Ute Bertrand:  

Maschine Mensch - Leibbilder technisierter Medizin

 

Die Wurzeln des Maschinenbildes

Von der Körpermaschine zum Informationsmuster

Ein Mann ohne Makel ziert jede Krankenversichertenkarte. Die berühmte Proportionsstudie Leonardo da Vincis erinnert daran, daß die Chipkarte nicht bloß ein Verwaltungsinstrument ist. Sie öffnet uns die Augen dafür, welcher Mensch gemeint ist, der, wie die Kassen versichern, in unserem Gesundheitswesen stets im Mittelpunkt steht. Mit den Augen und Instrumenten eines Mathematikers rückte Leonardo dem Menschen zuleibe, um ihn zu vermessen und seine Proportionen zu berechnen - genauso wie es Baumeister damals mit Gebäuden taten:

“Wenn du die Arme so weit spreizt, daß Du um ein Vierzehntel deiner Höhe abnimmst, und wenn Du dann Deine Arme ausbreitest und hebst, bis du die Scheitellinie des Kopfs mit deinen Mittelfingern berührst, so mußt du wissen, daß der Mittelpunkt des Kreises, der durch die Enden der gestreckten Glieder gebildet wird, der Nabel ist und daß der Zwischenraum zwischen den Beinen ein gleichseitiges Dreieck bildet. Die Spanne der ausgebreiteten Arme des Menschen ist gleich seiner Höhe. Der Abstand vom Haaransatz bis zum Rand des Unterkinns ist ein Zehntel der Größe des Menschen, der vom unteren Rand des Kinns bis zum Scheitel des Kopfes ein Sechstel, der vom oberen Rand der Brust bis zum Haaransatz ist ein Siebentel des ganzen Menschen, der von den Brustwarzen bis zum Scheitel des Kopfes ist ein Viertel des Menschen.”

Leonardos anatomische Zeichnungen gelten als Symbol für die Abkehr vom dunklen Mittelalter und die Zuwendung zum strahlenden Licht der modernen Wissenschaft. Die Renaissance sei die Zeit der Entdeckung des Menschen durch den Menschen, heißt es heute; und gemeint ist damit die Entdeckung des Menschen als Objekt moderner wissenschaftlicher Forschung. Im Mittelalter noch waren Glaube und Erkenntnis eins. Im 15. Jahrhundert löste sich die Wissenschaft von der Religion und beanspruchte, wahre Aussagen über den Menschen zu machen. Krankheit und Gesundheit - bis dahin Ausdruck sündigen oder gottgefälligen Verhaltens - konnten jetzt wissenschaftlich untersucht werden. Zu Zeiten Leonardos formierte sich der neuzeitliche, ärztliche Blick, der uns so unabänderlich und natürlich erscheint. Dieser vermessende Blick konstruiert den berechenbaren Normkörper.

Aber sind Blick und Leibbilder - dazu noch solche aus der historischen Mottenkiste - tatsächlich von entscheidender Bedeutung dafür, wie Menschen heute behandelt werden? Ist nicht viel wichtiger, daß Pharmaunternehmen ihre Medikamente verkaufen, Ärzte eine reibungslose Krankenabfertigung organisieren, Bürokratien sich selbst erhalten und Politiker an der Macht bleiben wollen? Sicher, aber die Leibbilder sind Teil dieser Strukturen, sie schreiben sich darin ein - und nicht zuletzt auch in unsere Köpfe. Warum vertrauen wir denn darauf, daß schon alles seine Richtigkeit haben wird, wie wir behandelt und verwaltet werden? Warum sind wir davon überzeugt, daß Meßwertreihen, Immunparameter und genetische Analysen etwas über das persönliche Befinden aussagen? Daß es im eigenen Innern so aussieht, wie es das Bild aus dem Computertomographen zeigt? Warum halten wir unsere Ärzte für fortschrittlicher als Bader und Schamanen und glauben ihren Beschreibungen unseres Körpers? Überzeugt uns der Erfolg der High-Tech-Medizin?

Der Erfolg der Medizin könne ihre hohe Wertschätzung nicht begründen, urteilt der ehemalige Vorsitzende des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen, Michael Arnold. Denn die “heutige hohe durchschnittliche Gesundheitlichkeit der Bevölkerung und die hohe Lebenserwartung [verdankten wir, d. Verf.] nicht in erster Linie den Spitzenleistungen der Medizin, sondern der besseren Ernährung, besseren Wohnverhältnissen, einem höheren Hygienestand und Bildungsniveau sowie einer größeren Sicherheit bei der Lebensführung”. Der Glaube an die Medizin aber gäbe “Hoffnung und Trost im Falle eigenen Betroffenseins durch Krankheit”. “Die Vermittlung dieser Hoffnung und die Gewährung von Trost und Hilfe angesichts des Todes können als Teil der Sozialfunktion der Medizin aufgefaßt werden, die sie nach historischer Erfahrung weitgehend unabhängig von ihrem objektiven Leistungsvermögen ausübt. Mit der Medizin steht dem einzelnen und der Gesellschaft eine Möglichkeit zur Verfügung, in rationaler Weise mit Krankheit und Tod fertig zu werden.” (Arnold 1993, 191)

Brauchen wir die Medizin etwa als Placebo? Wollen wir unsere Selbstwahrnehmung jeder technischen Neuerung anpassen? Und wie reagieren wir dann auf die tiefen Irritationen, die gerade die Erfolge der High-Tech-Medizin auslösen? Wenn etwa in Erlangen eine Frau von Medizinern erst als Leiche für die Organspende definiert wird, dann aber wieder als Schwangere, die am Leben erhalten werden soll, damit sie ihr Baby austragen kann.

