Ute Bertrand: Eigensinnige Weibsbilder
... laß Dir nichts einreden, sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt, weißt Du nicht. Prüfe die Rechnung, du mußt sie
bezahlen. (Bertold Brecht)
Der Bundesgesundheitsminister rief 1994 zum
Ideenwettbewerb auf, um unser Gesundheitswesen für das neue Jahrtausend flottzukriegen.
Ärztefunktionäre, Krankenkassen, Apothekerverbände und Techniker zerbrachen sich ihre
Köpfe und polierten zum Teil uralte Ideen auf Hochglanz, um sich im Wettstreit der
Akteure vorteilhaft zu positionieren. Große Entwürfe empfahlen sich für grundlegende
Reformen. Chipkarten sollen uns die gerechte und effiziente Gesellschaft
bringen, Shared Care soll das Behandlungsparadigma des 21. Jahrhunderts werden. Der
Minister vergaß derweil, diejenigen nach ihren Wünschen zu befragen, die das Ganze
finanzieren sollen und für die das ganze Spektakel eigentlich veranstaltet wurde: Die
Patienten, die Versicherten und die Gesundheitsarbeiter.
Daß langsam ein Umdenkprozeß stattfindet, belegt
der 1995 erstmalig von der AOK Berlin und der Berliner Ärztekammer initiierte,
hochdotierte Berliner Gesundheitspreis - Ein Ideenwettbewerb, in dem Patienten
und Gesundheitsarbeiter konstruktive Vorschläge für ein anderes Gesundheitswesen machen
sollen. Das Problem wird hier sein, daß fertige Projektbeschreibungen eingereicht werden
sollen. Diese Konzepte müssen aber erst einmal erarbeitet sein - welche Patient hat die
schon fertig in der Schublade liegen? Insgesamt weist diese Initiative aber in die
richtige Richtung. Die Bürger können sich aber auch ohne Leistungsdruck, auf eigene
Initiative, zu Wort melden und Ideen und Visionen bezüglich ihres Gesundheitswesens
entwickeln. Diesen Prozeß wollen wir mit diesem Buch anregen. Unser große Traum ist es,
daß die Bürger in naher Zukunft ihre Geschicke selber in ihre Hände nehmen und
beginnen, Gesellschaft mitzugestalten. Dabei gibt es viele Ebenen, aktiv zu werden: Das
kann bei der Entwicklung eines eigenen Verständnisses von Krankheit und Gesundheit
beginnen, geht über die Gestaltung des persönlichen Patient-Arzt-Verhältnisses weiter
bis zur direkten Mitbestimmung über die politischen und organisatorischen Grundlagen
unseres Gesundheitswesens.
Wir, die Autoren dieses Buches, wollen hier einige
unserer Träume vorstellen, wie ein bürgerfreundlicheres Gesundheitswesen ausehen
könnte. Es sind zum Teil sehr persönliche Träume, die noch nicht exakt ausformuliert
sind und mehr das Gefühl, daß es auch anders gehen könnte, vermitteln - zum Teil sind
unsere Träume auch schon sehr konkret. Neben unseren Ideen gibt es eine Vielzahl von
Vorschlägen, die von anderen Menschen und Initiativen für ein anderes Gesundheitswesen
entwickelt wurden und werden. Es gilt, diese Ideen im Zusammenhang zu betrachten, denn nur
so ergibt sich jenes farbenfrohe Bild eines patientenorientierten Gesundheitswesens. Jede
und jeder ist aufgerufen, dazu eigene Ideen zu entwickeln und Vorschläge zu machen. Im
Anhang werden Initiativen genannt, an die sich Interessierte wenden können.
Durch die Arbeit an diesem Buch weiß ich jetzt
genauer Bescheid darüber, was passiert, wenn ich zu einer Ärztin gehe. Ich kenne auch
meine Rechte genauer, würde mich also eher trauen, hartnäckig nachzufragen, würde
darauf bestehen, daß ich Einsicht in meine Krankenunterlagen bekomme oder zu einer
anderen Ärztin gehen, wenn ich einer nicht mehr traue. Vielleicht würde ich auch eine
Freundin mitnehmen, wenn ich mich selbst gerade nicht so durchsetzungsstark fühle. Doch
das ist nur ein sehr bescheidener Anfang, von unten, vom schwächsten Glied in der Kette
aus, Strukturen zu verändern.
Am liebsten wäre es mir, wenn ich selbst solche
Unterstützung außerhalb des Gesundheitswesens organisieren könnte, daß ich im
Krankheitsfall allenfalls medizinische Service-Leistungen in Anspruch nehmen
müßte, aber nicht auf Verständnis, Vertrauen und Fürsorge von Professionellen
angewiesen wäre. Ein Gesundheitsbetrieb kann ohnehin keinen Ersatz bieten für Menschen,
die sich aus freien Stücken um mich kümmern; schon gar nicht, wenn er so organisiert
ist, daß Ärzte wie Unternehmer wirtschaften müssen. Ich möchte mit Vertrauten
beratschlagen, welche Diagnosen ich einhole und welche Konsequenzen ich daraus ziehe.
