Woher kommt die Macht der Medizin?
Verwaltungsmacht
Geschichte der Krankenkassen: Selbsthilfe oder staatliche Gesundheitsfürsorge
Selbsthilfe oder Krankenversicherung
Die Machtübernahme der Ärzte
Hartmannbund gegen Krankenkassen
1933 - 1945: Volksgesundheit im Nationalsozialimus
Der Krankenschein ist das Abrechnungs- und
Kontrollinstrument, das der Versichertenkarte voranging. Nach einer hundertjährigen
Geschichte wurde er 1995 endgültig abgelöst. Man kann den Schein als Symbol für die
Medikalisierung der Gesellschaft und die Bürokratisierung der Medizin sehen. Bei seiner
Einführung symbolisierte er den Sieg der Ärzte über die Krankenkassen. Er festigte die
Möglichkeit der Ärzte, allein zu bestimmen, was Krankheit ist und wie sie behandelt
wird, ohne daß sich die Patienten einmischen. Die Entmachtung anderer Heilberufe, die
Entmachtung der Selbsthilfe-Einrichtungen und Krankenkassen brachte die Vorherrschaft
einer neuen Medizin.
In vielen Kulturen, die wir kennen, haben Heiler eine
wichtige politische und kulturelle Funktion: ob es die traditionellen Medizinfrauen und
-männer bei den amerikanischen Ureinwohnern sind, heilige Männer und weise Frauen im
Mittelalter, oder wissenschaftliche Mediziner in der Neuzeit. Sie alle unterstützen und
nutzen die gesellschaftliche Ordnung und das herrschende Denken ihrer jeweiligen Kultur.
Wenn sie es nicht taten - wie die "weisen Frauen" im Spätmittelalter - wurden
sie brutal verfolgt (Heinsohn/Steiger 1989). Heute verflechten sich politische Macht und
herrschendes Weltbild mit der Medizin. Ein Symbol dafür ist die Krankenversichertenkarte.
Der Einfluß der Medizin dehnt sich auf den Alltag aus, zugleich wird das Heilwesen als
Verwaltungsapparat organisiert.
Nach Meinung vieler Ärzte und Patienten kam (und
kommt) der Erfolg der Mediziner daher, daß sie einzelne Menschen heilen können. Das
stimmt bei ihnen ebenso, wie es bei den weisen Frauen und den Medizinmännern stimmte.
Aber das erklärt nichts. Bevor wir die Geschichte des Krankenscheins näher betrachten,
wollen wir fragen: Kam der Aufstieg der Ärzte vor allem daher, daß sie Kranke besser
gesund machten? Oder hatte er andere Ursachen?
Um 1850 herum ist der statistische
Durchschnittsmensch in seinem ganzen Leben nie mit einem Arzt in Verbindung gekommen. Bei
seiner Geburt hatte seinerzeit eine tüchtige Frau geholfen, die dafür bei den Frauen der
Umgebung bekannt und angesehen war. Wenn er sich beim Arbeiten den Arm gebrochen oder
verrenkt hatte, ging er zu einem dorfbekannten Schmied oder Schäfer, der schiente ihn
oder renkte ihn ein. Wenn Herr Normalverbraucher Fieber bekam und hustete, trank er einen
Tee aus Kräutern, die die Familie gesammelt oder auf dem Markt gekauft hatte, und machte
sich heiße Umschläge. Als Herr Normalverbraucher in seinem Bett starb, hielt ihm seine
Frau die Hand, die Kinder waren Zeugen der letzten Worte.
Heute wird Herr Normalverbraucher im Krankenhaus
geboren, er stirbt auf der Intensivstation, und in der Zwischenzeit verbringt er bei
jährlich zwölf Arztbesuchen einen Tag jedes Jahres im Wartezimmer. Der Arzt verschreibt
ihm, noch ehe er sechzig ist, Medikamente für 235,-- DM pro Jahr, die meisten davon
schluckt er. Herr Normalverbraucher sieht das als Gewinn. Der medizinische Fortschritt und
die Krankenversicherung, so denkt er, haben mir eine längere Lebenserwartung und mehr
Gesundheit gebracht.
Tatsächlich ist die Lebenserwartung gestiegen, vor
allem die der Kinder. Vor 150 Jahren bekam eine Frau sechs bis acht Kinder, nur zwei oder
drei davon erreichten das Erwachsenenalter. Frau Normalverbraucherin wurde damals keine
vierzig Jahre alt. Heute überleben hier fast alle Kinder, und ihre Mütter können sich
noch mit siebzig an ihnen freuen. Wenn man den Experten glauben darf, haben diese
Veränderungen wenig mit medizinischer Behandlung zu tun. Früher waren viele Kinder
vernachlässigt; Kinder und Erwachsene waren unterernährt, überarbeitet, schlecht
gekleidet und wohnten in miserablen Quartieren. Sie starben deshalb früh an
Infektionskrankheiten. Die Gründe für unser längeres Leben seien vor allem bessere
Ernährung, daneben mehr Hygiene, bessere Wohn- und Arbeitsbedingungen, und neue Praktiken
der Geburtenkontrolle.
Der englische Mediziner Thomas McKeown hat
detailliert nachgewiesen, daß die Sterblichkeit zurückging, als diese besseren
Verhältnisse eintraten (McKeown 1982: 57 ff.). Die großen Killer, wie Pest,
Pocken, Lepra und Cholera, können sich nur in ungünstigen Lebensverhältnissen
ausbreiten. Die meisten anderen Infektionen würden bei günstigen Bedingungen und guter
Pflege auch ohne ärztliche Hilfe geheilt. Andererseits stirbt fast jeder im Alter an
chronischer Krankheit, auch wenn er ärztliche Fürsorge erhält. Zum Leben wird also
nicht viel Medizin gebraucht. Jeder hat schon von Menschen gehört, die von Ärzten
gerettet wurden, aber auch von welchen, die durch Medizin umkamen. Die Untersuchungen
McKeowns sind in aktuellen Untersuchungen bestätigt worden, in der Wissenschaft
widerspricht ihnen kaum noch jemand (vgl. Schellhaaß/Brenner 1994). Die Medizin sei eine
kulturelle Veranstaltung, meint sogar der Gesundheitssystemforscher Prof. Arnold,
langjähriger Vorsitzender des offiziellen Sachverständigenrats für die
Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (1993: 159).
Anders könnte man auch die Forschungsergebnisse der
amerikanischen Biochemikerin Lynn Payer (1989) kaum erklären. Sie verglich medizinische
Statistiken aus England, Frankreich, Deutschland und den USA und fand dabei heraus, daß
es bis heute sehr unterschiedliche nationale Krankheitskulturen gibt. Bei den
deutschen Patienten werden z.B. die meisten Mängel am Herzen erkannt, englische und
amerikanische Medizine geben eher Infektionen die Schuld, wenn es Patienten schlecht geht.
In Frankreich gibt es eine Krankheit, verbunden mit Verkrampfungen, namens Spasmophilie.
14 % der Franzosen sind dafür anfällig. Außerhalb Frankreichs kommt die Krankheit kaum
vor. Dafür werden bei französischen Frauen fast nie Probleme der Gebärmutter
festgestellt, während ca. 55 % der älteren Frauen in den USA die Gebärmutter
herausoperiert wird. Deutschland liegt in der Mitte (Payer 1989: 80, vgl. Arnold 1993:
51). Selbstverständlich stellen alle Ärzte streng wissenschaftlich die Diagnosen und
behandeln mit hochwirksamen Mitteln. Die Patienten haben ihre Krankheiten ja wirklich.
Wenn die ärztliche Kunst nicht wissenschaftlich
gesund macht, was macht sie dann? Medizinische Macht hat weniger mit Heilung als mit
Politik, Geld und Wissenschaft zu tun. Im 19. Jahrhundert entstand ein Bündnis zwischen
Ärzten, Staat und Wissenschaftsideologie. In Deutschland wurde dieses Bündnis mit der
Krankenversicherung und dem Krankenschein verfestigt. Die deutschen Regierungen von
Bismarck bis Hitler haben Alternativen der Laienbehandlung und der organisierten
Selbsthilfe allmählich ausgeschaltet. Die Ärzte und ihre Medizin haben sich nicht nur
politisch durchgesetzt. Ihre Muster von Gesundheit und Krankheit haben sich in unsere
Köpfe und Körper eingeschrieben.
Um 1800 war der Arzt für seine Patienten nichts
wesentlich Besseres als ein damaliger, chirurgisch gebildeter Barbiergeselle. Er hatte
keine Praxisräume, sondern kam immer ins Haus und behandelte vor den
Familienangehörigen. Diese standen um das Krankenbett herum, beobachteten ihn kritisch
und erteilten ihm Ratschläge. Seine Diagnosen und Vorschläge wurden wenig ernst
genommen. Die Autorität des Mediziners und das Vertrauen in seine Wissenschaft waren
gering. Über Krankheitsursache und Therapie diskutierte er ausführlich, er mußte auf
Argumente der Familie ernsthaft eingehen. Dabei hörte er sich ihre alltäglichen Klagen
und Probleme an. So beklagten es die Ärzte damals in ihren Schriften (vgl. Huerkamp 1985:
25 - 28), so kann man es noch in Thomas Manns Buddenbrooks nachlesen. Damals
erhielt der Arzt ein jährliches Pauschalgehalt dafür, daß er eine Familie versorgte
(Huerkamp 1985: 27/28). Was ihm dort bekannt wurde, verriet er niemandem, sonst würde er
Beruf und Einkommen verlieren. Seine Arbeit beruhte auf persönlicher Vertrautheit.
