt. “Shared Care” heißt das Zauberwort, was soviel wie “verteilte Pflege” heißt und das verbreitete Verfahren des 21. Jahrhunderts werden soll (Elsässer/Köhler, 1993). Mit Shared Care sollen die Kostenprobleme gelöst und ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Patient und medizinischem Personal Realität werden. Außerdem soll damit die Kommunikation unter Medizinern verbessert werden. Das alles sei nur mit Chipkarten machbar, sagen die Techniker - nur mit ihnen soll die wachsende Schar chronisch Kranker in Zukunft eine angemessene Behandlung genießen können. Aber was ist, was will Shared Care?

Als größter Kostenfaktor in unserem Gesundheitswesen wurde schon seit langem der Krankenhausbereich ausgemacht. So wurde stets nach Alternativen Ausschau gehalten. Mit dem Konzept der verteilten Krankenpflege meint man, fündig geworden zu sein: Mit ihr soll der kostenintensive Daueraufenthalt im Krankenhaus auf ein Minimum reduziert werden, indem ein Netz von (privaten?!) ambulanten Stationen verschiedenster Tätigkeitsfelder aufgebaut wird, das die gleichen Aufgaben übernehmen soll. Der chronisch Kranke wird Teile seiner Behandlung an diesen “Servicestationen” bekommen: Die Bestrahlung wird regelmäßig im Städtischen Radiologiezentrum durchgeführt, komplizierte Untersuchungen führt der niedergelassene Facharzt für Krebserkrankungen durch. Zur Einstellung des Herzschrittmachers fährt man ins SIEMENS-Servicecenter, bei der Selbsthilfegruppe läßt man sich die Sitzungstermine zur psychosozialen Aufarbeitung seines Leidens bescheinigen, und auch der wöchentlich vorbeischauende Zivildienstleistende kann seine Serviceleistungen am Patienten auf der SharedCare-Karte dokumentieren. Auf dieser Karte könnte auch ein Dauerrezept abgelegt sein, mit der die Medikamente regelmäßig am Automaten gezogen werden können. Diese Service-Stationen bedienen jeweils Teilaspekte der Gesamtbehandlung, der Hausarzt steuert das Geschehen durch entsprechende Einträge auf dem Chip, er wird im wahrsten Sinne des Wortes “Gesundheitsmanager”. Der Patient indessen wandelt zwischen den Institutionen, im Gepäck seine stets aktuelle elektronische Krankengeschichte, die er selber nicht einsehen und verstehen kann.

Die Grundidee, um die häusliche Pflege herum ein ambulantes Netz an Gesundheits- und Sozialdiensten aufzubauen, um unnötige Krankenhaus-Daueraufenthalte zu reduzieren und die Abschiebung in Pflegeanstalten zu verhindern, ist durchweg positiv zu bewerten. Außerdem sind Anstrengungen zu begrüßen, die das Gespräch zwischen Patient und Arzt, zwischen den Ärzten und den anderen Gesundheitsarbeitern fördern. Allerdings ist es sehr zweifelhaft, daß sich diese Ziele gerade mit Shared Care und Chipkarten erreichen lassen. Die Arbeitsteilung - die Taylorisierung - im Gesundheitswesen wird durch Shared Care zwangsläufig ein großes Stück vorangetrieben. Der Spezialisierungsdruck bei Ärzten und Personal kann zu erhöhten Kommunikationsdefiziten führen, die durch technische Kommunikationskanäle allein wohl nicht kompensierbar sind - man spricht einfach nicht mehr die gleiche Sprache. Schließlich wird die Kommunikation via Chipkarte nach genormten Standards organisiert sein: Die Form dominiert den Inhalt.

Die interne Diskussion in Fachkreisen wird im übrigen von hinten aufgezäumt. Medizininformatiker und Gesundheitsökonomen diskutieren zunächst über die Mittel (z.B. Chipkarten), um dann später vielleicht mit der Gesellschaft in den Diskurs über die Inhalte und Grundsätze eines “Neuen Gesundheitswesens” zu treten. Die Rahmenbedingungen dieses späten Diskurses sind dann aber bereits technologisch fixiert - nichttechnische Alternativen wären damit von vornherein ausgeschlossen. Wer Shared Care lediglich technologisch begreift, um Kosten-Nutzen-Bilanzen zu verbessern, reduziert die Patienten noch radikaler auf ihre bloßen Daten, da persönliche Beziehungen aufgrund der perfektionierten Taylorisierung dann keine Rolle mehr spielen können. Das wäre ein großer Schritt zurück, weit hinter den Status Quo des Molochs Krankenhaus! Wer sozialorientiertes Shared Care möchte, muß darauf bestehen, daß sich erst alle gesellschaftlich relevanten Gruppen an der Diskussion über die Ziele unseres Gesundheitswesens beteiligen. Beispielsweise wäre es in diesem Zusammenhang sinnvoll, über ambulante Gesundheitsarbeit zu reden. Erst wenn die Ziele feststehen und breit akzeptiert sind, sollte über Technologien gestritten werden.