Indem Menschen sich selbst so sehen, wie die Schulmedizin sie sehen will, öffnen sie sich der Medizintechnik. Die Beschäftigung mit historischen Körperbildern ermöglicht es, kritische Distanz zum aktuellen Geschehen zu gewinnen und Befremden zu entwickeln gegenüber den Zuschreibungen, die ein hochtechnisiertes Gesundheitswesen heute vornimmt. Diese Zuschreibungen sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen entscheidend geworden - weit über die medizinische Versorgung hinaus. Ob es um Schul-, Berufs- und Arbeitsplatzwahl geht, um Arbeitsunfähigkeit, Tauglichkeit als Soldat oder Schuldfähigkeit bei Gericht - wie selbstverständlich sind Mediziner maßgeblich an den Entscheidungen und Selektionen beteiligt. Sie sind zu “Sachwaltern der Körperlichkeit” (Labisch 1989, 32) geworden, die durch ihr Handeln unmittelbar mitbestimmen, was Leben und Tod bedeuten. Heute beginnt das Leben von nahezu jedem Menschen in Deutschland im Krankenhaus, um 1900 war es nur 1 Prozent. 1900 starben 10 Prozent im Spital, 1980 waren es schon 80 Prozent. (Schipperges 1990, 187) Für jede Lebensphase - von der Geburt im Kreißsaal bis zum Sterben auf der Intensivstation - gibt es entsprechend spezialisierte Professionelle. Die zuständigen Institutionen der “medikalisierten Gesellschaft” (Illich 1977, 93 ff.) verbreiten Vorgaben, wie geboren, gesund gelebt, wie gestorben wird und beeinflussen damit, wie Menschen sich und andere wahrnehmen.

Wir wollen zeigen, daß solche Leibbilder gemacht sind und um so stärker ihre Wirkung enfalten, je selbstverständlicher und alternativloser alle an sie glauben. Unser Ziel ist es nicht, die Schulmedizin zu verdammen oder Ärzte persönlich anzugreifen. Vielmehr geht es darum zu erkennen, wie Leibbilder, Technik und Bürokratie ineinandergreifen und Menschen sich dadurch kontrollieren lassen.

Die Medizin braucht glaubwürdige Modelle, um ihr Eingreifen zu legitimieren, und sie hat diese Modelle immer gehabt. Blättert man im Leibbilderbuch der Medizin, stellt man fest, daß die abendländische wissenschaftliche Medizin den Menschen stets so beschrieben und behandelt hat, daß er ihr möglichst wenig in die Quere kommen konnte. Es ist der Blick der Distanz, der Menschen begutachtet, ohne sie selbst zu Rate ziehen zu müssen; ein inspizierender Blick, der den Körper eines Menschen untersucht wie eine Sache. Und da Körper wie Sachen nicht lügen können, versteht es der Arzt, sich das richtige, objektive Bild von dem Inspizierten zu machen. Diese medizinische Sichtweise kristallisiert seit Jahrhunderten in einem Bild: im Bild vom Menschen als Maschine. Es zieht sich in Variationen wie ein roter Faden durch die offizielle Medizingeschichtsschreibung, ausgedacht und reproduziert von Männern, die in ihrem Körperinneren - ebenso wie in dem von Frauen - die gleichen Funktionsweisen zu entdecken glauben wie in den Maschinen, die sie gerade besonders faszinieren. Waren es zunächst einfache mechanische Maschinen, rücken mit der Industrialisierung energiegetriebene Kraftmaschinen in den Vordergrund. Heute ergänzt die Informatisierung des Leibes die Industrialisierung der Hand- und Kopfarbeit. Computer werden zur Interpretation und Manipulation des Lebendigen herangezogen.

Wenn die Schulmedizin allen Anfeindungen trotzt und sich als Religion unserer Zeit bezeichnen darf, dann hängt das damit zusammen, daß es ihr über Jahrhunderte gelungen ist, ihre Sicht der “Maschine Mensch” immer wieder dem Stand von Wissenschaft und Technik anzupassen, ihn in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern und dagegen andere Vorstellungen vom Menschen als vor- und irrational, primitiv und metaphysisch abzukanzeln. 