Mein Ziel ist es, nicht mehr auf die
Sicherheitsversprechen einer verwissenschaftlichten Medizin und den Glauben an die eine
richtige Behandlung angewiesen zu sein. Obwohl ich noch nie ernstlich krank war, ahne ich,
wie schwer das ist. Denn die eigenen Gewißheiten sind ein schwaches Bollwerk gegen die
Angst vor Krankheit und Tod. Außerdem kann die Medizin drohen: Wenn Sie sich nicht
entsprechend verhalten, kann Schlimmeres passieren, und dafür können wir keine
Verantwortung übernehmen. So wartet hinter jedem eigensinnigen, abweichenden
Verhalten anscheinend ein unkalkulierbares Risiko, schlimmstenfalls der Tod. Um mich nicht
einschüchtern und verunsichern zu lassen, rede ich mit anderen darüber, wie
wissenschaftliche Wahrheiten fabriziert werden, wie sie Eingang finden in die medizinische
Praxis und warum sich die Menschen so und nicht anders verhalten. Das nimmt mir den
Respekt vor der Wissenschaft und einer verwissenschaftlichten Medizin. Was dort ausgedacht
und praktiziert wird, hat ja oft nicht viel mit mir und meinen Wahrnehmungen zu tun.
Trotzdem ist es immer wieder aufs Neue anstrengend, sich den Bildern zu entziehen, die die
wissenschaftliche Medizin samt der neuen biomedizinischen Techniken Menschen auf den Leib
schneidert.
Besonders deutlich ist mir dies daran geworden, wie
sich Vorstellungen von Schwangerschaft und einer verantwortungsvollen
Schwangeren verändert haben. Schwangerschaft ist ein Musterbeispiel dafür, wie Medizin
und Medizintechnik in den Alltag vordringen, das eigene Erleben überformen und mit
Fachvokabular verklausulieren.
Obgleich sich alle einig sind, daß Schwangerschaft
keine Krankheit ist, gehen über 90% aller Schwangeren im ersten Drittel der
Schwangerschaft zum Arzt. Ehe sie sich versehen, bekommen sie dort einen Mutterpaß
ausgehändigt, und der Apparat der Routine-Untersuchungen setzt sich in Gang:
regelmäßige Arzttermine, eine ausführliche Anamnese, einschließlich der Erhebung von
Risikofaktoren, wie psychischer Belastung und wirtschaftlichen Problemen,
Blut-, Urin- und mindestens drei Ultraschalluntersuchungen usw.. Das in den
Mutterschaftsrichtlinien vorgeschriebene Programm wird routinemäßig abgearbeitet,
Datensammlungen werden angelegt. Die Zustimmung der Schwangeren setzen die Ärzte dabei
stillschweigend voraus. Die Krankenkasse zahlt noch 100 DM Belohnung, wenn die junge
Mutter in ihrem Mutterpaß die ärztliche Bestätigung nachweisen kann, daß sie
regelmäßig die Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen sowie die Untersuchungen nach
der Entbindung in Anspruch genommen hat.
Der Automatismus, mit dem zweifelhafte
wissenschaftliche Erkenntnisse in die ärztliche Routine aufgenommen werden, zeigt sich
etwa bei der Ausweitung der vorgeburtlichen Diagnostik. Ärztinnen müssen heute jede
schwangere Frau über 35 auf die Möglichkeit einer vorgeburtlichen genetischen
Untersuchung hinweisen. Ansonsten riskieren sie es, auf Schadensersatz verklagt zu werden,
wenn ein Kind mit einer nach dem Stand von Wissenschaft und Technik
vermeidbaren Behinderung zur Welt kommt. Im Kontext der Arzt-Patientin-Beziehung
wirkt die Information wie eine Empfehlung, an der Untersuchung teilzunehmen. Frauen, die
sich vor ihrem 35. Geburtstag noch sicher gefühlt haben, bekommen jetzt den Eindruck, sie
seien Risikoschwangere. Dabei wird in Fachkreisen offen diskutiert, daß die
undifferenzierte Altersgrenze weniger medizinisch begründet ist als durch Berechnungen,
wie vorhandene Labor-Kapazitäten optimal ausgenutzt werden können. Dennoch, 60-80 % der
Frauen über 35 lassen nach Schätzungen von Humangenetikern heute die Erbanlagen ihres
werdenden Kindes durchchecken. Die massenhaften Untersuchungen schaffen eine neue
Normalität: Sie verwandeln Schwangerschaft in ein überwachungsbedürftiges Risiko. Wer
sich dieser Überwachung entzieht, muß sich Verantwortungslosigkeit gegenüber dem
werdenden Kind vorwerfen lassen.