 

 

Für den vielseitigen Menschen: Die MultiCard

Immer mehr Karten werden in Umlauf gebracht: Die Bankkarte, verschiedene Kreditkarten, Telefonkarte, BahnCard und die Krankenversichertenkarte bringen jetzt schon unsere Portemonnaies zum Bersten. Und es werden noch viel mehr Karten dazukommen: der maschinenlesbare EU-Führerschein, die Asyl-Card, die elektronische Busfahrkarte, die diversen Gesundheitskarten, die elektronische Geldbörse, die Autobahnmaut-Karte: Karten über Karten - und kein Ende in Sicht! Da kommt den Kartenfreunden die multifunktionale Karte gerade recht: Auf einer einzigen Karte könnten viele Anwendungen (“multi”) untergebracht werden. Kreditkarte, Telefonkarte, Führerschein und die Gesundheitskarte - alles wird auf eine einzige Karte gesetzt!

Die einzelnen Anwendungen würden mit komplizierter Krypto-Logik gegeneinander abgeschottet werden, der Kartenbesitzer könnte jedes einzelne Bit im Zugriff jederzeit schützen und freigeben, versichern uns die Mathematiker (Beutelspacher, 1993). Theoretisch ist das durchaus überzeugend. Leider wird nicht klargestellt, wie das praktisch funktionieren soll: Wird sich der 89-jährige Otto Normalverbraucher dreißig Paßwörter merken müssen? Oder gibt es ein Superuser-Paßwort, das dann doch hinten auf der Karte stehen würde ? Alle Bankkonten und Gesundheitsakten stünden dem Dieb offen. Oder werden gar biometrische Erkennungsverfahren zum Einsatz kommen müssen, die bei jedem Zugriff den Fingerabdruck und den Augenhintergrund des Zugriffsberechtigten verifizierten? Das wäre in der Tat sehr sicher - mathematisch betrachtet. Gesellschaftlich gesehen wäre das der Beginn eines Sicherheitsstaates, der weit über alle Vorstellungskraft hinausginge. 

Für Mediziner und Pflegekräfte: Die Professional Card

Beschäftigte im Gesundheitswesen (neudeutsch Professionals genannt) werden bald nur noch mit Chipkarte arbeiten - ohne dieses Ding werden sie nicht einmal eine Patientenakte einsehen können. Der Professional erhält eine speziell auf ihn und seine berufliche Funktion ausgestellte Karte - die Professional Card. Die ausstellende Stelle wie beispielsweise das Krankenhaus oder die Kassenärztliche Vereinigung vermerken auf ihr alle relevanten Daten wie Personenidentifikationsnummer, Gültigkeitsvermerke, Zugangsberechtigungen und elektronische Unterschrift. Mit einer gültigen Karte kann der Besitzer verschiedene, speziell für ihn freigegebene Dinge tun: Wenn er Daten eines Patienten über das Terminal einsehen möchte, wird ihm das nur mit seiner Professional Card möglich sein. Nur mit ihr kann er auf die Chipkarte eines Patienten zugreifen und darauf neue Daten einspielen - auf der Patientenkarte wird dann die Arztkennung der Professional Card automatisch festgehalten. Wenn er die Schleuse des OPs betritt, wird dies aus Sicherheitsgründen via Karte abgecheckt und im Hauptcomputer gespeichert werden. Pfleger werden ihre aktuellen Aufträge via Terminal und Professional Card entgegennehmen und bestätigen. Mit einer Chipkarte für jeden Mitarbeiter oder Freiberufler können Zugriffs- und Zutrittsberechtigungen vergeben werden, die damit auch sehr leicht kontrollierbar werden. Durch das stark arbeitsteilige und technikzentrierte Gesundheitswesen werden Verantwortlichkeiten zur Unkenntlichkeit verstümmelt - der Patient trägt letztendlich den Schaden allein. Durch Professional Cards könnten Handlungsstränge wieder personell nachvollziehbar gemacht werden. Professionelle Verantwortung, die gerade noch verloren schien, könnte wieder übernommen werden. Dieses ist aber nur dann notwendig, wenn wir uns für ein Gesundheitswesen entscheiden, welches nach diesem Technomuster organisiert ist. Aber wollen wir das? 