 

Die Wurzeln des Maschinenbildes

Für Leonardo waren die Sehnen des Menschen “mechanische Instrumente” und das Herz ein “wunderbares Werkzeug, erfunden vom größten Meister”. Borelli verglich die “Verrichtungen” in Lebewesen mit Waage, Hebel, Winde, Keil und Schraube. Descartes sah im Blutkreislauf eine hydraulische Orgel, wo die Blasebälge die Lebensgeister durch die Röhrenanlagen pumpen und dampfen lassen. “Und damit man zu Anfang eine allgemeine Vorstellung von der ganzen Maschine bekomme, die ich zu beschreiben habe, möchte ich hier vorausschicken, daß es die Hitze ist, die sie im Herzen besitzt, die die große Triebkraft und das Prinzip aller in ihr stattfindenden Bewegungen ist. Die Venen sind die Röhren, die das Blut von allen Teilen des Körpers zu diesem Herzen hinführen, wo es zur Nahrung für die dortige Wärme dient. Auch der Magen und die Därme sind eine solche große Röhre.” (Descartes 1632, zit. n. Rothschuh 1969, 141)

Descartes konnte Menschen wie Maschinen beschreiben, weil er sie per Definition in Körper und Geist aufspaltete. Damit legte er den Grundstein für eine Schulmedizin, die sich seitdem den Vorwurf gefallen lassen muß, in eine seelenlose Apparatemedizin und eine körperlose Seelenmedizin zersplittert zu sein. So wie bei einer Uhr die Bewegungen von der Anordnung der Gewichte und Räder abhinge, meinte Descartes, sei auch das Funktionieren des menschlichen Körpers von der Lage seiner Bestandteile zueinander bestimmt. Der Mensch ist nur ein Rädchen im großen Uhrwerk des Weltgeschehens; sein Leben verläuft in voraussagbaren Bahnen, determiniert von klaren Ursache-Wirkung-Zusammenhängen. Um die Welt der Körper zu erschließen, schlußfolgert er, sei deshalb eine Wissenschaft, eine Methodik vonnöten. Schulmedizin und reduktionistische Naturwissenschaft reichen einander die Hände. Das Ergebnis ist die “Maschine Mensch”, die nicht lebt, sondern funktioniert.

Die wissenschaftliche Demontage des Leibes kam der Medizin gerade recht. Ein von Religion, Magie und Metaphysik bereinigter seelenloser Körper lag nun auf dem Untersuchungstisch der Medizin, der weiteren Ausforschung stand nichts mehr im Wege. Medizin konnte ab sofort als Physik des menschlichen Körpers begriffen werden, als experimentelle Wissenschaft, die die Natur des Menschen - in der Tradition von Francis Bacon - auf die Folter spannen konnte, um ihr eindeutige, allgemeingültige Antworten abzupressen. Ein weiter Horizont technischer Möglichkeiten tat sich auf: Denkbar war, das künftige Verhalten dieser “Maschine Mensch” vorauszuberechnen, Bauteile auszutauschen oder nachzubauen oder die Maschine zu optimieren. Endlich ließ sich die These vom konstruierbaren Menschen wissenschaftlich unterfüttern. Für die Medizin war damit die Perspektive realistisch geworden, ganz Naturwissenschaft und gestaltende Biotechnik zu werden. 

 

Von der Säftelehre zu Anatomie und Gewebelehre

Natürlich gab es zu allen Zeiten und in allen Kulturen nicht bloß dieses eine Bild vom Menschen. So einflußreich und dominant wie heute ist das professionalisierte und technisierte Gesundheitswesen wohl nie gewesen. Bis hinein ins 19. Jahrhundert hatten die meisten Menschen ohnehin keine Chance, einen akademisch gebildeten Arzt zu Gesicht zu bekommen. Sie wendeten sich in ihrer Not schon eher an Priester und heilkundige Frauen, an Barbiere und Wundärzte oder versuchten, sich selbst zu kurieren.

Von der Vielfalt der Leibbilder, die außerhalb der offiziellen Lehre, etwa in der Volksmedizin, Naturheilkunde und Anthroposophie existieren, ist in den renommierten Medizingeschichtsbüchern wenig zu lesen. Sie werden ausgeblendet, so daß der Eindruck eines gradlinigen, von großen Männern vorangetriebenen Fortschritts der Medizin entsteht - hin zu einem immer besseren Verständnis des Menschen und einer immer ausgeklügelteren Herrschaft über Leben und Tod. Leonardo da Vincis Bild vom vermessenen Leib tragen wir im Kopf und auf der Krankenversichertenkarte, es unterstützt die Stilisierung des stetigen Aufwärtstrends der Medizin. Diese aufstrebende Fortschrittslinie führt von der Säftelehre, die seit der Antike bis hinein ins Mittelalter die Köpfe der Gelehrten beherrscht hatte, zum Studium des Körperbaus und der Gewebe.