100 Jahre später hielt ein Arzt seine Sprechstunden
in seiner Praxis ab. Das soziale Ansehen seiner Patienten war jetzt fast immer weit
niedriger als sein eigenes. Der Arzt bat den Patienten ins Zimmer, dieser schilderte seine
Symptome. Bestimmt und entschieden wies der Arzt an, sich zur Untersuchung auszuziehen,
und verordnete seine Therapie. Erzählungen des Patienten aus dem beruflichen und privaten
Leben würgte er entschlossen ab. Diskussion war nicht mehr vorgesehen. Über jede
Behandlung schrieb der Arzt einen kurzen Report, in dem er über die Symptome des
Patienten, über seine Diagnose und Behandlung berichtete. Diesen Report schickte er an
die Krankenkasse. Die Beziehung zum Patienten war professionell und unpersönlich geworden
(Huerkamp 1985: 154 - 161).
In den Untersuchungen darüber, was diesen Wandel
bewirkt hat, kann man fünf Grundlagen ärztlicher Macht identifizieren. Erstens: Das neue
Vorrecht von Ärzten, staatliche und wirtschaftliche Vor- und Nachteile zu verteilen,
schuf eine soziale Abhängigkeit der Patienten, eine direkte politische Über-Macht. Dazu
kam zweitens die Macht des Verfahrens-Monopols: nur Ärzte erhielten Zugang zu neuen,
gesundheitlich wirksamen Mitteln und Techniken, anderen Behandlern waren sie verschlossen.
Drittens gewannen die Ärzte gesellschaftliche Macht. Sie waren Teil des Bürgertums und
nahmen an dem Aufstieg teil, den diese Schicht im 19. Jahrhundert nahm. Während der Arzt
gegenüber einem adligen Rittergutsbesitzer eine zweitrangige Existenz war, konnte er mit
einem Fabrikanten von gleich zu gleich reden. Er erhielt realen Einfluß, politische
Mitsprache. Parallel dazu wurde die ärmere Masse der Bevölkerung zur Klientel der
Ärzte. Mediziner nahmen teil am Verwalten und Organisieren der Gesellschaft.
Verstärkt wurden diese realen Machtfaktoren durch
ideologische und psychische Macht. Hinter den Ärzten standen die Naturwissenschaft und
das Ingenieurwesen, die im 19. Jahrhundert einen Siegeszug ohnegleichen erlebten. Das
Weltbild der Menschen wurde dadurch völlig verändert, ihre überkommenen Traditionen und
Erfahrungen schienen entwertet. Das wissenschaftliche Wissen handelte von tief verborgenen
Kräften, die nur die Männer der Wissenschaft verstehen und kontrollieren konnten. Zu
ihnen gehörten die Ärzte, die damit (viertens) Wissens-Macht erwarben. Dazu kam als
fünfte Säule ihre Macht, Krankheiten und Therapien zu definieren. Ärzte wurden
akzeptierte Autoritäten. Die akzeptierte Autorität eines Heilers kann sehr zur Gesundung
beitragen. Sie kann dem Patienten helfen, innere Kraft zu schöpfen und seine
Einstellungen zu ändern. Diese fünf Säulen medizinischer Macht stützten und stärkten
sich gegenseitig. Schon vor Einführung der Krankenversicherung hatten die Ärzte ihre
Position dadurch wesentlich verbessert. Die Krankenversicherung hat ihre Macht weiter
gesteigert.
In den Städten und Gemeinden Preußens und anderer
deutscher Länder gab es seit dem 18. Jahrhundert eine Armen- und Krankenfürsorge
insbesondere im Spital, dem Vorläufer des Krankenhauses. Von einer ärztlichen
Behandlung, wie sie die Oberschicht erhielt, war bei ihnen nicht die Rede. Es war bei
Ärzten gang und gäbe, den Kranken der Unterschicht selbst die Schuld an ihren
Lebensumständen und ihrer Krankheit zu geben, und in ihnen Experimentier-Objekte zu
sehen. Die Armen lernten den Arzt aus einer Position der Angst und Abhängigkeit kennen
(Huerkamp 1985: 41).
Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht kam
dazu die Macht der Militärärzte, die die Wehrpflichtigen auf Tauglichkeit untersuchten.
Schon damals hatten gerade im ärmeren Teil der Bevölkerung viele Rekruten nichts
dagegen, untauglich zu sein. Um so wichtiger war es, einen objektiven
gesundheitlichen Befund eines Menschen produzieren zu können. Erforderlich war eine neue
Art der medizinischen Untersuchung. Ihr Zweck bestand nicht mehr darin, die richtige
Therapie zu bestimmen, sondern darin, einen Befund zu produzieren, ohne daß der
Untersuchte mitwirkte.
Ähnlich war es mit der wachsenden Zahl der
Arbeitsinvaliden und Kriegsopfer. Sehr viele Menschen arbeiteten sich an überlangen
Arbeitstagen und ungesunder Arbeit kaputt, ohne daß sie gleich daran starben. Invalide
Bergleute erhielten Unterstützung von der Knappschaft, manche Arbeiter bekamen Beihilfen
von den Gewerkvereinen der Unternehmer. Dazu mußte wissenschaftlich und objektiv
festgestellt werden, ob diese Menschen wirklich nicht arbeiten konnten und wirklich an der
Arbeit erkrankten. Ähnliches galt für die Kriegsopfer und später dann für die
Krankschreibung, die Arbeitsunfähigkeit.
Früher hatte ein Mediziner sich auf den Bericht des
Patienten und seiner Familie gestützt, um etwas über ihn herauszufinden. Medizinische
Lehrbücher gingen aus von Aussagen des Patienten, was er gegessen hatte, was ihm weh tat,
wann und wo er etwas gespürt hatte. Medizin war vor allem eine Gesprächskunst. Ihre
Grundlage waren Erfahrungen und Überlieferungen, was schon einmal bei welchen Symptomen
geholfen hatte. In der Säfte-Lehre Galens führten Krankheiten zu
Stimmungsveränderungen. Es war unmöglich, zu wissen, was der Patient hatte, ohne ihn zu
fragen (Reiser 1978: 8 ff). Mit diesem Wissen konnte man bei der Musterung und
Invalidenuntersuchung nichts anfangen. Um den objektiv Arbeitsunfähigen oder
Kriegsunfähigen vom Simulanten zu unterscheiden, brauchte man neue Methoden und ein
technisches Bild vom Menschen (Stone 1993: 49; Reiser 1978: 93).
In der Gutachtermedizin trat an die Stelle des
Gespräches die direkte körperliche Untersuchung. Dazu mußten Ärzte erfinderisch
werden. Sie erfanden das Abklopfen der Lunge , um deren Größe und Lage festzustellen.
Mediziner konstruierten einen metallenen Blasebalg, in den hinein die Untersuchten
ausatmen mußten, um ihr Lungenvolumen zu messen, sowie den Augenspiegel, um den
Augenhintergrund zu untersuchen. Die Urinuntersuchung wurde verfeinert, Ärzte erfanden
die Reflexprüfung mit dem Hammer und die Blutuntersuchung. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit
standen jetzt nicht mehr die Klagen des Patienten, sondern verborgene physiologische
Tatsachen (Reiser 1978: 43).
Diese neuen Untersuchungsmethoden wurden sehr schnell
in die täglichen Behandlungen der Krankenhäuser und Privatärzte übernommen. Weitere
Techniken kamen hinzu, wie z.B. die Magensonde und das Stethoskop. Seit damals haben
Mediziner eine Vorliebe für Verfahren, die ihnen einen Informationsvorsprung vor den
Patienten verschaffen (Reiser 1978: 43 ff.). Einige Mediziner kritisierten damals, daß
die Technik keinen therapeutischen Nutzen hätte: für abnormale Befunde war gar keine
Therapie bekannt. Doch die Ärzte merkten sehr schnell, welchen Gewinn an Autorität die
körperlich-mechanische Untersuchung brachte. Sie erleichterte es dem Arzt, der Krankheit
einen Namen zu geben, und eine glaubwürdige Voraussage über den weiteren Verlauf zu
machen. Die Unsicherheit und Angst der Patienten wurde damit verringert (Reiser 1978: 33).
Außerdem bewirkte die Diagnose wissenschaftliches Gewicht: Sie war die Bestätigung, daß
man wirklich litt. Ein objektiver, naturwissenschaftlicher Name für das eigene Leiden hat
bis heute seinen Wert, um die Fürsorge zu erhalten, die man dringend benötigt, während
es einem schlecht geht (Stone 1993: 52 f.).
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts konkurrierten Ärzte
mit Feldschern, Barbieren, Wundärzten und Hebammen um zahlungsfähige Kranke, ohne mit
der Qualität ihrer Behandlungen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu erreichen.
Mediziner waren gegenüber Laien-HeilerInnen weit in der Minderzahl. Bei der Geburtshilfe
war damals die Inkompetenz der Ärzte sprichwörtlich. In der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts änderte sich das auch durch neu erfundene Behandlungen.
Zum einen betrafen diese Neuerungen das Operieren.
Bis 1870 wußte man noch nicht, daß extreme Sauberkeit (Sterilität) die
Erfolgsaussichten von Operationen wesentlich verbessert. Zuvor waren sehr viele Patienten,
denen z.B. nach einem Unfall ein Körperteil amputiert werden mußte, an Entzündungen und
Wundbrand gestorben. Kaiserschnitte wurden kaum jemals vorgenommen, und wenn doch, dann
überlebte die Mutter in den seltensten Fällen. Jetzt wurde das Operationsrisiko viel
geringer (Huerkamp 1985: 133 ff). Außerdem wurde es möglich, wesentlich schmerzloser zu
operieren, denn man konnte mit Chloroform betäuben. Sterile Operationen mit Betäubung
waren aber nur im Krankenhaus möglich, wo Laien-Heiler keinen Zugang hatten. Es war der
alleinige Erfolg der Ärzte. Er kam zwar nur wenigen Menschen zugute, aber die Berichte
darüber steigerten ihren Ruf wesentlich (Huerkamp 1985: 135 f.).