Bedeutung der Chipkarte in der heutigen Technomedizin

Für die meisten von uns unsichtbar, verändert sich unser Gesundheitswesen von Grund auf: Information hält Einzug in die Institutionen. Man nimmt zwar wahr, daß immer mehr Computer die Rezeptionen und Sprechzimmer unserer Mediziner erobern - spürt dabei aber nicht die Tragweite dieses Technisierungsprozesses. So ist es durchaus verständlich, daß sogar prinzipiell kritische Gesundheitspolitiker nicht den fundamentalen Unterschied zwischen einer Krankenakte aus Papier und einer Multimedialen Krankenakte erkennen und sich die Vorteilsargumentation der Kartenindustrie zu eigen machen. Es kursieren mehrere Märchen in den Diskussionen um die Chipkarte, die Befürchtungen zerstreuen sollen. Sie sind sehr einfach im Aufbau, ihre Wirkung auf die Entscheidungsträger sollte jedoch nicht unterschätzt werden.

Das erste Märchen erzählt davon, daß Chipkarten “einfache und wertneutrale Werkzeuge” in der Hand des Arztes und des Patienten seien (Köhler, 1994b). Der Patient habe es allein in der Hand, wie er seine Karte benutzt. Er könne sie im Zweifelsfall einfach wegwerfen und sehr gut ohne dieses Werkzeug weiterleben. In der Dokumentation des “Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik” zur Technikfolgenabschätzung der Medizinischen Chipkarte wird von den Sozialwissenschaftlern die These von der “Wertneutralität der Chipkarte” bekräftigt. Daß durch Chipkarten aber ein großtechnisches System etabliert werde, dem sich nicht einmal schärfste Kritiker entziehen könnten, wird hingegen nicht ernstgenommen. Patienten könnte das gleiche Schicksal treffen wie das jener Kernkraftgegner, die ihren Strom aus der Steckdose beziehen müssen. So wird es wohl in Zukunft dem Patienten nicht mehr möglich sein, ohne Chipkarte eine adäquate Behandlung zu erhalten. Stromkonsumenten und Chipkarten-Patienten müssen im System leben und denken - Alternativen wird es für sie nicht mehr geben. Und genau das macht den Unterschied zwischen Großtechnologie und einem einfachen Werkzeug aus.

Das zweite Märchen handelt davon, daß Chipkarten eine “echte Alternative zu Computernetzwerken” seien (Köhler, 1994b). Das wäre wirklich eine feine Sache: Computerhacker könnten dann nicht auf die Daten in den Karten zugreifen, so wie sie es ständig in den Netzen tun. Und außerdem könnten keine zentralen Datensammlungen aufgebaut werden. Leider sind Chipkarten nicht geeignet, die große Vernetzung der Institutionen zu verhindern und damit dessen Gefahren zu vermeiden. Im Gegenteil - durch Chipkarten wird die Computervernetzung erst attraktiv. Karten allein wären nicht in der Lage, die riesigen Datenmengen durch Europa zu bewegen, wie es durch Netze möglich sein wird. Aber durch sie erst wird “rechtsverbindliche, abhör- und einbruchssichere” Telekommunikation auf den Netzen machbar - Karten steuern und sichern die großen Datenströme im Netz. Und dieses Sicherheitsversprechen ist eine wesentliche Vorraussetzung für die Institutionen, auf diese schnellen Netze zu setzen. Bereits 1993 empfahlen Bangemann und die Mitglieder seiner “Gruppe von Persönlichkeiten zur Informationsgesellschaft” dem Europäischen Rat dringend ein Projekt “Netze für das Gesundheitswesen”, das hauptsächlich von der Privatwirtschaft finanziert werden solle. Ziel sei es, die Arbeitnehmer an die veränderten industriellen Produktionssysteme anzupassen. Seit einigen Jahren wird übrigens im Rahmen des EU-Forschungsprogramms AIM (advanced informatics in medicine) diese Vernetzung - unter intensiver Beteiligung der Industrie und unter Ausschluß kritischer Wissenschaftler - auch praktisch vorangetrieben (Dippoldsmann, 1993; DVD 1992).