In der Tradition von Hippokrates und Galen, beide Ärzte der Antike, konzentrierte sich die akademische Medizin auf die Säfte, die den Menschen durchströmten. “Der Körper eines Menschen hat in sich Blut und Schleim, gelbe und schwarze Galle, und das ist die Natur seines Körpers und dadurch hat er Schmerzen und ist gesund.” (Corpus Hippocraticum, Von der Natur des Menschen, zit. n. Frank 1989, 51) Waren die Säfte richtig gemischt, galt jemand als gesund; eine falsche Mischung bedeutete Krankheit. Die Bestimmung des Krankheitsortes war also nicht wesentlich. Krankheit hatte keinen festgelegten, bestimmbaren Ort im Körper - so wie der Defekt in der Körpermaschine. Deshalb machte es auch keinen Sinn, den Menschen zu zergliedern. “Wer krank ist, ist als ganzer Mensch krank; es ist unnütz, besondere Einzelkrankheiten abzugrenzen”, befand Hippokrates. (Lüth 1986, 34) Körperteile-Spezialisten, wie sie die Körpermaschinen-Medizin erfordert, wären damals wohl jedem unsinnig vorgekommen. Mit der Gewebelehre bekam die Krankheit dann einen Ort im Körper zugeteilt. Immer kleinteiliger wurde in der Folgezeit die innere Landkarte vermessen: von den, mit menschlichen Sinnen noch wahrnehmbaren, Geweben über die einzelnen Zellen der Virchow_schen Zellularpathologie bis hinein in den Zellkern und die Erbmoleküle. 

 

Die Bestätigung des Maschinenbildes im Zirkelschluß

Theoretische Konzepte, wie die Zwei-Substanzenlehre von Descartes und die mechanistische und reduktionistische Deutung des Lebendigen, strukturieren die Wahrnehmungsweisen einer Medizin, die Naturwissenschaft sein will und Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften unmittelbar am Menschen anwendet. Durch Experimente am menschlichen Objekt kann die Medizin den Glauben an die Existenz der “Maschine Mensch” bestärken.

Da verwundert es nicht, daß die Erschütterung des herrschenden Dogmas von der Säftelehre vor allem aus der Anatomie kam, die heute als erste richtige Naturwissenschaft überhaupt angesehen wird. Anatomie heißt soviel wie Lehre vom Auseinanderschneiden und Zergliedern. Und davon machten die viel gerühmten Gelehrten reichlich Gebrauch. Die Sektion von Toten bildet die Grundlage des schulmedizinischen Wissens über den menschlichen Körper.

Bevor die Anatomen der Renaissance ans Werk gehen konnten, mußten sie sich über Tabus und Verbote von Kirche und Staat hinwegsetzen. Obduktionen hatten jahrhundertelang als Ungeheuerlichkeit gegolten. Michelangelo soll sich nachts heimlich in die Leichenhalle geschlichen haben, um bei flackerndem Kerzenschein die Körper von Bettlern aufzuschneiden, auf die niemand Anspruch erhob. Allein Leonardo häutete und zergliederte mehr als zehn Leichen. (Math‚ 1978, 22) Ebenso tat es Vesal. Sein Werk “Vom Bau des menschlichen Körpers” (1543) gilt als Klassiker; Bilder daraus finden sich heute in zahlreichen Anatomie-Lehrbüchern. Der historische Holzschnitt auf dem Titelblatt zeigt den Verfasser, damals Lektor für Chirurgie an der Universität Padua. Den Zeigefinder erhoben, steht Vesal am Seziertisch vor dem aufgeschnittenen Bauch einer nackten, toten Frau. Er doziert und seziert wie auf einer Theaterbühne, umringt vom drängelnden, gaffenden Publikum. Unter dem Seziertisch streiten sich zwei Kerle um das Sektionsgeschirr. Tiere springen durch den Raum. Von Ehrfurcht vor der Würde der Toten keine Spur. Eine “Anweisung zum kunstgerechten Sezieren toter und lebendiger Körper”, schreibt Vesal in seinem Vorwort, wolle er mit seinen sieben Büchern liefern, so anschaulich und reich bebildert, “daß sie denen, die sich um die Werke der Natur bemühen, gleichsam einen sezierten Körper vor Augen halten”. (Herrlinger 1967, 105)

Mit Skalpell und Zeichenstift untersuchten gelehrte Männer das stumme Objekt, das keinen Widerstand mehr leisten, mit dem man alles machen konnte. So beruht das Wissen über das Lebendige auf Studien des Toten. Bis heute funktioniert der Zirkelschluß: Erst behauptet man, der menschliche Leib sei eine seelenlose Maschine; sodann untersucht man einen seelenlosen, toten Körper und bestätigt die eigenen Vorannahmen. Stets wurde kritisiert, Erkenntnisse, die man durch Sektionen von Tieren, beispielsweise von Schweinen, gewonnen hatte, auf den Menschen zu übertragen; Rückschlüsse vom Toten auf das Lebendige wurden dagegen kaum problematisiert.

Heute hat jeder Medizinstudent bereits bei seinem ersten Präparierkurs eine klare Vorstellung davon, was er sehen soll. Der Mensch ist sauber zerteilt: in Verdauungs-, Kreislauf-, Atem- und Harnaparat, in Organ- und Steuerungssysteme sowie Sinnesorgane. Sämtliche Fragmente lassen sich wiederum aufspalten bis in Zellen, Zellorganellen, Moleküle. Alles hat seinen Platz und seinen Namen. Geordnete Friedhofsruhe in jedem Körper.