Neben dem Chloroform kamen im 19. Jahrhundert noch
Morphium und Chinin auf. Auf Drängen der Ärzte durften diese und viele andere
Medikamente nur gegen ein von ihnen ausgestelltes Rezept verkauft werden. Opiate wurden im
19. Jahrhundert weit häufiger als heute verordnet. Morphium und Chinin brachten für
viele Menschen die Erfahrung, daß Ärzte extrem wirksame Mittel zur Fiebersenkung,
Schmerzstillung und Bekämpfung der Schlaflosigkeit hatten. Ihre Wirksamkeit stellte
alles, was man aus dem Kräutergarten kannte, weit in den Schatten. Das schien die
Überlegenheit der Ärzte gegenüber anderen Heilern zu bestätigen- ohne daß die
Menschen dadurch gesünder wurden. Der alleinige Zugang der Ärzte zum Krankenhaus und zum
Morphium, und ihr exklusives Recht, eine objektive Krankheit zu bescheinigen,
gehörten zu ihrer Verwaltungsmacht. Diese wurde zur Grundlage der Überlegenheit ihrer
Medizin.
Man darf nicht vergessen, welche Folgen es hatte, die
Welt mechanisch und den Menschen als Maschine zu sehen. Das half dem Bürgertum und
Unterschicht, sich aus der Bevormundung von Kirche und Aristokratie zu befreien. In der
mittelalterlichen Ideologie waren Krankheiten die Strafen Gottes. Ihre Ursachen und Folgen
galten als gottgewollt. Wer behauptete, man könnte daran etwas ändern, betrieb
Volksverhetzung. Die Naturwissenschaftler kritisierten die schlechten Verhältnisse und
die Ideologie, die sie stützte. Nach Descartes und La Mettrie steckte im Menschen nichts
Göttliches, Unbegreifliches. Die Fürsten, Könige und Bischöfe waren genauso eine
Maschine aus Röhren, Pumpen und Nervenleitungen, wie jeder von uns. Wenn eine
Dampfmaschine im Freien steht und schlechte Kohlen bekommt, geht sie kaputt, genauso ist
es mit den Menschen. Statt auf Sünden, Missetaten und ewige Gebote zu schauen, richteten
die Bürger deshalb ihren Blick immer häufiger auf ihre Lebensverhältnisse, wenn es
ihnen schlecht ging. Die Medizin half eine Zeitlang dabei.
Viele Mediziner in Deutschland sympathisierten mit
den Ideen der Revolution von 1848 und beteiligten sich an ihr, z.B. der linksliberale
Pathologe Rudolf Virchow. 1848 verfaßte er seine Mittheilungen über die in
Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie. Darin machte er Elend und Armut als
Ursachen der Seuche dingfest und forderte Reformen als Therapie. Virchow gehörte zu den
Urhebern der Zellpathologie, der Lehre von der Zelle als Grundbaustein des Lebens. Den
Organismus sah er als Zellstaat. Damit begann in Deutschland die Abkehr von
der bis dahin herrschenden Säfte-Lehre. Mit mechanisch-technischen Ideen darüber, wie
der Mensch funktioniert, erforschte Virchow die Ansteckung mit Krankheitserregern und ihre
Wirkungen im Körper. Auf derselben Grundlage machte er Vorschläge zur Verbesserung der
öffentlichen Gesundheit. Virchow war nebenher Politiker und Journalist. Auch auf seine
Forderungen hin wurde in Berlin für die arme Mehrheit der Bevölkerung die
Wasserversorgung und die Kanalisation verbessert, dadurch wurden Typhus und Cholera
eingedämmt.
Das Beispiel Virchows zeigt den Wechsel der Leitideen
in der Medizin des 19. Jahrhunderts. Einerseits setzte sich das mechanistische
Menschenbild völlig durch. Andererseits wurde der Zuständigkeitsbereich der Medizin
erweitert. Zur Hilfe in der Not des einzelnen kam die Sorge um die Volksgesundheit. In der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten die Städte und Gemeinden viele Ärzte in
den öffentlichen Gesundheitsdienst ein. Was vorher oft eine unentgeltliche Ehrenpflicht
war, wurde zur bezahlten Beschäftigung. Ihr Schwerpunkt verschob sich. Früher bedeutete
Armenpflege vor allem Gesundheitsfürsorge für individuelle Arme. Jetzt ging es um mehr:
die Organisation des Schlachthofes, die Verhältnisse auf dem Gemüsemarkt und beim
Fischhandel, die Sanierung des Armenviertels (Huerkamp 1985: 167 - 177). Die Ärzte nahmen
Teil an einer neuen Art von Verwaltung: Nicht mit Drohung, Gewalt und Indoktrination,
sondern durch Regulierung und Erziehung wurden die Menschen gezähmt und die Kräfte des
Landes gestärkt. An dieser neuen Art der Herrschaft waren die Ärzte von Anfang an
beteiligt.
Die Medizin war wichtig für die Kritik der
religiösen Sicht der Welt. Eine Zeitlang machte sie deutlich, daß nicht höhere,
unantastbare Gesetze das Schicksal der Menschen bestimmen, sondern der Mensch selbst. Fast
gleichzeitig übernahmen Mediziner, später auch Psychologen, die frühere Funktion der
Prediger und Beichtväter. Sie fanden Erklärungen, warum bestimmten Menschen ein
bestimmtes Schicksal innewohnt. Damit entlasteten sie die Menschen ebenso von ihrer
Verantwortung, wie es vorher die Religion getan hatte, und rechtfertigten zugleich
schlechte Zustände.
Zum Beispiel schrieb die Medizin im 19. Jahrhundert
den Frauen geringere geistige Fähigkeiten zu. Man entdeckte bei ihnen die Gebärmutter,
die die Frauen zu Gefühlsmenschen machte. Damit war die Frage, warum alle Frauen am Herd
standen, wissenschaftlich geklärt. Die Gebärmutter war auch Sitz einer nervösen
Störung, der Hysterie (lat. Hystera = Gebärmutter). Wenn eine Frau z.B. vor
Angst und Wut weinte und zitterte, war sie krank und litt an Hysterie. Sie wurde mit
Operationen, Medikamenten und ab 1900 mit Elektroschocks behandelt, an ihrer Umgebung und
ihrer Situation brauchte man nichts zu ändern. Die meisten Hysterikerinnen
glaubten selbst an ihre Krankheit. Sie hatten oft unwillkürliche Krämpfe, die die Ärzte
damals erwarteten (Shorter 1994: 167 - 203). Gleichzeitig mit dem Aufkommen der
Frauenbewegung ist die Hysterie verschwunden.
Mediziner meinten, ebenso aussagekräftige
körperliche Besonderheiten an Kriminellen, Asozialen und Verrückten zu entdecken.
Ärzte, die solche Entdeckungen machten, wurden berühmt und erhielten wissenschaftliche
Institute. Sie konnten nicht nur die Kriminalität und die Lage der Frauen erklären. Sie
versprachen auch, hysterische Frauen oder Kriminelle durch eine Behandlung zu normalen
Menschen zu machen.
Die wissenschaftliche Autorität der Ärzte wuchs
auch dadurch, daß immer größere Teile der Bevölkerung seit 1848 mit den
sozialistischen und liberalen Ideen symphatisierten. Diese Ideen bescheinigten der
Naturwissenschaft mythische Großartigkeit. Fortschritt war das Zauberwort liberaler und
sozialistischer Parteien. Zu den Trägern des Fortschritts gehörten die
wissenschaftlichen Ärzte. Die mechanisch-körperliche Untersuchung und die Entdeckung
vieler Krankheitserreger waren Beweise dafür, daß die Mediziner mit den Mächten des
Fortschritts im Bunde standen.
Daher kam die Mißachtung der Schäfer, Wundärzte,
Heilkundigen und weisen Frauen. Daß die Laien-HeilerInnen zweitrangig waren, meinten
gerade die fortschrittlichen politischen Kräfte, die im Laufe des 19.
Jahrhunderts immer stärker wurden. Aus der Sicht der Sozialdemokratie war es ungerecht,
daß die kranke Arbeiterin zum Kurpfuscher ging, während die Bürgerin sich den Arzt
leistete. In der Wirksamkeit der Therapien dürfte der Unterschied zwischen
Laienbehandlern und Ärzten meist gering gewesen sein. (Manche Arbeiter gingen, ihrer
Partei zum Trotz, weiter zu ihren Laien-Behandlern, den Naturärzten. Viele
Ortskankenkassen haben deshalb im 19. Jahrhundert zusätzlich zu Ärzten noch
Laien-Heildiener zur kostenlosen Behandlung angeboten (Huerkamp 1985: 274;
Göckenjan 1985: 351).)
Verwaltungsmacht, körperlich-technische Untersuchung
und Wissenschaft stärkten die Autorität der Ärzte so, daß ihre Anordnungen selbst zum
Machtfaktor wurden. Viele Kranke wurden durch ihren Glauben und ihren Gehorsam geheilt.
Ihre Geschichten schienen die Überlegenheit der Medizin zu bestätigen. Diese Wirksamkeit
konnte sich im 19. Jahrhundert auf neuen Gebieten erweisen.
Im Verhältnis zum Individuum kamen zusätzliche
Aufgaben auf die Behandler zu. Wenn jemand nicht an sichtbaren Gebrechen litt, hieß das
im Mittelalter, daß er vollständig war und genügte. In der bürgerlichen Welt reichte
das nicht mehr aus. Geistesgegenwart, Spannkraft, Sensibilität, Geduld, Schönheit,
Frische waren gefordert. Jeder sollte all das haben können, jeder war seines Glückes
Schmied. Kopf und Körper des Menschen wurden Waffe und Werkzeug des individuellen Erfolgs
.