Das dritte Märchen berichtet vom “optimalen Datenschutz durch Chipkarten” (NN, 1994). Es gibt eine Sorte von Datenschützern, die den Begriff Datenschutz wortwörtlich als “Schutz der Daten vor unberechtigtem Zugriff” versteht. Solche “Schützer der Daten” sind natürlich von den technischen Möglichkeiten der Krypto-Verschlüsselungen, Teilschlüsselvergabe und Pseudonymisierungsmöglichkeiten der Chipkartentechnologie begeistert. Die Krypto-Mathematik gibt ihnen die Möglichkeit, Daten wie in einer Festung vor “feindlichen Angriffen und Ausspähversuchen” zu sichern - und Chipkarten seien das ideale Medium, diese Methoden für jedermann bereitzustellen (Beutelspacher, 1993). Aber vor wem sollen Patientendaten geschützt werden - wer ist der Feind? Womöglich der Patient selbst? Datenschutz sollte aber in erster Linie verstanden werden als Schutz der Persönlichkeitsrechte des Bürgers. Dann spielen technische Sicherungskonzepte eine untergeordnete Rolle - oder wären sogar kontraproduktiv wie im Falle der Patientendaten. Die “militärische” Sicherung der medizinischen Daten soll offensichtlich betrieben werden, damit man dem Patienten, dem Bürger nicht mehr trauen muß - nur die “objektiven” Daten zählen. Das wird in Fachkreisen dann “vertrauenswürdige” Informationstechnik genannt, Vertrauen zwischen den Menschen ist nicht mehr nötig. Für die Persönlichkeitsrechte des Bürgers, wie beispielsweise das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung, interessieren sich nur wenige dieser Datenschützer.

Das größte Märchen schließlich malt das Bild des “Mündigen Patienten”, der nach 2000 Jahren Unterjochung durch Schamanen und Kassenärzte dank Chipkarte seine medizinische Behandlung nun endlich selber in die Hände nehmen kann (Köhler, 1994b; Wettig, 1994). Der Patient wäre in Zukunft gleichberechtigt an allen medizinischen Entscheidungen beteiligt. Seine Krankengeschichte wäre nur den Personen zugänglich, denen er auch vertraut. Der Patient könne gezielt Informationen zu seiner medizinischen Behandlung beisteuern - oder auch zurückhalten. Patienten sind aber gerade dann, wenn sie es am Nötigsten hätten, alles andere als selbstbewußt, rational-abwägend und mündig. Die Chipkarte allein wird an dieser Situation nichts ändern. Um dem Patienten ein Stück Selbstbestimmung wiederzugeben, bedarf es weit mehr. Und auch bei der Chipkartengestaltung werden Patienten nicht gefragt. Ihre Interessen werden nicht explizit berücksichtigt. So ist es sehr unwahrscheinlich, daß die Patientenchipkarte automatisch zur Emanzipation seines Besitzers führt.

Angeblich wird uns nur der Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft davor bewahren, wieder in die Steinzeit zurückzufallen. Alle reden von der Lebensnotwendigkeit von Multimedia und den Datenautobahnen - die Patienten mögen sich bitte freimachen und in den Cyberspace begeben. Jürgen Dethloff, Erfinder der Chipkarte, schätzt ihren Nutzen für die Gesellschaft sehr hoch ein. Frei interpretiert, liest sich die Dethloff'sche Vision (Dethloff, 1992) folgendermaßen: In Zukunft - in einer nicht näher definierten postindustriellen Gesellschaft, wahrscheinlich aber in der sagenumwobenen Informationsgesellschaft - würden unsere Ressourcen immer knapper: Luft, Wasser, Geld, Gesundheit, Arbeitsplätze, Wohnraum, Urlaubsreisen, Freiheit und Kindergartenplätze reichten schon heute nicht mehr für jeden. Es werde also notwendig sein, hauszuhalten. Die Verteilung der Ressourcen sollte möglichst "“gerecht” sein - näheres wird eine Verordnung regeln. Optimal wäre es, wenn sich jede Person freiwillig so verhalten würde, daß sie der Gesamtgesellschaft am wenigsten schadet - dann wären sogar unwürdige und bürokratische Kontrollen unnötig. Nun ist es leider so, daß sich Individuen meist nicht so ideal verhalten. Persönlicher Egoismus, Faulheit und die Angst, von anderen übervorteilt zu werden, bestimmt das menschliche Dasein auf Erden. Also muß das “freiwillige Wohlverhalten” mit etwas Technik unterstützt werden: Es müßte ein gesellschaftlicher Regelkreis etabliert werden, der mit der Regelspannung positiver und negativer Motivationseinheiten arbeitet. Der gesellschaftliche Zielzustand würde dann im voraus eingestellt - die Gesellschaft würde sich selbständig einregeln. Die Chipkarte soll als technisches Vehikel der Motivationseinheiten, der Stimulanzien, dienen. Mit ihr soll eine Art “Omnibus”-System aufgebaut werden, mit dem alle möglichen Dinge geregelt werden könnten - Chipkarten dienen als “Omnibus to Motivated Behaviour” (Dethloff, 1992).