Schaut man sich in Anatomie-Büchern Fotos von Leichen mit geöffneter Bauchdecke an, kann man ahnen, wie schwierig es gewesen sein muß, etwas zu erkennen, wenn einem noch keiner sagen konnte, was man sehen sollte. Lage und Form der Organe und die Existenz des Blutkreislaufes, die uns heute als selbstverständliche, einfache und unumstößliche Wahrheiten gelten, waren zu Zeiten Leonardos schlicht unbekannt. Das Auge war im Vermessen der inneren Landkarte nicht geschult. Erst im 15. Jahrhundert entwickelte sich ein klares Verständnis der Zentralperspektive. Dieses geometrische, investigative Sehen konstruiert die Proportionen des äußeren Körpers ebenso wie die Strukturen des Körperinneren. Ein Gittergerüst von Linien durchzieht das Gewirr der Gewebe. Es erlaubt, jeden Punkt im Körper exakt zu verorten und auf diese Weise eine innere Topologie zu erstellen.

Alle bildgebenden Verfahren, alle Techniken zur Durchleuchtung, Sichtbarmachung und Veröffentlichung des Leibesinneren, basieren auf diesem Prinzip der Kontrolle, was sich an welchem Punkt befindet. Einmal an die geometrische Sehweise gewöhnt, hat sich der ärztliche Blick mit immer neuen Instrumenten bewaffnet, um dem Feind im Körperinneren auf die Spur zu kommen, ihn im Körperdunkel aufzuspüren, ans Licht der Öffentlichkeit zu holen und wirksam zu bekämpfen. Zu diagnostischen Zwecken setzt man Körper Röntgenstrahlen, Ultraschallwellen und Magnetfeldern aus und schiebt Spiegel ins Körperinnere. Mediziner schicken neben winzigen Werkzeugen Sonden und Kameras in die Leibeshöhle, um minimal-invasiv “durchs Schlüsselloch” zu operieren. Schwangere Frauen unterziehen sich einer intensiven technischen Überwachung.

Untersuchungen, in den Mutterschaftsrichtlinien vorgeschrieben, machen das Ungeborene im “fötalen Umfeld” sichtbar und stülpen Verständnis und Erleben der Schwangerschaft um. Im Zentralklinikum Augsburg können Geburten bereits vorab am Bildschirm simuliert werden. Als Modell für die Rechner-Geburt dienten Computer-Crash-Tests von Autos. Sie seien, so Klinikdirektor und Ideengeber Arthur Wischnik, auch nichts anderes als die “relative Bewegung zweier Festkörper unter wechselseitiger Verformung”. (Vorpahl 1994, 6) Die Welt der Technik dient so auf zweierlei Weise der Formierung des ärztlichen Blicks: theoretisch als Interpretationsvorlage und praktisch als Prothese zur Optimierung der menschlichen Sehleistung. In diesem Sinne sind bildgebende Verfahren auch leibbildgebende Verfahren. 

 

Die statistische Konstruktion eines Durchschnittskörpers

Der bisher beschriebene Blick focussiert den einzelnen Körper. Zur Konstruktion eines Normkörpers sind aber Untersuchungen einer großen Zahl von Menschen notwendig, um den Durchschnitt zu berechnen und einen Blick dafür zu gewinnen, was die Norm sein soll. Bis zum Aufkommen der modernen, verweltlichten Spitalsmedizin zur Zeit der Aufklärung gab es dazu wenig Gelegenheit. Ärzte hatten in der Regel nur wenige Patienten, von denen jeder anders war als der andere; die Vielfalt überwog, ein abstrakter Blick für die Norm ließ sich schwerlich an ihnen schulen. Die Spitäler wurden zumeist von Ordensgemeinschaften geführt, bei denen die Kranken wohl Barmherzigkeit und Pflege zu erwarten hatten - nicht jedoch wissenschaftliches Interesse an ihrer Krankheit.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich das. Große Krankenanstalten entstanden, wie 1784 das Allgemeine Krankenhaus in Wien. In Paris wurde die “Gesundheitsschule” gegründet, das erste große europäische Zentrum der klinisch orientierten Medizin (Jetter 1986, 152). Dort konnten Forschung und Heilung unmittelbar ineinandergreifen, standen den Ärzten doch “Krankengut” sowie Leichen in großer Zahl zur Verfügung. Die “Geburt der Klinik” (Foucault 1988) war eine Voraussetzung dafür, daß Verfahren entwickelt wurden, um die Gesundheit der Bevölkerung, dieses “Körpers mit unzähligen Köpfen” (Foucault 1993, 63), abzubilden. Einen Ausweg aus dem Dilemma, allgemeingültige Aussagen über Individuen zu treffen, wies die Statistik. Sie lenkte den Blick weg vom Individuum hin zur Gruppe, weg von der persönlichen Erfahrung hin zur anonymen Abstraktion.