Umgekehrt kamen von Kopf und Körper aber viele
Hemmungen, die die volle Funktion behinderten. Einerseits wehrten sich die Menschen
unbewußt mit Körper und Geist gegen die neuen Anforderungen und Zumutungen. Sie
produzierten sichtbare Krankheit. Ihr Körper erteilte ihnen Urlaub vom Anpassungsdruck;
sie setzten sich außer Funktion, ohne daß sie etwas dafür konnten. Andererseits
verfolgten die Menschen mit neuer Aufmerksamkeit ihr Funktionieren. Sie nahmen mehr an
sich wahr, als früher. Die Bürger forderten von den Ärzten, daß sie diese Symptome und
Wahrnehmungen interpretierten und behandelten. Sehr viele Krankheiten, so wird heute
gesagt, seien auch psychosomatisch bedingt. Für den Erfolg eines Heilers ist dann
entscheidend, daß er eine glaubwürdige Diagnose und eine passende Therapie definieren
kann. Diagnose und Therapie müssen den Interessen des Kranken entsprechen und ihm
Sicherheit geben. Dann können sie zur Grundlage eines Bündnisses zwischen Patient und
Behandler werden, das zur Gesundung und Anpassung führt (Shorter 1994: 443 - 446).
Die Anforderungen an die Leistung des einzelnen sind
im 19. Jahrhundert immer intensiver geworden. Dadurch wurde eine viel größere
Aufmerksamkeit für Körper und Krankheit erzeugt. Alterungs- und Verschleißerscheinungen
wurden ein neues Feld für ärztliche Definitionsmacht. Immer mehr Menschen überlebten
das 35. Lebensjahr. Sie waren in ihrer Arbeit gesundheitlich verschlissen worden, dazu kam
die natürliche Alterung. Nur der Arzt konnte ihnen bescheinigen, daß z.B. ihre
Gelenkschmerzen Rheumatismus waren und ihre Rückenschmerzen Bandscheibenschäden. Nur er
konnte sie später deswegen krank schreiben, ihnen wirksame Schmerzmittel verschaffen. Die
Definitionsmacht über Krankheiten von Menschen und die Verwaltungsmacht
(Krankschreibung, Kuren, Rezepte) gehörten zusammen.
Ihre neue Autorität und ihr Kontakt zur
Naturwissenschaft hat es den Ärzten ermöglicht, Krankheiten und Therapien zu definieren,
die die Patienten angenommen haben, und die deren Umgebung ernst nahm. Andere Behandler
konnten das nicht ebenso gut tun. Diese Definitionsmacht hat wesentlich zur medizinischen
Macht beigetragen.
Die Medizin brauchte im 19. Jahrhundert nicht sehr
erfolgreich zu heilen, um wirksam zu sein. Sie war so eng mit der Naturwissenschaft, dem
Fortschritt und der Macht verbunden, daß ihr Aufstieg folgerichtig schien und
geräuschlos vor sich ging. Am Ende des vorigen Jahrhunderts war die Gesprächsmedizin
durch die mechanisch-technische Untersuchung abgelöst. Die Medikalisierung der
Gesellschaft, von der Soziologen sprechen, war weit vorangeschritten.
Die Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung
war eine Folge dieses Siegeszugs der Naturwissenschaft. Im Laufe des 19. Jahrhunderts
entwickelte sich die ärztliche Behandlung zu einem Grundbedürfnis vieler Menschen.
Medikamente, Krankengeld und Rente bekam man nur, wenn der Arzt eine Bescheinigung
ausstellte. Die Abhängigkeit von Ärzten wurde so groß, daß auch die Solidarität der
Arbeiterbewegung dagegen nichts mehr ausrichtete.
Selbsthilfeorganisationen der Gesellen für den
Krankheitsfall sind in Deutschland seit dem Mittelalter bekannt. Einige davon haben bis
heute als Krankenkassen überlebt: neben der Knappschaft der Bergleute z.B. die
Buchdrucker-Krankenkasse von 1824 und die Hamburger Zimmerer-Krankenkasse. Ihre
Grundsätze waren Selbstverwaltung und gegenseitige Hilfe unter Zunftkollegen. Die
Unterstützung im Krankheitsfall war ausschließlich finanzielle Beihilfe, um den
Lohnausfall zu kompensieren (Rodenstein 1978: 115)
Die erste Selbsthilfeeinrichtung, in der auch
medizinische Hilfe geleistet wurde, entstand während der Revolution von 1848. 1849 wurde
der Gesundheitspflegeverein der deutschen Arbeiterverbrüderung in Berlin
gegründet. Er nahm eine Reihe von sympathisierenden Ärzten unter Vertrag, die von allen
Mitgliedern gewählt wurden, und bei denen sie sich kostenlos behandeln lassen konnten.
Die Ärzte erhielten vom Verein ein ermäßigtes Honorar, das aus den Mitgliedsbeiträgen
bestritten wurde. Sie mußten über ihre Tätigkeit ein Journal führen, an den
Mitgliederversammlungen teilnehmen und waren dem Vereinsvorstand rechenschaftspflichtig
(Hansen u.a. 1981: 31 ff.).
In einer öffentlichen Sitzung des Vereins jeden
Sonntag nahmen mehrere Vereinsärzte, der Vereinsvorstand und viele Versicherte teil. Dort
wurden Streitfälle geklärt und kostspielige Therapien bewilligt, z.B. größere Kuren
und Reisen oder zweifelhafte Einweisungen ins Krankenhaus. Zur Arbeit des Vereins gehörte
es, die gesellschaftlichen Ursachen der Krankheit zu untersuchen und auf ihre Beseitigung
hinzuwirken (Hansen u.a. 1981: 35). Innerhalb weniger Monate wurden 8.000 Arbeiter in
Berlin Mitglied. Sie hatten Mitgliedsausweise aus Papier, auf denen die Zahlung ihrer
Beiträge verzeichnet war. Mit ihnen wiesen sie sich bei den Vertragsärzten aus. Nach der
Niederlage der Revolution wurde der Verein 1853 polizeilich verboten (Hansen u.a. 1981: 47
ff.).
Noch im Revolutionsjahr 1849 wurde in Preußen den
Gemeinden das Recht eingeräumt, Krankenkassen für Fabrikarbeiter einzurichten, für die
dann Mitgliedschaftspflicht bestand. Der Beitrag dieser Zwangskassen, wie sie damals
genannt wurden, wurde den Arbeitern vom Lohn abgezogen. Das Interesse der Gemeinden war
aber gering. 1868 waren erst etwa 500.000 Arbeiter in Ortskrankenkassen versichert,
ungefähr ein Viertel der Fabrikarbeiter Preußens. Ihren Mitgliedern wurden Ausweise
ausgestellt, die sie den Vertragsärzten vorlegten. Die meisten Kassen hatten nur einen
Vertragsarzt, von dem sich alle Mitglieder behandeln lassen mußten (Rodenstein 1978: 126
ff.; Huerkamp 1985: 194 - 195).
Parallel dazu entwickelte sich eine Alternative. Seit
den 1860er Jahren gründeten die Gewerkschaften eigene Hilfsorganisationen für
Krankheitsfälle. Gemeinsam mit den älteren Gesellenkassen waren das die Freien
Hilfskassen. Wer Mitglied war, mußte nicht in die Zwangskasse eintreten. Bis 1893 hat es
über 600 solche freien Hilfskassen gegeben. Ihre Leistungen waren ausschließlich
Geldleistungen. Der Versicherte mußte von dem erhaltenen Geld selbst die Behandlung und
das Krankenhaus bezahlen, es blieb ihm überlassen, auf welche Weise er seine soziale Not
linderte.(Rodenstein 1978: 117 ff.; Göckenjan 1985: 341 f.). Auf dem Höhepunkt 1890
waren in Deutschland über 800.000 ArbeiterInnen mit ihren Familien in freien Hilfskassen
organisiert (Rodenstein 1978: 146), obwohl deren Beiträge höher waren als die der
Zwangskassen. Wichtig war, daß die Mitglieder sich ihre Krankheit nicht von einem Arzt
bescheinigen lassen mußten. Die Zahlungen im Krankheitsfall waren vor allem Lohnersatz.
Die Versicherten erhielten außerdem oft Geld für die Behandlung beim Arzt oder
Laien-Behandler, die Kosten wurden nach einem festen Satz erstattet . Manche Hilfskassen
boten ihren Versicherten daneben einen Vertragsarzt an (Göckenjan 1985: 342).
Die freien Kassen lagen deshalb im Dauerstreit mit
den staatlichen Versicherungsämtern. Diese reglementierten die Hilfskassen und verboten
sie, wenn sie nicht den Vorschriften nachkamen, die für Versicherungen galten. Gemeinsame
gesundheitliche Selbsthilfe ist mit dem Prinzip der Versicherung eigentlich unvereinbar.
Den Hilfskassen wurde diese Rechtsform aufgezwungen. Sie versuchten, ihre Probleme zu
umgehen, indem sie den Mitgliedern keine bestimmten Unterstützungsbeträge für den
Krankheitsfall versprachen. Die Mittelverteilung gab aber immer wieder Anlaß zu
Streitigkeiten mit der Aufsichtsbehörde (Gesundheitswesen 1973: 90; Rodenstein 1978:
147).
Das Prinzip der Versicherung ist, daß man bei
Eintreten eines juristisch definierten Ereignisses rechtlich bestimmte Ansprüche gegen
den Versicherungsunternehmer hat, die im voraus feststehen. Dafür zahlt man seine
Versicherungsprämie. Das bedeutet:
1. Die Mitglieder werden bei einer Versicherung
aufgespalten in zwei soziale Rollen: Beitragszahler und
Leistungsberechtigter. In beiden Rollen sind ihre Ansprechpartner
nicht mehr die anderen Versicherten, sondern der Versicherungsapparat. Das gegenseitige
Verhältnis von Austausch und Solidarität wird individualisiert und verrechtlicht.
Anstelle der Verständigung zwischen den Mitgliedern gibt es jetzt Rechte und Pflichten
nur zwischen dem Versicherten und der Versicherung.