Die Gesundheitskarten der Krankenkassen können als erste Schritte in Richtung dieses “Motivated Behaviour” interpretiert werden (Stark, 1993): Mit Bonuspunkten für gesundheitliches Wohlverhalten und Zuschlägen für Fehlverhalten als Stimulanzien soll ein gesundheitlicher und finanzieller Zielzustand der Versichertengemeinschaft erreicht werden. Kommen dann irgendwann weitere Regelbereiche wie beispielsweise die Müllmenge und das Fahrverhalten hinzu (Kuhlmann, 1994), könnten sogar Motivationspunkte zwischen den Bereichen getauscht werden. Diese Gedanken entstammen offensichtlich einer utilitaristischen Grundhaltung - das Glück der Mehrheit soll mit der Chipkarte maximiert werden. Daß dieser Utilitarismus nicht unbedingt human sein muß, liegt auf der Hand: Mit diesem “ethischen” Bewertungsmaßstab ließe sich beispielsweise auch Mord begründen mit dem Ziel, die Organe einer Person mehreren Menschen zukommen lassen zu.

“Angesichts der Verletzlichkeit der >Informationsgesellschaft< wird ihre Offenheit zur leeren Versprechung. Die psychische Mobilität und die intellektuelle Bereicherung in freien weltweiten Computernetzen und offenen Informationssammlungen, der unbegrenzte Zugriff auf den geistigen Reichtum der Gesellschaft, der freie Austausch von Ideen und Informationen - alle diese Träume zerschellen an den geschlossenen Benutzergruppen, den Chipkarten-gestützten Zugangskontrollen, den eng beschränkten Zugriffsrechten, den verschlüsselten Datensammlungen und den abgekapselten Informationsbunkern. Statt >free flow of information< und offener Netze werden Abschottung, Kontrolle, Überprüfung und Überwachung das Bild der >Informationsgesellschaft< prägen.”(Roßnagel u.a., 1989, 203f)

Überwachung und Kontrolle werden genau jene Freiheiten einschränken und begrenzen, mit denen heute für den Umbau zur Informationsgesellschaft geworben wird. Es wird exakt definiert werden müssen, wer welche Dinge dann noch machen darf und wer nicht - schließlich gelte es, “Angriffsformen des 21. Jahrhunderts” (Roßnagel u.a., 1989, 210) abzuwehren. Ein dichtes Netz von Kontrollinstanzen, Aufsichtsbehörden und sogenannten TeleTrust-Centern (“Vertrauensstellen”) wird aufgebaut werden - nicht umsonst wurde ein eigenes “Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik” in Bonn errichtet. Anarchie und Unsicherheiten werden sich Behörden und Industrie nicht leisten wollen. Die Infrastruktur eines effektiven Sicherungsapparates existiert momentan nur in den Köpfen der Technokraten - der finanzielle und organisatorische Aufwand für die Umsetzung wird gewaltig sein. Bei Einsatz biometrischer Verfahren könnte das im schlimmsten Falle sogar bis zur erkennungsdienstlichen Totalerfassung der Gesamtbevölkerung gehen.

Mit der Chipkarte wird die Informationsgesellschaft erst möglich - sie wird die Eintrittskarte in das gesellschaftliche Leben sein. Ohne Chipkarten wären wir “nackt”: Fernsehen, telefonieren, einkaufen, autofahren - und natürlich der Arztbesuch - werden ohne Karte nicht mehr möglich sein. Verkauft wird uns das heute anders: Endlich bargeldlos zahlen, “Video on demand” sehen, weltweit funktelefonisch erreichbar sein - und der “Mündige Patient” würde Realität werden. Das alles wäre natürlich völlig freiwillig, niemand würde zu seinem Glück gezwungen. Aber ist das kartenlose Leben des elektronischen Einsiedlers tatsächlich vorstellbar? Eine Gesellschaft, in der die Chipkarte zu einer Art “Personen-Äquivalent” mutiert und nur noch “Datenschatten” rechtsverbindlich miteinander interagieren können? Was wir Menschen machen, wird keinen mehr wirklich interessieren. Verträge würden nur noch elektronisch unterschrieben - man würde am Computer mit seiner Chipkarte digital signieren - die handschriftliche Unterschrift sei schließlich leicht fälschbar und äußerst unpraktisch. Die elektronische Krankenakte erhielte beim Arztbesuch mehr Gewicht als das persönliche Gespräch. Sogar die Beichte in der Kirche könnte ein Computer übernehmen - inklusive virtuellem Fegefeuer zur Abbuße.