Mit der Industrialisierung wird die Mehrheit der Menschen zum Potential von Arbeits- und Reproduktionskräften, zum Humankapital, das es optimal zu bewirtschaften gilt. Die Medizin rückt in den Alltag vor - gestützt von einer Hygienebewegung, die die Vorstellung von Gesundheit als höchstem Gut populär macht. Eine neue Machttechnik, so Foucault, tauche auf, die anders sei als die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ausgeübte “Anatomo-Politik” des Körpers: die “Bio-Politik”. “Diesseits also dieser großen, absoluten, dramatischen, finsteren Macht, die die Macht des Souveräns war, taucht nun mit dieser Bio-Macht, dieser Machttechnologie über die Bevölkerung als solcher, über den Menschen als Lebewesen eine fortdauernde, wissende Macht auf: die Macht, leben zu machen. Die Souveränität machte sterben und ließ leben. Nun erscheint eine Macht, die ich Regulierung nennen würde, die im Gegensatz dazu darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen.” (Foucault 1993, 63) 

 

Von der Körpermaschine zum Informationsmuster

Ein Wandel vollzieht sich: von der Disziplinierung und der Dressur einzelner Körpern, vom Aussondern und Einschließen in Krankenanstalten hin zur wissenden, “intelligenten” Regulierung der Bevölkerungsgesundheit. Eine Gesellschaft, die Politiker und Wissenschaftler zur Informationsgesellschaft erkoren haben, verkauft diesen Wandel als Befreiung. Information gilt als Schlüssel zu Freiheit, Gleichheit und Demokratie.

Der Gesundheitssektor macht dabei keine Ausnahme. Große Hoffnungen werden mit der Informatisierung verknüpft: Mündigkeit und Selbstbestimmung, Ganzheitlichkeit, Vernetzung und Integration lauten die sympathischen neuen Vokabeln, die die Kritik an der Schulmedizin aufgreifen, um für die Computerisierung zu werben. Gelingt damit der Einstieg in den Ausstieg aus der Körpermaschinenmedizin? Nimmt die Medizin nun den ganzen Menschen in den Blick? Wird sie endlich menschlicher?

Schaut man unter die neuen sprachlichen Gewänder, entdeckt man, daß darunter immer noch das alte Leibbild steckt: das Bild vom Menschen als Maschine. Der Vergleich von Mensch und Maschine, das Denken in Produktionsprozessen und ökonomischen Kategorien bleibt, es wird nur modernisiert. Denn sogenannte intelligente, ressourcensparende Technologien bilden die Insignien einer post-industriellen Gesellschaft. Computer sind die aktuelle Interpretationsschablone. So wandelt sich das Leibbild zur Vorstellung vom Menschen als “transklassische Maschine”, als Informationsmuster. (Bertrand 1993, 9 ff.)

Der Informationsbegriff wird als Chance dargestellt, die Kluft zwischen Körper und Geist zu überbrücken und das starre, mechanistische und materialistische Bild vom Menschen abzulösen. Bindestrich-Disziplinen wie die Psychoneuroimmunologie (PNI) treten mit dem Anspruch in die Öffentlichkeit, das dualistische Dogma zu überwinden. Sie entdecken den Menschen als Netzwerk, in dem es zahlreiche Informationsverbindungen zwischen Körper und Geist sowie mit Umweltsystemen gibt. Von Leib und Seele ist dabei keine Rede. Mit naturwissenschaftlichen Methoden, vor allem mit Hilfe der Gentechnik, soll auf molekularer Ebene erforscht werden, wie das Zusammenspiel von Immun-, Hormon- und Nervensystem funktioniert. “Welche Moleküle und welche chemischen Prozesse vermitteln Gefühle an das Immunsystem und umgekehrt?”, fragen die PNI-Experten oder anders formuliert: “Wie kann ein weißes Blutkörperchen erkennen, ob wir glücklich, traurig oder gestreßt sind?” (Miketta 1991, 22) Leben = Materie + Information heißt die neue Formel, mit der methodische Reduktionisten Seele und Lebensgeist berechenbar machen wollen. Die informationelle “vis vitalis” steckt nun in jeder Zelle.

Mit der kybernetischen Brille auf der Nase entdecken Forscher das Funktionieren von Regelkreisen, von informationsverarbeitenden Systemen im menschlichen Körper: Hormon-, Immun- und Nervensystem steuern den Menschen. In jedem Zellkern steckt ein genetisches Programm, das detaillierte Befehle enthält, wie sich der menschliche Körper zu entwickeln hat. Das Gehirn wandelt sich zu einem Supercomputer, den die Evolution erfunden hat. Nervenzellen tauschen Nachrichten untereinander aus. Botenstoffe flitzen durch den Körper, Gene werden abgelesen, kopiert und korrigiert. Die Zell-Fabrik arbeitet nach neuesten Management-Methoden. Von der Zelle bis zum Sozialgefüge der Gesellschaft - überall existieren Systeme, die nur das eine tun: sie organisieren sich selbst, indem sie Informationen verarbeiten.

Information ist das neue Lebens-Elixier. Wird jemand krank, liegt es jetzt daran, daß die Kommunikation nicht richtig klappt. “Lebende Wesen”, heißt es, “reagieren nicht mechanisch auf Einwirkungen, sondern verwandeln sie in Zeichen, die ihnen Nachrichten vermitteln über die Bedeutung der Umgebung für die eigenen Bedürfnisse. Krankheitssymptome lassen sich somit als Störungen der Nachrichtenverbindungen deuten.” (Pflanz 1993, 924) Der Klempner allein kriegt die defekte Maschine nicht mehr in Gang. Ein Bio-Systemanalytiker ist gefragt, der immaterielle, nicht lokalisierbare Fehler im Informationsaustausch findet. Krankheit wird zum Informationsproblem - und damit prinzipiell vermeidbar.