2. Es ist in einer Krankenversicherung nicht
zulässig, daß die Mitglieder darüber diskutieren, ob und in welcher Höhe sie einem
Mitglied eine bestimmte Behandlung bezahlen. Diese Entscheidung dürfen sie nicht treffen.
Es muß wissenschaftlich, objektiv festgestellt werden, ob ein
Versicherungsfall vorliegt. Das darf nur ein Arzt tun. Die Höhe der Leistung muß dann im
voraus feststehen.
3. Bei der Krankenversicherung ist es stets derselbe
Mensch, der
- feststellt, ob ein Schaden vorliegt, den die Versicherung decken muß,
- festlegt, wieviel Entschädigung die Versicherung zahlen muß,
- und der selbst den Entschädigungsbetrag einstreicht:
nämlich der Arzt. Die einzige zulässige Kontrolle der Ärzte ist eine rechtsförmige
Kontrolle: durch Juristen oder durch andere Ärzte, die von der Krankenversicherung
bezahlt werden. Die Versicherten sind von der Kontrolle ausgeschlossen.
4. Unbürokratische Gesundheitsselbsthilfe der
Selbsthilfekassen bedeutete, abzuwägen, ob jemand fremde professionelle Hilfe braucht,
oder ob man ihm auch anders helfen muß. Ob nicht eher die Arbeitsbedingungen zu
verändern waren, oder ob jemand ein ernstes Wort mit Verwandten reden sollte. Die Sorge
um das Wohlergehen der Kollegen und ihrer Familien, die die Arbeiter in Selbsthilfekassen
zusammenschloß, war verbunden mit ihrer gemeinsamen Lebenswelt, mit gemeinsamer Arbeit
und Nachbarschaft. Objektive Leistungsansprüche, die im voraus feststanden,
lösten die Verantwortung für das Wohlbefinden eines Menschen aus dieser alltäglichen
Verbundenheit. Sie legten sie in die Hände eines akademischen Fachmanns.
Im Wettbewerb zwischen staatlich reglementierter und
selbstorganisierter Krankenhilfe brachten die Bismarckschen Sozialgesetze einen Umschwung
zum Staat. Als erste der Sozialreformen wurde 1883 die Krankenversicherung als
Pflichtversicherung eingeführt. Erklärtes Ziel dieser Reform war es, die Arbeiter davon
zu überzeugen, daß der Staat auch für sie Vorteile hatte, um den revolutionären
Bestrebungen der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben (Rodenstein 1978: 143). Alle
Versicherten erhielten Anspruch auf freie ärztliche Behandlung im Krankheitsfall, und auf
Krankengeld bei Arbeitsunfähigkeit, die ein Arzt bescheinigen mußte. Die Arbeitgeber
mußten 1/3 der Beiträge aufbringen. Wer Mitglied einer freien Hilfskasse war, brauchte
keine Beiträge zu den neuen Zwangskassen zu leisten, allerdings zahlte auch der
Unternehmer nichts für ihn.
Die Mitgliedschaft in den Freien Hilfskassen stieg
trotzdem weiter an (Hansen u.a. 1981: 67). In Chemnitz, einer Hochburg der
Arbeiterbewegung, nahm die Ortskrankenkasse 1885 mehrere Heilpraktiker unter Vertrag. Sie
hoffte, damit die Abwanderung der Arbeiter zu den Hilfskassen zu stoppen. Damit löste sie
einen Proteststurm der Ärzte aus, der jedoch vergeblich war: die Heilpraktiker blieben
(Huerkamp 1985: 274). Aber es zeigte sich, daß das Anwachsen der Freien Hilfskassen auf
diese Weise nicht gestoppt werden konnte.
1892 fiel schließlich der entscheidende Schlag: Die
Hilfskassen wurden verpflichtet, den Versicherten unentgeltliche ärztliche Behandlung zur
Verfügung zu stellen. Das Prinzip der im voraus feststehenden Ansprüche auf
Sachleistungen wurde auch für sie obligatorisch. Hierzu hatten sie aber zu wenig
Geld. Das ärztliche Behandlungsmonopol brach ihnen das Genick, ihre Mitglieder traten in
die Pflichtkassen ein (Rodenstein 1978: 147 f.; Hansen u.a. 1981: 69). Die Zeit der
Selbsthilfe der Arbeiter war damit vorbei. Die Auseinandersetzung verlagerte sich in die
Selbstverwaltung der Pflichtkassen hinein. Ab 1893 konzentrierte sich die SPD darauf,
Sozialdemokraten in ihre Vorstände wählen zu lassen und somit deren Politik zu
beeinflussen. Es gelang ihr in kurzer Zeit, die Vorstände vieler Krankenkassen zu erobern
und die hauptamtlichen Posten in ihnen mit Sozialdemokraten zu besetzen. Die künftigen
Auseinandersetzungen wurden zwischen den Krankenkassenvorständen und den Ärzten
ausgetragen.
Bei der Einführung der Pflichtversicherung waren die
Kassen mit einem vierfachen Ärztemonopol konfrontiert, das bis heute fortbesteht:
- Nur Ärzte dürfen wirksame Medikamente verschreiben (Rezeptpflicht).
- Die Kassen dürfen nur vom Arzt verordnete Medikamente, Heilmittel und Behandlungen
bezahlen .
- Nur Ärzte dürfen die Versicherten krank schreiben und ins Krankenhaus einweisen.
- Die Versicherten müssen kostenlos ärztliche Behandlung erhalten.
Die Krankenkassen sind also zwingend auf die
Mitarbeit von Ärzten angewiesen. Trotzdem haben sie jahrelang ihre Mitbestimmung bei der
Krankenversorgung gewahrt. Erst durch die Ärztestreiks und schließlich durch den
Nationalsozialismus wurde es ihnen unmöglich, die Behandlungen und ihre Kosten zu
beeinflussen. Krankenscheine und Versichertenausweise waren Symbole der Machtverteilung.
Vor 1893 war das Ziel der Krankenkassen eine
möglichst billige Behandlung gewesen. Sie nahmen einen Arzt unter Vertrag, der für einen
festen Betrag alle Kassenmitglieder bei Krankheit krank schrieb und behandelte. Vor allem
die Arbeitgeber waren an möglichst wenigen und möglichst kurzen Krankschreibungen
interessiert. Die Kassenvorstände rügten Ärzte, die zu willfährig gegenüber den
Wünschen der Versicherten waren. Wenn die Ärzte anders behandelten, als sie sollten,
kündigten die Kassen ihren Vertrag und stellten einen anderen Arzt ein (Huerkamp 1985:
217). Die Versicherten wiesen sich beim Arzt mit einem Ausweis aus.
Auftraggeber des Arztes war jetzt nicht mehr der
Patient, sondern die Krankenkasse. Ihr mußte der Arzt über seine Arbeit Rechenschaft
ablegen. Das bedeutete, daß gegenüber der Krankenkasse das Arztgeheimnis nicht galt. Die
Krankenkasse erfuhr von Krankheit, Behandlung, Verschreibungen, sie übte Druck auf die
Ärzte und die Versicherten aus. Fast alle Kassen hatten nur wenige hundert Versicherte,
so daß der Kassenvorstand die Behandlungen der einzelnen Versicherten persönlich
kontrollierte (Göckenjan 1985, 353 - 355).
Die Forderung vieler Versicherter nach freier
Arztwahl wurde laut. Die Versicherten wollten sich aussuchen, von welchem Arzt sie sich
behandeln ließen. Davon erhofften sie sich bessere Behandlungen und weniger Strenge bei
der Krankschreibung. Es kam oft vor, daß Versicherte gesund geschrieben wurden, obwohl
sie sich zu schwach für die Arbeit fühlten. Bei freier Arztwahl konnten die Versicherten
zu dem Arzt gehen, der am aufgeschlossensten war. Selbst wenn die Kasse ihnen mehrere
Ärzte alternativ anbot, standen diese Ärzte unter der Aufsicht des Kassenvorstands und
mußten um ihren Vertrag bangen, wenn sie anders behandelten, als der Vorstand es wollte.
Die Sozialdemokratie gewann die Krankenkassenwahlen um 1890 mit ihrer Forderung nach
freier Arztwahl. Doch dort, wo sie eingeführt wurde, zeigte sich ein Problem. Es war
nicht der Anstieg der Arbeitsunfähigkeitszeiten (zumal die Versicherten nur 50 % ihres
Lohns als Krankengeld erhielten,) sondern die Behandlungskosten . Sie stiegen dermaßen
an, daß Kassen mit freier Arztwahl höhere Beiträge nehmen mußten. Die Mitglieder und
ihre Angehörigen gingen immer häufiger zum Arzt, z.B. um sich ein Rezept abzuholen. Bei
freier Arztwahl kostete jeder weitere Arztbesuch für die Krankenkasse zusätzliches Geld.
Die Kassenvorstände strebten damals an, die
Beiträge im Rahmen zu halten und davon so viel wie möglich als Krankengeld an die
Mitglieder zurückzuzahlen. Für Arzthonorare wollten sie möglichst wenig abzweigen
(Rodenstein 1978: 152). Das Interesse der Ärzte war dagegen, aus dem Topf der Kassen
möglichst viel Honorar zu schöpfen. Ärzte wetterten in ihrer Standespresse gegen die
Begehrlichkeit der Versicherten, die nur krank feiern wollten. Statt ihnen
Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen, bestellten sie die Versicherten lieber nach
Feierabend wieder und wieder in ihre Praxis und verschrieben ihnen Medikamente. Sie selbst
und die Arbeitgeber profitierten mehr von dieser Art der Behandlung.
Für die freie Arztwahl war der Krankenschein das
Abrechnungmittel. Der Krankenschein war ein Gutschein für ärztliche Behandlung. Er wurde
den Versicherten auf Antrag von der Krankenkasse ausgestellt, wenn sie krank waren. Damit
gingen sie zum Arzt, dieser schickte der Kasse den Schein mit der Diagnose, den
Behandlungen und seiner Rechnung zurück.