Zusammen mit der Dethloff'schen Vision einer “gerechten Welt” und den sich eröffnenden Steuerungs- und Kontrollpotentialen bekommt der Begriff “Informationsgesellschaft” schnell einen totalitären Zug. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um ihren Sinn oder Unsinn muß erst noch geführt werden. Der Preis für den Einstieg in die Informationsgesellschaft darf auf keinen Fall der absolute Sicherheitsstaat sein! 

 

Kleine Geschichte der Medizinischen Chipkarte

Mit dem ersten Chipkartenpatent, der “Urmutter aller Chipkarten”, das von den beiden Deutschen Jürgen Dethloff und und Helmut Gröttrup 1968 eingereicht wurde, beginnt die offizielle Geschichte der Chipkarte (Köhler, 1994a, 9ff). Es ist eine typische Technikgeschichte der “Großen Männer”, der Erfinder und Pioniere der ersten Stunde - und der derzeitigen Projektleiter in Forschung, Wirtschaft und in den Selbstverwaltungsorganen. Auf großen internationalen Kongressen halten sie visionäre Eröffnungsvorträge oder ergattern einen “Bruno” (genannt nach dem Chipkarteningenieur Bruno Struif), den selbstgestifteten Oscar der deutschen Chipkartenelite. In dieser kleinen Chipkartengeschichte hingegen soll der Blick auf sonst unbeleuchtete Stellen der Technikentstehung gelenkt werden. 

 

Das kranke Subjekt im objektiven Krankenblatt

Das Projekt der “Krankengeschichte ... la Card” hat seine Wurzeln in der Medizinischen Dokumentation. Ihre Anfänge lassen sich bis in die Zeit der ägyptischen Hochkulturen (Papyrus Smith) und des Griechen Hippokrates zurückverfolgen. Im “Corpus Hippokraticum Epidemien I und III” sind einige der ersten überlieferten Zeugnisse medizinischer Dokumentation zu finden. In ihnen sind bereits Anamnese, Status präsens, Epikrise und Prognose in ausführlichen Krankenjournalen mit treffsicherem Ausdruck abgefaßt. Seit Jahrtausenden gehört also die Anfertigung von Krankenakten zu den ureigensten Tätigkeiten der Mediziner.

Heutzutage hingegen hätten Ärzte die rechte Lust am Dokumentieren verloren, glaubt man dem Experten Lawrence L. Weed (Weed, 1978). Er klagt über seine Kollegen, daß diese recht lustlos und unsystematisch dokumentierten. Krankenakten seien sehr oft unleserlich, diffus, subjektiv und unvollständig geführt, so daß sie als Instrument der Kommunikation zwischen Ärzten und medizinischem Personal nicht zu gebrauchen seien. Weed wollte diesen Zustand anarchischen Dokumentierens beenden und empfahl sich mit dem strukturierten, problemorientierten Krankenblatt. Die Zeiten der unleserlichen Notizen, die nur der Autor entziffern konnte, sollten endgültig vorbei sein! Das Körperteile-Menschenbild der “Taylormedizin” unterstützte die dafür notwendige Standardisierung und Normierung der medizinischen Sprache in idealer Weise - und vice versa. In modernen Krankenblättern finden sich folgerichtig hauptsächlich Rubriken zum Ankreuzen und zum Eintragen von Nummern für die maschinengerechte Verarbeitung. Individuelle Einschätzungen, die sich nicht in dieses Schema pressen lassen, sind nicht mehr dokumentationswürdig. Damit entfernt sich aber die Dokumentation zwangsläufig immer mehr vom Patienten und vom betreuenden Arzt - von den Subjekten des individuellen Geschehens wird das Gewicht verlagert auf das vermeintlich medizinisch Objektivierbare. Ziel ist die maschinenverwertbare Arztdokumentation.