Die Krankheitsursachen aber lassen sich immer schwieriger ausfindig machen. Der einzelne kann die Gefahren nicht mehr überschauen und befürchtet zugleich, daß sie überall lauern können. Sonnenbaden unter dem Ozonloch, Asbest im Kindergarten, Elektrosmog oder genmanipulierte Lebensmittel - angesichts der zivilisatorischen Gefahren versagen die menschlichen Sinne. Deshalb nimmt die Bereitschaft zu, auf Technik zu vertrauen. Körperinformationstechniken, vom Dosimeter-Pflaster zur Messung von UV-Strahlen bis zum Biosensor in der Blutbahn, erlauben das Monitoring daheim. Die Einsicht wächst, die Risiken wohl oder übel persönlich managen zu müssen und sich eigenverantwortlich und selbstbestimmt zu überwachen. Die Fremdkontrolle wird verinnerlicht.  

 

Genetische Codes als Schlüsselinformation

Die Risiken werden in den Menschen hinein verlagert - bis in seine Zellkerne. Gen-Epidemiologie heißt eine Forschungsrichtung, die sich die Aufdeckung genetischer Risikofaktoren zum Ziel gesetzt hat. Mit jedem Gen, das die Wissenschaftler der entsprechenden Großforschungsprojekte in Europa, Japan und den USA, entschlüsseln, gewinnen die Epidemiologen neue Aufgabenfelder. Im genetischen Code fahnden die “Genhacker”, wie sie sich nennen, nach Erbleiden und genetischen Dispositionen, also Empfindlichkeiten für weit verbreitete Krankheiten wie Krebs, Bluthochdruck, Diabetes und Alzheimer. Die Ergebnisse der Studien und Wahrscheinlichkeitsrechnungen sickern in den Alltag; sie begegnen Menschen als diagnostische Urteile in der humangenetischen Beratung, bei der vorgeburtlichen Diagnostik, bei Reihenuntersuchungen von Neugeborenen und beim Arbeitnehmer-Screening.

Mit der Verbreitung der Gentechnik wird die Idee populär, man könne in einem Menschen lesen wie in einem offenen Buch. Heute lernen schon die Kinder in der Schule das Alphabet des Lebens. Es besteht aus den vier Buchstaben A, C, T und G, den Abkürzungen für die verschiedenen Basen des Erbmoleküls. Drei Buchstaben ergeben ein Wort, die Wörter bilden einen Text, und der erhält alle Informationen zum Aufbau von Eiweißen, die ein Mensch braucht. An Blut, Schmerz und Operationen ist nicht zu denken. Bis in den Kern jeder Zelle sind wir durchtränkt von Logik, Abstraktion und Effizienz. Die Bezeichnungen laden dazu ein, Wörter zu korrigieren, den Text zu ändern. Die reduktionistische Gleichung lautet: Gene = Informationen = Schicksal.

Im Verbund mit der Soziobiologie fördert die Genomforschung das molekularbiologistische Credo, das Schicksal eines Menschen ließe sich an seinen genetischen Daten ablesen. Glaubt man den Versprechungen der Gentechniker, sind schon vorgeburtlich Abbilder einer Persönlichkeit möglich. Das Modell des Menschen existiert also, bevor der Modellierte selbst existiert. Prävention kann nun unter Umständen bedeuten, die Geburt eines “fehlerhaften Modells” vorsorglich zu verhindern. Gentests geht immer eine eugenische Bewertung voraus. Man muß definieren, was ein Fehler sein soll. “Genetisch bedingtes Übergewicht” etwa kann so ein Fehler sein. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag befragte 1157 Schwangere, die sich für eine pränatale Diagnostik entschieden hatten. 18,9 % von ihnen antworteten, eine solche genetische Prognose sei für sie ein Grund, vermutlich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. (Büro für Technikfolgenabschätzung 1993, 79) Frauen sind das letzte Glied in der Verantwortungskette. Sie sollen den Ausweg aus einem Dilemma finden, in das sie eine Technologie drängt, auf deren Entwicklung sie keinen Einfluß haben. Gerade wenn der Terror der Normalität stärker wird, mag es individuell als vernünftig erscheinen, eugenisch zu handeln - und damit den Druck auf jene, die von der Norm abweichen, noch zu verstärken.

Auf der Grundlage von Gentests werden Prognosen über die Zukunft eines Menschen getroffen. Das Datenmodell kann zur Richtschnur der Biographie werden, sich verselbständigen und ein Eigenleben entwickeln. Immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens fallen damit in die Zuständigkeit eines Gesundheitssektors, der Informationen über biologische Merkmale eines Menschen erheben und verarbeiten darf. Der Bioethiker Hans-Martin Sass und die Ärztin Rita Kielstein etwa halten es für eine moralische Pflicht, die persönlichen genetischen Risikofaktoren ausforschen zu lassen und “Lebensplanung, Liebe, Freundschaft, Hobby und Beruf” darauf abzustimmen. (Sass/Kielstein 1992, 400) Die Risikoträger sind eingebettet in ein Geflecht medizinischer und paramedizinischer Institutionen, deren Beratungsangebote sie tunlichst in Anspruch nehmen sollten, wenn sie sich als “gesundheitsmündige” Bürger und Bürgerinnen erweisen wollen. Der ganzheitliche Ansatz schlägt um in ganzheitliche Kontrolle.