Mit der freien Arztwahl begann der Machtverlust der
Krankenkassen. Sie konnten nicht mehr den Arzt auswählen, dessen Behandlung gefiel und
dessen Gehaltsforderung im gesteckten Rahmen blieb. Es war nicht möglich, seine
Behandlungen und Verordnungen zu überprüfen. Die Kassen wurden zur bloßen Zahlstelle
(Läpple 1975: 206). So änderte sich bald die Mehrheitsmeinung der sozialdemokratischen
Kassenvorstände. Sie bevorzugten Ende des 19. Jahrhunderts das System angestellter
Ärzte: Vorstand und Kassenangestellte erhielten dadurch eine politische Aufgabe.
Versicherte und Kassen gerieten aber in einen Interessengegensatz (Huerkamp 1985: 226 f.).
Kontrolle der Ärzte würde auch Kontrolle der Versicherten bedeuten, auch im Interesse
des Arbeitgebers. Es waren die Ärzte, die in harten Kämpfen die freie Arztwahl
durchgesetzt haben, und die schließlich selbst die Kontrolle der Versicherten
übernahmen.
Der Prozentsatz der Versicherten an der
Gesamtbevölkerung stieg zwischen 1883 und 1914 von 20 % auf knapp 50 %. Entsprechend
schmaler wurde der Anteil der potentiellen Patienten, die von den Ärzten privat behandelt
werden konnten. Da die Ärzte an jeder Privatbehandlung drei- oder viermal mehr verdienten
als an einer Kassenbehandlung, haben sie sich dieser Entwicklung widersetzt. Damit hatten
sie aber keinen Erfolg.
Für die wirtschaftliche Lage der Ärzte wurde es
immer wichtiger, wie die Kassenbehandlung abgerechnet wurde. Die meisten Kassen stellten
eine begrenzte Zahl von Ärzten an und zahlten ihnen ein jährliches Pauschalhonorar nach
Anzahl der versorgten Patienten. Damit hatten sie die Möglichkeit, die Preise zu
drücken, denn es gab genug Ärzte. Wenn ein Arzt mit dem Honorar der Kasse unzufrieden
war, konnte er ruhig kündigen, denn man fand schnell einen anderen, der bereit war, für
dasselbe Geld zu arbeiten. So bewarben sich 1890 z.B. 150 Ärzte auf 19 Stellen, die der
Berliner Gewerkskrankenverein ausgeschrieben hatte (Thiele 1974: 31). Die Kassen zahlten
mehr Gehalt, als ein Arzt in freier Praxis verdienen konnte. Dafür mußte der Kassenarzt
allerdings erheblich mehr Patienten behandeln. Auf diese Weise gelang es den Kassen, ohne
große Beitragserhöhungen und trotz aller Medikalisierung die Versicherten kostenlos zu
versorgen. Das bedeutete intensivere Arbeit der Ärzte, ohne daß diese mehr Geld
erhielten. Damals entstand die Fünf-Minuten-Medizin. Ein Gespräch wie früher war gar
nicht mehr möglich. Die körperliche Untersuchung, die mechanisch-technische
Behandlungsmethode entwickelte sich zur einzig möglichen Arbeitstechnik des Kassenarztes.
Diese Tätigkeit als Angestellter der Kasse erbitterte viele Ärzte. Die persönliche
Beziehung zum Patienten mit ihrem Arztgeheimnis schien ihnen wirtschaftlich günstiger.
Statt eines mächtigen Partners, der Kasse, standen ihm dann viele einzelne Patienten
gegenüber. Kritischen Ärzten und Bürgern ging es andererseits darum, für die
Versicherten eine angemessene Behandlung zu erreichen, wie sie die Wohlhabenden erhielten.
Deshalb setzten sich viele Liberale und wenige Sozialdemokraten ebenfalls für die freie
Arztwahl ein (Huerkamp 1985: 221-227).
Die große Mehrheit der Ärzte, einschließlich der
angestellten Kassenärzte, schloß sich nach und nach der ärztlichen Bewegung für
freie Arztwahl an. Seit 1900 war der Leipziger Kassenarzt Dr. Hermann Hartmann ihr
Führer. Hartmann hatte die Forderung nach freier Arztwahl aufgegriffen. Von
ihm stammt auch die Idee des Ärztestreiks. Durch einen Boykott sollten die Krankenkassen
gezwungen werden, die freie Arztwahl einzuführen. Dr. Hartmann gründete den Leipziger
Verband, den heutigen Hartmannbund, als wirtschaftliche Kampforganisation. Er begann,
Gelder für eine Streikkasse zu sammeln.
Auf dem 30. Deutschen Ärztetag 1902 in Königsberg
wurden gegen nur drei Gegenstimmen seine Forderungen beschlossen:
1. Daß jeder Arzt, welcher Satzungen der
ärztlichen Organisation und die Vereinbarung derselben mit den Kassen anerkennt, in die
Organisation (der Ärzte, J.K.) aufgenommen werden muß.
2. Daß die Kassenmitglieder die freie Arztwahl unter
den Mitgliedern der Organisation haben.
3. Daß die Pflichten der Ärzte den Kassen und
Kassenmitgliedern gegenüber sowie die Gegenleistungen der Kassen ausschließlich durch
die ärztliche Organisation mit den Kassen vereinbart werden.
4. Daß die Organisation als solche die Verantwortung
für die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen übernimmt und deshalb allein befugt
ist, die einzelnen Ärzte wegen Verletzung ihrer kassenärztlichen Pflichten zur
Verantwortung zu ziehen.
5. Daß die Kassen und die ärztlichen Organisationen
bei allen Verhandlungen als gleichberechtigte Partner erscheinen. (zit. n. Thiele
1974: 32/33).
Angestrebt war eine Umkehrung der bisherigen
Machtpositionen. An die Stelle der Nachfragemacht der Kassen sollte das Angebotsmonopol
der Ärzteorganisation treten . Die Kassen sollten nur noch mit der organisierten
Ärzteschaft Verträge abschließen, nicht mehr mit einzelnen Ärzten. Dann könnten die
Mediziner jeder Krankenkasse ihre Bedingungen diktieren, z.B. ihre Gebührenforderungen.
Falls sich die Kasse nicht beugen sollte, würden sämtliche Ärzte gleichzeitig ihre
Verträge kündigen und die Kassenmitglieder nur noch gegen Barzahlung behandeln.
Die Forderungen der Ärzte bedeuteten auch, daß
künftig nur der Ärzteverband bestimmen wollte, was richtige medizinische
Behandlung sei. Gegenüber einem solchen, vom Ärzteverband definierten Standard würden
die Kassen und Patienten machtlos werden. Doch zunächst waren das nur Wünsche.
Ende des 19. Jahrhunderts unterlagen die Ärzte mit
ihren Forderungen meist den Kassenvorständen. Wenn alle angestellten Ärzte bei einer
Kasse gemeinsam mehr Geld forderten und mit Kündigung drohten, wurden sie entlassen und
andere Ärzte angestellt. Jetzt schlossen die Ärzteorganisationen Schutz- und
Trutzbündnisse. Streikbrecher wurden mit standesrechtlichen Verfahren überzogen
und in jeder Weise bloßgestellt und gemieden. Mit dieser neuen Taktik hatte der
Hartmannbund Erfolg. In zwei spektakulären Ärztestreiks 1904 in Leipzig und Köln zwang
er die größten Ortskrankenkassen in die Knie. Er setze Gebührenerhöhungen von über
100 % und freie Arztwahl durch. Während 1902 nur 8 % der deutschen Ärzte im Leipziger
Verband waren, waren es zwei Jahre später 57 % (Huerkamp 1985: 283-296). Die Disziplin
der Ärzte hielt. Sie gewannen von 1904 bis 1909 167 Konflikte mit den Kassen und setzten
überall freie Arztwahl und mehr Honorar durch. Die Behandlungskosten, die die Kassen pro
Mitglied und Jahr aufbringen mußten, stiegen von 1900 bis 1909 um 60 %. Das
durchschnittliche Kassenhonorar eines Arztes hatte sich im gleichen Zeitraum annähernd
verdoppelt (Huerkamp 1985: 207; Thiele 1974: 29). Der Kampf für Einzelleistungsvergütung
und freie Arztwahl hat sich für die Ärzte gelohnt.
Seit damals gehen die Deutschen doppelt so oft zum
Arzt, wie ihre europäischen Nachbarn. Sie verbrauchen auch wesentlich mehr Medikamente.
Bei den Krankschreibungen lag Deutschland dagegen bis in die 60er Jahre unter dem
westeuropäischen Durchschnitt. Das war die Art der Behandlung, die den Ärzten damals am
meisten nützte.
Besiegelt wurde der Erfolg der Ärzte 1913. Um
durchzusetzen, daß die organisierte freie Arztwahl in die Reichsversicherungsordnung
aufgenommen wird, kündigten alle deutschen Kassenärzte ihre Verträge zum 31.12.1913.
Sie wollten von diesem Zeitpunkt an in den Generalstreik treten. In letzter Minute, am
23.12.1913, kam es zum Berliner Abkommen zwischen Kassen und Ärzten. Danach
mußten die Kassen für jeweils 1350 Versicherte einen Arzt anstellen. Bei der Auswahl
dieser Ärzte bestimmten die Ärzteverbände mit. Die Anstellungsbedingungen wurden
zwischen Hartmannbund und Kasse vereinbart. In Streitfällen fand ein Schiedsverfahren
statt. Damit war es den Kassen unmöglich geworden, weiterhin die Konkurrenz zwischen den
Ärzten auszunutzen. In fast allen Großstädten wurden die freie Arztwahl und die
Einzelleistungsvergütung eingeführt (Thiele 1974: 41-42). Gleichzeitig haben die
Krankenkassen die Verbandsmacht des Hartmannbundes offiziell anerkannt. In den Händen der
Ärzte lag künftig die Definition von Gesundheit, Krankheit und Behandlung. Der
Krankenschein setzte sich in ganz Deutschland durch.