Weed soll übrigens schon 1976 auf einem NATO-Workshop gefordert haben, die Krankengeschichte in die Patientenhände zu geben (Köhler, 1994a, 1). Damit war er aber kein Vorkämpfer der PatientInnenstellen. Meiner Einschätzung nach wird Weed den Patienten lediglich in der Rolle des Datenträgers gesehen haben, denn er forderte nicht explizit eine für Medizinlaien verständliche Darstellung der Akte - nur die Mediziner sollten endlich gegenseitig ihre Befunde verstehen und austauschen können. Ob allerdings Mediziner ein Interesse daran haben könnten, sich von ihren Kollegen in die Karten schauen zu lassen, ist fragwürdig. Welcher Arzt dokumentiert schon gerne öffentlich seine Unsicherheit in der Diagnose oder offenbart seinen Konkurrenten Konzepte in der Therapie? Schließlich wird der Ärztestand nicht umsonst als “verstrittenster Haufen” (persönliche Einschätzung einer Ärztin über ihre Kollegen) bezeichnet.  

 

Der Gesundheitspaß im Dritten Reich - Ein Vorläufer der Chipkarte?

Die Rolle der Medizinischen Dokumentation und Statistik im Dritten Reich wird unter Medizininformatikern selten, wenn überhaupt, reflektiert. Das liegt vielleicht daran, daß es Informatik damals als Disziplin noch nicht gab. Nichtsdestotrotz wurde im Nationalsozialismus Medizininformatik betrieben. Karl-Heinz Roth, Götz Aly und andere kritische Sozialwissenschaftler wiesen nach (Aly/Roth, 1984; Pfäfflin, 1984; Roth, 1984), daß die Nationalsozialisten nur “mit Hilfe von Zahlen, Lochkarten, statistischen Expertisen und Kennkarten” ihre Macht festigen, die Tötung von Menschen bürokratisch organisieren - und schließlich auch effektiv und effizient durchführen konnten. “Jede Marsch- und Arbeitskolonne existierte zunächst als Zahlenkolonne, jeder Vernichtungsaktion ging die Erfassung voraus, die Selektion an der Rampe beendete die Selektion auf dem Papier.” (Aly/Roth, 1984, hintere Umschlagseite). Einige Verantwortliche der NS-Vernichtungsbürokratie führten auch in der Nachkriegszeit das Zepter der deutschen Medizininformatik und Biostatistik und prägten dieses Fach (Aly/Roth, 1984, S.96ff).

Am 14.7.1933 wurde das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” von der nationalsozialistischen Reichsregierung verabschiedet. Eine wesentliche Voraussetzung zur konsequenten Durchführung dieses Gesetzes war der schnelle und zielgerichtete Zugriff auf das Datenmaterial aus mehreren Volkszählungen und der Erhebungen in den psychiatrischen Anstalten, Pflegeheimen, Gesundheitsämtern, Krankenkassen und Zuchtanstalten. Medizininformatiker und Biostatistiker schufen die wissenschaftliche und technische Basis für die “Sterilisierung und Aussonderung Gemeinschaftsunfähiger”, indem sie mit Hilfe damals modernster Lochkarten- und Rechentechnik die deutsche Bevölkerung einem feinen Raster der Erfassung und Klassifikation aussetzten. Dabei sollten beispielsweise nicht nur “sichtbar Erbkranke”, sondern auch “wahrscheinlich Erbbelastete” in das Visier genommen werden. Die beiden Wissenschaftler Kranz und Koller (Kranz/Koller, 1939/41) wiesen die Nazis besonders darauf hin, daß nur durch diese Weitung des Blickes eine radikale Aussonderung der “Landesverräter, Rasseschänder, wegen Abtreibung Straffällige, sexuell Hemmungslose, Süchtige, Trinker und Prostituierte (..) Arbeitsscheuen und gewohnheitsmäßigen Schmarotzer ...” gewährleistet werden könne (Aly/Roth, 1984, 107) - was wahrscheinlich das Todesurteil für viele Tausende von Menschen bedeutete.

In Hamburg ging man einen Schritt weiter: Für jeden Hamburger Bürger sollte ein Gesundheitspaß angelegt werden (Pfäfflin, 1984). Das Hamburger Gesundheitspaßarchiv, das Instrument zur “Durchordnung des Volkes, wie sie unter nationalsozialistischer Führung vor sich geht”, organisierte und verwaltete sie. Von den Vertrauensarztkarten der AOK und den Invalidenakten der Landesversicherungsanstalt, von Geburts- und Todesbescheinigungen bis zu Protokollen schulärztlicher Untersuchungen und Meldungen der Krankenhäuser liefen alle nur denkbaren Schriftstücke durch das Archiv und füllten so die Gesundheitsakten der Hamburger Bürger. Hamburg galt als Vorbild für Versuche zur Erfassung der deutschen Gesamtbevölkerung. 1939 waren 1,1 Millionen Hamburger erfaßt und verkartet und 400000 Gesundheitspässe warteten auf ihre Ausgabe, als zu Kriegsbeginn die “erbpflegerischen Maßnahmen” vorübergehend zurückgestellt - und erst einige Jahre nach Kriegsende ganz eingestellt wurden.