Die Persönlichkeitsabbilder, auf Chipkarten gespeichert, könnten per Knopfdruck aus den Netzen der Gesundheitsbürokratie auf den Bildschirm geholt und bearbeitet werden. Die Mensch-Maschine-Kommunikation ersetzt das langwierige Erzählen von Krankengeschichten und das ohnehin karge Bemühen um einfühlendes Verstehen. Der Blick auf die Daten lädt dazu ein, sich - am Betroffenen vorbei - ein vermeintlich objektives Bild von jemandem zu machen. Der Abgebildete dagegen hat es schwer, dieses Bild zu korrigieren.

Menschen kommen in der Sprache der Bio-Politik nicht mehr vor. Der Genpool, das Krankheits- oder das Fehlbildungsgeschehen in einer Bevölkerung, heißt es, werde überwacht. “Langfristig ist geplant, die in der BRD bestehende Meldepflicht für angeborene Fehlbildungen durch ein Netz von Überwachungszentren sinnvoll und effektiv zu ersetzen. Das Prinzip einer multizentrischen Überwachung entspräche dem der Überwachung von Luft-, Wasser-, und Bodenqualitäten mittels einer Überwachungsstation pro Bundesland,” heißt es in einer Skizze des “Projekts zur Erfassung angeborener Fehlbildungen bei Neugeborenen”, das seit 1989 an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz läuft. Nicht Frauen und Kinder, Gene sind anscheinend Objekte der Kontrolle; biologische Ressourcen, vergleichbar mit Luft, Wasser und Boden. Für einen Mediziner, der aus dieser Vogelperspektive schaut, kann es höhere Ziele geben als die Heilung des Patienten, der ihm gerade gegenüber sitzt - beipielsweise die Rate der Herzinfarkte in einem Stadtteil zu senken. Therapien können künftig in der Keimbahn ansetzen und Menschen, gar Generationen heilen wollen, die noch gar nicht existieren. Der Patient ist nichts, seine Informationen sind alles.

Das Subjekt schwindet. Die systemische Sichtweise erübrigt es, zwischen biologischen und technischen Informationsverarbeitungssystemen zu unterscheiden. Der französische Wissenschaftler und Regierungsberater Jacques Attali unterscheidet drei Phasen, in denen die Vorstellung vom Lebenden von der Metapher der Maschine zu der des Codes übergeht. Zu Beginn steht die “Geburt einer Kopie”, eines Idealbildes, das ein weltweit gültiges Modell eines Durchschnittslebens abgibt. Da man kontrollieren will, ob man mit diesem Bild übereinstimmt, braucht man “Spiegel des Körpers”. “Mit Hilfe dieser informatischen und genetischen Normierungsgeräte überwacht ein jeder seine Anpassung selbst und denunziert selbst seine Abweichung. Es entsteht das Bewußtsein eines neuen Übels: Prädisposition zur Krankheit, das Profil eines kostspieligen Lebens, Anormalität, Abweichung von der Kopie.” Da Menschen immer vom Idealbild abweichen werden, kommen konsumierbare Techniken zur Körper-Optimierung ins Angebot: “Organ- oder Gliederprothesen, Körperimitationen, immer perfektere künstliche Abbilder bis hin zur Produktion genetischer Duplikate eines Lebewesens”. (Attali 1981, 226)

Leben ist ein Gut, das es optimal zu verwalten gilt. Informationstechniken bieten sich an, die kostbaren biologischen Ressourcen ebenso wie die verknappten medizinischen Leistungen zu verteilen und somit den Sachzwang zu organisieren. Chipkarten werden dabei als Rationierungsinstrumente dienen. Sie ersetzen den Kontakt mit einem Menschen durch Kommunikation mit der Maschine. Gerade diese Kontrolle ohne Kontrolleure, anonym und unsichtbar, läßt Protest ins Leere laufen. Die Arbeitsteilung funktioniert: Techniker stellen die Instrumente zur Verteilung bereit; Gesundheitsökonomen berechnen, wer was bekommen soll und Bioethiker führen aller Öffentlichkeit vor, daß die vorgenommene Verteilung nach Kosten-/Nutzenkriterien ein Maximum an Glück produziert.

Eine informatisierte Gesundheitsbürokratie setzt auf ein feines Instrumentarium, mit dem sie regulierend in das Leben jedes einzelnen eingreifen und immer differenziertere, individuell abgestimmte Vorgaben machen kann, wie gelebt werden soll. Leibbilder integrieren die verschiedenen Beteiligten im Gesundheitswesen, indem sie sie auf ein gemeinsames Ziel hin orientieren. Ist ein Leibbild in Bürokratie und Technik gegossen und erstarrt, wirkt es wie eine Verhaltensanweisung - und verdrängt andere Sichtweisen auf den Menschen. Das Maschinenmodell ist ein solches Korsett. Es erleichtert, Menschen zu verwalten, einen Wahrheitsanspruch aber kann es nicht erheben.