Die Dialektik von Druck und Gegendruck hatte auch die
Krankenkassen gründlich verändert. Sie gründeten Reichsverbände, um dem Hartmannbund
eine zentralisierte Gegenmacht gegenüber zu stellen. In der Folgezeit haben diese
Spitzenverbände die Krankenkassen-Politik immer mehr bestimmt. Die lokalen Vorstände der
einzelnen Krankenkassen verloren ihre politische Aufgabe. Sie wurden zu reinen
Verwaltungsgremien.
In der Weimarer Republik führten neue Ärztestreiks
zu einer weiteren Festigung dieser Verbandsmacht. 1923 wurde den Krankenkassen die
Vertragsfreiheit gegenüber den Ärzten per Gesetz genommen. Das Berliner
Abkommen galt unbefristet weiter. Die Vertragsverhältnisse wurden künftig in einem
staatlichen Organ geregelt, dem Reichsausschuß der Ärzte und Krankenkassen,
der mit Verbandsvertretern beider Seiten besetzt war. Dieser Ausschuß konnte mit
Richtlinien die Behandlung und das Honorar regulieren. Die Verbandsbürokratie erhielt
jetzt staatliche Macht.
Während der Weltwirtschaftskrise hat dann die
Reichsregierung mit Notverordnungen die gesundheitlichen Rechte der Versicherten
eingeschränkt. In der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 wurden die ärztlichen Honorare
gekürzt; Behandlungen, Krankschreibungen und Rezepte sollten auf das Notwendigste
beschränkt werden. Aus Angst vor einem neuen Ärztestreik erfüllte die Regierung
Brüning einen lang gehegten Traum des Hartmannbundes: dessen Kassenärztliche
Vereinigungen wurden zur einzigen Zahlstelle für das ärztliche Honorar Die Kassen
zahlten einen festen Gesamtbetrag nach der Anzahl ihrer Mitglieder und nach deren
Durchschnittseinkommen an den Hartmannbund: das Budget. Der Hartmannbund legte künftig
fest, wie es entsprechend den von den Ärzten erbrachten Leistungen auf die Ärzte
aufgeteilt wurde. Er bestimmte fortan die Methoden der Abrechnung, nahm Überprüfungen
vor, verhängte Kürzungen und beschloß Mengenstaffeln für ärztliche Arbeit. Der
Hartmannbund war dafür zuständig, zu überwachen, daß die Ärzte ihre Behandlung auf
das unerläßliche beschränkten. Die Kassen schlossen die Behandlungsverträge mit ihm
ab, nicht mehr mit dem einzelnen Arzt. Die Kontrolle der ärztlichen Tätigkeit,
einschließlich der Kontrolle der Krankschreibungen, wurde von der Ärzteschaft selbst
übernommen (Rodenstein 1978: 160).
Für den Patienten wechselte der Kontrolleur. Früher
hatten Vertrauensärzte der Krankenkassen oft die Krankschreibungen und
Medikament-Verschreibungen der Ärzte gekürzt oder aufgehoben. Jetzt funktionierte die
Kontrolle für Patienten unsichtbar. Um die Kürzung des Honorars durch den Hartmannbund
zu vermeiden, verschrieben die Ärzte von vorn herein keine teuren Medikamente und
schrieben wenig krank. Sie erklärten den Patienten, Krankschreibung und Tabletten seien
in ihrem Fall medizinisch nicht notwendig. Diese Art der Beschränkung erwies sich als
erfolgreich, sie hat sich bis heute erhalten.
Die nationalsozialistische Regierung vollendete diese
Regelung. Wie die Ärzte-Mehrheit 1931 gefordert hatte, wurden die Kassenärztlichen
Vereinigungen im Herbst 1933 zu Körperschaften des öffentlichen Rechts, also zu
staatlichen Institutionen. Alle zugelassenen Ärzte waren automatisch Mitglieder darin.
1934 übernahm der Hartmannbund über sie die Oberaufsicht, bis sie kurze Zeit später
zusammengefaßt wurden in der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands.
Die Ärzte hatten jetzt fast alle standespolitischen
Ziele erreicht. Der einzige Wermutstropfen war, daß die weitere Medikalisierung wegen des
oben genannten Budgets nicht zu einer Erhöhung der Vergütung führen konnte. Ihr
Einkommen erhöhte sich auf andere Weise. In den Jahren 1933 - 1938 wurden, unter aktiver
Mitwirkung der Ärzteverbände, rund 8.000 jüdische Ärztinnen und Ärzte (rund 15 %
aller Ärzte) aus ihrem Beruf vertrieben (Thom 1989: 43). Die Zahlungen der Kassen an die
Ärzteschaft sanken nicht, so erhöhte sich das Einkommen der verbleibenden Ärzte. In der
Blütezeit der NS-Rüstungswirtschaft, 1936 - 1939, spülten die höheren Einkommen der
Versicherten automatisch mehr Geld in die Taschen der arischen Mediziner. Die meisten
jüdischen Ärztinnen und Ärzte, die bis 1938 in Deutschland geblieben waren, wurden in
die Konzentrationslager im Osten deportiert und dort ermordet (Thom 1989: 43).
Zum Programm des Nationalsozialismus gehörte auch,
daß jeder Deutsche seinen Hausarzt hat. Medikalisierung wurde zur Staatspolitik. Es
entsprach der NS-Logik, alle persönlichen Probleme als medizinische und biologische zu
sehen. Wenn es jemandem schlecht ging, durfte die Ursache dafür kein gesellschaftliches
Problem sein. Medizinische Probleme sind vereinzelte Probleme des Individuums. Über seine
Ärzte konnte der NS-Staat diejenigen Menschen kontrollieren, die solche Sorgen hatten. Es
galt die Pflicht zur Gesundheit (Kästner 1989).
Der Patient sollte dem Hausarzt bedingungslos
vertrauen und ihn als seinen Gesundheitsführer ansehen. Dieser mußte dem
Patienten helfen, die höchste Leistung für die Volksgemeinschaft zu erbringen. Seine
Aufgabe war es, den Volksgenossen die Grillen, Zipperlein und Zweifel auszureden, und
ihnen zu helfen, bei der Arbeit und in der Familie ihr Bestes zu geben. Der Arzt sollte
sich sehen wie ein Offizier gegenüber seinen Soldaten: als Fürsorger, Ratgeber und
Vorgesetzter für alle Lebensbereiche (Reeg 1993: 192; Schmiedebach 1980: 65 ff.).
Um ein gesundes Volk zu schaffen, sterilisierten
deutsche Ärzte zwangsweise mehr als 300.000 Behinderte und Arbeitsscheue,
80.000 Behinderte wurden auf ärztliche Entscheidung hin ermordet (Kästner 1989: 189).
Reichsarbeitsminister Ley plante, alle arbeitenden Menschen alle drei bis vier Jahre in
einer ärztlichen Vorsorgeuntersuchung examinieren zu lassen. Generalprobe waren
Massenuntersuchungen bestimmter Geburtsjahrgänge und Gau-Bewohnerschaften 1936 - 1939, in
denen einige Millionen Menschen durchgemustert wurden. Für diese Untersuchungen wurde ein
Gesundheits-Stammbuch eingeführt. Darin sollten alle medizinischen Informationen über
eine Person gesammelt werden: von der Hebamme über Hausärzte, Schulärzte, Hitlerjugend-
und Wehrmachtsärzte bis zu Fachärzten und Betriebsärzten (Reeg 1993: 191). In Hamburg
führte das Amt für Volksgesundheit der NSDAP einen ähnlichen Ausweis, den
Gesundheitspaß, ein. Bis 1939 wurden 1,1 Millionen Hamburger erfaßt, mit Ausweisen
ausgestattet und in einer Kartei registriert (Rothmaler 1993: 140). Die Deutsche
Arbeitsfront und die Reichsgesundheitsführung planten, den Gesundheitspaß in
ganz Deutschland einzuführen, und zwar auch als Berechtigungsausweis für Arztbesuche
(Roth 1995: 43 - 47). 1943 wurde die Verwirklichung dieser Pläne auf die Zeit nach dem
Sieg verschoben (Roth 1995: 51).
In den Jahren 1941 - 1945 wurde die Mehrheit der
deutschen Ärzte zu Selektionszwecken herangezogen: als Feldarzt an der Front, als Arzt im
besetzten Gebiet, Arzt für ein Kriegsgefangenenlager oder ein KZ; als Arzt in
kriegswichtigen Betrieben, um die Arbeitsfähigkeit zu bescheinigen. Ihre kühle Distanz,
der prüfende Blick auf den Patienten konnte sich weiter festigen. Diese Haltung gehört
für viele noch immer zum Repertoire der ärztlichen Rolle.
In der sowjetisch besetzten Zone, später in der DDR,
wurde nach 1945 ein neues System der ambulanten Gesundheitsversorgung errichtet. Dort gab
es Ambulatorien (Gemeinschaftspraxen mit Ärzten aller Fachrichtungen) und Polikliniken,
d.h. Abteilungen für ambulante Behandlung in Krankenhäusern. In der Weimarer Republik
hatte es bereits einige derartige Einrichtungen gegeben, sie waren 1933 aufgelöst worden.
Als Staat und Gewerkschaften in der DDR die Gesundheitsfürsorge übernahmen, haben sie
diese Ansätze weitergeführt. An die Stelle der frei praktizierenden Ärzte traten zum
einen Betriebsärzte in mehreren hundert Betriebspolikliniken und -ambulatorien. Von ihnen
konnten sich die Beschäftigten oft während der Arbeitszeit behandeln lassen.