Der Hamburger Gesundheitspaß und die Aktensammlungen der Nationalsozialisten gehören zur Geschichte der Medizinischen Informatik und der Patientenchipkarte. Sie macht verständlich, warum sich heute - und gerade in Deutschland - schärfste Kritik an den Plänen unserer Gesundheits- und Sozialtechniker entzündet.  

 

Chronik des Widerstands gegen die Verkartung des Patienten

Kritiker der Krankenversichertenkarte überlegten sich schon früh, wie man dieses Stück Plastik austricksen könnte, um wie Sand im Getriebe der Gesundheitsverwaltung zu sein. Kann der Chip mit dem Bügeleisen bearbeitet werden? Kann man sie notleidenden Menschen schenken, um sich dann neue Karten von der Kasse zu holen? Kann man dem Chipspeicher - unter Lebensgefahr! - mit Strom aus der Steckdose beikommen? Sollen die Ärzte und Arzthelfer mit kritischen Fragen zum Datenschutz genervt werden? Sollte man die Karte an die Krankenkasse - oder gar an Seehofer - zurückschicken? Stets war man sich doch klar darüber, daß dieser individuelle, persönliche Widerstand nichts ändern würde. Die Karte ist ja nur ein kleiner sichtbarer Zipfel des großen Gesundheitsapparates - der auch ohne sie weiterläuft. Um erfolgreich Sand im Getriebe der Gesundheitsmaschinerie zu sein und damit das rasante Tempo zu bremsen, um die Entwicklung zu reflektieren und zu lenken, braucht es Bündnispartner: Kritische Patienten, Bürger, Ärzte, Techniker und Politiker müssen miteinander ins Gespräch kommen. Das “Institut für Informations- und Kommunikationsökologie” und die “Deutsche Vereinigung für Datenschutz” veröffentlichten zu diesem Zweck 1992 ihre “gelbe Broschüre” zur Kritik der Krankenversichertenkarte (KVK) (DVD 1992) und veranstalteten 1993 in Bremen eine Arbeitstagung mit dem Titel “Computerisierte Medizin - Wo bleiben die PatientInnen?”.

Anfang 1994 begannen die PatientInnenstellen, sich dieser Thematik anzunehmen und forderten öffentlich ein Moratorium zur KVK (Gesundheitsladen Köln, 1994): Ihre Ausgabe sollte zunächst gestoppt werden, um eine Denkpause zu ermöglichen. Das vom Gesetzgeber durchgesetzte hohe Tempo der Einführung dieser Technologie war ihnen nicht geheuer. Patienten sollten die Möglichkeit haben, sich frühzeitig mit Chancen und Risiken vertraut zu machen und diesen Prozeß mitzugestalten. Gerade wenn ausdrücklich mit dem Patientennutzen argumentiert werde, müßten auch Patientenvertreter mit an Diskussionen und Entscheidungen beteiligt werden. Das war nie der Fall. Krankenkassen gelten zwar offiziell als Vertreter der Versicherten - faktisch haben Versicherte dort nur wenig Einfluß (Wanek, 1994).

Zeitgleich mit der Moratoriumsforderung wurde ein Musterbrief vom Gesundheitsladen Köln entworfen, mit dem die Versicherten sich bei ihren Krankenkassen über die KVK und ihren gesellschaftlichen Aspekten informieren konnten. Diese Aktion der PatientInnenstellen stieß auf reges Interesse. Die Kassen, die zunächst jeden Brief individuell beantworteten, antworteten dann irgendwann selber mit einem Muster-Antwortschreiben. Die Musterbriefaktion wurde 1995 mit einem zweiten Musterbrief der PatientInnenstellen fortgesetzt. Mitte 1994 forderten die “Deutsche Vereinigung für Datenschutz” und die “Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen” gemeinsam den sofortigen Ausgabestop der Krankenversichertenkarte und starteten eine entsprechende Unterschriftenaktion. Es waren übrigens nicht nur “arbeitslose Volksschullehrer, die die Chipkarte als Unterdrückungsinstrument der Herrschenden” (Dethloff, 1992) ablehnten. Viele prominente Informatiker, Medizinsoziologen, Juristen und Datenschützer unterstützten diese Aktion.