Andererseits gab es öffentliche Ambulatorien und Polikliniken (Ruban 1981: 34 - 40).
Alle Ärzte wurden gegen festes Gehalt beschäftigt,
eine Vergütung von Einzelleistungen gab es nicht. Pharma-Unternehmen und Apotheken waren
verstaatlicht. Die Kosten des Gesundheitssystems waren ganz erheblich geringer als in der
BRD (Ruban 1981: 104 - 106). Ökonomische Gesichtspunkte haben aber auch dort bei der
Versorgung eine wesentliche Rolle gespielt. Behinderte, vor allem geistig Behinderte, sind
oft in erschreckender Weise vernachlässigt worden. Das gleiche galt für alte, chronisch
kranke Menschen. In der gesundheitsstaatlichen Überwachung war die DDR der BRD weit
voraus. Eine Wiederbelebung der Laien-Heilkunde hat es nicht gegeben, und die
ganzheitlichen Ansätze alternativer medizinischer Richtungen wurden nicht unterstützt.
In der DDR ist die Idee des Wissenschafts-Staates verwirklicht worden, die sich nach 1890
in der deutschen Arbeiterbewegung durchgesetzt hatte. Für Selbsthilfe und
Selbstverwaltung war kein Raum.
Nach 1989 wurden im Osten die bundesdeutschen
Strukturen eingeführt. Im heutigen Land Brandenburg finanzieren die Krankenkassen noch
ca. 40 Polikliniken weiter, weil sehr viele Menschen diese Versorgungsform bevorzugen, die
außerdem preiswerter als private Praxen ist.
In Deutschland besteht das
Versorgungsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigung bis heute. Einige
Strukturen von 1931/34 sind wiederhergestellt worden, soweit sie eine Zeitlang nicht
gegolten hatten.
1955 wurde durch Gesetz der Budget-Zwang abgeschafft:
die Krankenkassen durften die Tätigkeit der Ärzteschaft wieder nach Einzelleistungen
bezahlen. Die Angestellten-Ersatzkassen machten zuerst davon Gebrauch, sie erstatteten den
Ärzteverbänden alle abgerechneten Leistungen. Gemeinsam mit den Ärztekammern erstellten
die Angestellten-Kassen eine eigene Gebührenordnung. In sie wurden mit der Zeit immer
mehr Leistungen aufgenommen, die sich ein Arzt bezahlen lassen konnte, vor allem
technische Leistungen. Die Folge war, daß Ersatzkassen-Patienten den Ärzten viel mehr
Geld brachten, als die Versicherten der AOK. Deshalb wurden AOK-Mitglieder
schlechter behandelt. Nur die anderen erhielten oft Laboruntersuchungen von
Blut und Urin, Aufnahmen mit Ultraschall und Röntgen, auch Krankengymnastik und
Physiotherapie. Viele gut verdienende Angestellte traten aus der AOK aus und in die
Ersatzkassen ein. Unter diesem Druck führten auch die AOKs die Einzelleistungsvergütung
und die Ersatzkassen-Gebührenordnung ein.
Technisierung der Medizin und aufgeblähte
Gebührenordnung haben dafür gesorgt, daß die ärztliche Arbeit völlig neu organisiert
wurde. Arztpraxen wurden tayloristisch gestaltet. Wie ein Werkstück auf dem Fließband
durchläuft der Patient die Bearbeitungsstationen in der Facharztpraxis (vgl. Schlicht
1994: 28 - 32). Jedem Bearbeitungsschritt entspricht mindestens eine Ziffer in der
Gebührenordnung. Entsprechend veränderte sich das medizinische Wissen. Seit 1972 müssen
die Medizinstudenten in ihren Staatsexamina Tests zum Ankreuzen (multiple choice) lösen.
Bei jeder Prüfung wird in ca. 300 sehr kurzen Fragen technisches Häppchen-Wissen
geprüft (Original-Prüfungsfragen 1994). Medizinische Verlage vertreiben mit großem
Erfolg Lern-Software, mit der man dieses Wissen am Computer einpaukt. Zwar vergessen die
zukünftigen Ärzte nach eigener Aussage das meiste sofort nach der Prüfung. Was im
Gedächtnis bleibt, ist das Grundmuster darin: die Verkettung zahlloser einzelner
Symptome, Laborwerte und Bilder mit physikalisch-chemischen Prozessen im Körper, und die
Verkettung dieser Prozesse mit den einzelnen Krankheiten und Therapien. Solche
Wissenschaft paßt zur Fließband-Situation in der Arztpraxis und im Krankenhaus. Gemessen
am Qualitätsstandard dieser Medizin arbeiten Computerprogramme (medizinische
Expertensysteme) oft besser als Ärzte (Lei u.a. 1991).
Die Ausgaben aller Kassen stiegen seit den siebziger
Jahren erheblich. 1993 wurde das Budget (basierend auf dem neuen Stand der Zahlungen)
wieder eingeführt. Das heißt, die Kassen zahlen wieder einen festen Betrag nach der
Anzahl ihrer Mitglieder an den Ärzteverband. Der Betrag ist an die Lohnsumme gekoppelt.
Mehr Leistungen der Ärzte führen nicht mehr zu höheren Zahlungen an sie. Die
Abrechnungen der Ärzte sind nur relevant dafür, wie die Gesamtvergütung unter ihnen
verteilt wird - wie schon von 1931 bis 1955.
Seit 1913 wurde für eine bestimmte Zahl von
Versicherten jeweils ein Kassenarzt zugelassen. Neue Ärzte mußten oft jahrelang auf ihre
Kassenzulassung warten. Die Anzahl der Versicherten pro Arzt wurde allerdings mit der Zeit
gesenkt, weil die Menschen immer häufiger zum Arzt gingen (1913:1350 Versicherte pro
Arzt, 1931: 600, 1955: 500). 1960 hob das Bundesverfassungsgericht diese
Zulassungsbeschränkungen ganz auf. Berufsanfänger erhielten sofort ihre Kassenzulassung
und durften Versicherte kurieren. Das ging nicht auf Kosten ihrer alteingesessenen
Kollegen, da damals das Budget aufgehoben war. Sobald ein Arzt Zeit für seine Patienten
hatte, haben die Versicherten das nach Kräften genutzt. Sie ließen sich mehr behandeln
als vorher. Die zusätzlichen Behandlungen mußten aus den Versicherungsbeiträgen bezahlt
werden. Gesundheitsminister Seehofer hat deswegen 1993 die Zulassungsbeschränkungen
wieder eingeführt. Inzwischen kommt ein Arzt auf 315 Versicherte.
Das Bedürfnis nach Zuwendung und Entlastung hat sich
in den letzten 100 Jahren mehr und mehr aus der Gemeinde, dem Kollegenkreis und der
Nachbarschaft heraus verlagert. Es sind nicht mehr die Vereine, Gewerkschaften und
Kirchengemeinden, die den einzelnen stabilisieren. Statt dessen tun es oft die Ärzte mit
ihrer Medizin. Die Behandlung ist im gleichen Zeitraum massiv technisiert worden,
begünstigt durch die Gebührenordnung. Viele Menschen sind damit jedoch unzufrieden.
Nach 1968 haben alternative Behandlungsmethoden in
Deutschland einen Aufschwung erlebt. Ganzheitliche Lehren wie Homöopathie, Anthroposophie
oder Naturheilkunde und Therapien wie Akupunktur, Tanztherapie, Psychoanalyse werden auch
von Ärzte angeboten. Sie bedrohen die bürokratische Pseudo-Objektivität des
Medizinapparates. Obwohl diese Behandlungen bei vielen Patienten wirksamer sind als die
Schulmedizin, werden sie durch Vergütungsregelungen, Standards und Kontrollen
unterdrückt (vgl. Kiene 1994).
Zulassungsbeschränkungen und Budgets sind Vorboten
der Kontrolle und Rationierung der Behandlungen. Das gilt 1995 genauso, wie es 1892 und
1931 galt. Inzwischen sind die Bürokratien nur mächtiger geworden, ihre Kontrollmethoden
haben sich verfeinert. Arzt und Patient werden mit Computern, Chipkarten und Datennetzen
an die Apparate der Verbände, der Kassen und der Wissenschaft angeschlossen. Die
tayloristische Organisation der Behandlungen bringt völlig neue Möglichkeiten der
Kontrolle und Lenkung. Die Gesundheitsbürokratie, die Tausende von Menschen beschäftigt
und 13 Milliarden Mark jährlich kostet, will mitbehandeln.
Offen ist, wer die Kontrolle ausüben wird. Nach
Ansicht der Ärzteverbände soll es bei ihrer eigenen Kontrolle der Behandlungen bleiben.
Die Krankenkassen wollen mitreden. Die Ortskrankenkassen schlagen vor, die Konkurrenz
zwischen den Ärzte ausnutzen. Sie möchten mit einigen Allgemeinärzten besondere
Verträge schließen, die eine intensivere Kontrolle vorsehen. Wenn die Versicherten sich
nur dort behandeln lassen, sollen sie einen geringeren Beitrag zahlen. Auch das hatten wir
schon einmal.
Die Studentenbewegung seit 68 brachte dem Land eine
Bewegung für gesundheitliche Selbsthilfe. Patientengruppen, Behindertenverbände,
Gesundheitsläden und Frauen-Therapiezentren wurden gegründet. Sie stellen die erstarrten
Strukturen in Frage. Aber sie bleiben beschränkt auf ein Publikum, das intensiveren
Kontakt zur Medizin hat. Parteien und Institutionen nehmen die Bürokratisierung und
Entfremdung im Gesundheitswesen hin. Eine Trendwende, weg von der Bürokratisierung der
Gesundheit, ist nicht in Sicht. In den vergangenen 40 Jahren ist die ärztliche
Gebührenordnung das wesentliche Mittel dieser Bürokratisierung gewesen. Darum geht es im
nächsten Kapitel.