Die derzeit bestehenden, gut funktionierenden
Kontrollstrukturen laden zu einer Technisierung geradezu ein. Deshalb verwundert es nicht,
daß es mittlerweile auch Projekte zum maschinenlesbaren Mutterpaß gibt. So testet der
Konzern Bayer 1995 optische Chipkarten bei Fachärzten für Gynäkologie in der Region
Leverkusen. Auf solchen Chipkarten lassen sich noch mehr Daten speichern als bisher auf
Papier, etwa Meßwertreihen fötaler Herztöne und Ultraschallbilder. In der
Bundesärztekammer und unter Humangenetikern wird erwogen, Reihenuntersuchungen auf alle
Schwangere, unabhängig vom Alter oder sogar auf alle Frauen, unabhängig von einer
Schwangerschaft auszudehnen. Das ließe die Datenberge weiter anwachsen, so daß eine
digitalisierte Speicherung notwendig wird. Ein immer feineres Datennetz spannt sich um
Schwangere und Neugeborene. Die Frauen werden zur Beurteilung des Schwangerschaftsverlaufs
immer unwichtiger.
Frauen könnten andere Wege einschlagen, um sich
Gewißheit zu verschaffen. Sie könnten selbst entscheiden, welche Ereignisse während der
Schwangerschaft sie wichtig finden und gern aufschreiben wollen, z.B. was sie geträumt
haben und wann sie zum ersten Mal Kindsbewegungen gespürt haben. Sie könnten deutlich
machen, daß sie nicht alles, was als Vorsorge angeboten wird, automatisch
auch in Anspruch nehmen wollen. Ohne Unterstützung ist es nicht einfach, diese
Angebote auszuschlagen.
Seit den siebziger Jahren sind in verschiedenen
Städten Frauengesundheitszentren und Gesundheitsläden entstanden. Sie können Frauen den
Rücken stärken, die von bestimmten Medizintechniken unbehelligt bleiben wollen oder die
ihr Kind zu Hause zur Welt bringen wollen. Frauen können sich an diese Stellen wenden,
sie unterstützen oder selbst Initiativen ins Leben rufen. Wir können uns eigene
Leibbilder ausdenken, eine eigene Kultur beleben, die inkompatibel ist mit den Praktiken
der herrschenden Medizin.
Immer mehr Hebammen machen sich selbständig. Ihre
Kompetenz könnten Frauen viel stärker in Anspruch nehmen und sich dafür einsetzen, daß
ihre Leistungen endlich angemessen vergütet werden. Außerdem müßten GynäkologInnen
verpflichtet werden, sachlich über die Möglichkeiten einer Hausgeburt zu informieren und
darauf hinzuweisen, daß auch eine Hebamme die Vorsorge machen könnte.
Frauen sollten einer Frauenheilkunde das Vertrauen
entziehen, die fest in Männerhand ist. Um Druck auf Ärzte auszuüben, könnten Frauen
eigene Qualitätsmerkmale aufstellen und gezielt bestimmte Ärztinnen weiterempfehlen, die
diese Qualitätsstandards teilen, andere dagegen boykottieren. In einigen Städten gibt es
in Gesundheitsläden und Frauengesundheitszentren die Möglichkeit, sich durch
Erzählungen und Karteien über Ärztinnen in ihrer Stadt zu informieren.
Obwohl Frauen den geringsten Einfluß auf die
Formulierung der Forschungsfragen haben, sind sie es, die letztlich die Folgen der
biomedizinischen Forschung zu spüren bekommen. So bringt die vorgeburtliche Diagnostik
Frauen in das Dilemma zu entscheiden, ob sie ein Kind bekommen oder die Schwangerschaft
abbrechen lassen. Der gesellschaftliche Konflikt, einer eugenischen Auslese und der
Diskriminierung behinderter Menschen wird auf dem Rücken von Frauen ausgetragen. Auch
sind es überwiegend Frauen, die sich um kranke und behinderte Menschen kümmern. Mehr
Frauen in Forschung und Forschungspolitik könnten dazu beitragen, daß Forschungsgelder
umgelenkt werden: weg von der Entwicklung von Risikotechniken hin zu einer Forschung, die
an der Geschichte und der Lebensrealität von Frauen ansetzt und sie mächtiger macht -
anstatt sie zum fötalen Umfeld herabzuwürdigen.
Gerade in einer Zeit, in der sich der Staat
zurückzieht und alles den Selbstregulierungskräften der Verbände und des Marktes
überläßt, haben PatientInnen keine Stimme. Privatpersonen aber werden in der
veröffentlichten Meinung nicht registriert, solange sie sich nicht als direkt Betroffene
ausweisen können. Deshalb sollten sich Gleichgesinnte zusammenschließen.
Als Journalistin würde ich gern dazu beitragen, daß
Menschen, die schon heute gegen die Normen des Gesundheitswesens leben und praktizieren
voneinander erfahren und ihr Wissen öffentlich wird.
In Essen gibt es eine Ärztin, Beate Zimmermann, die
auch Mitglied im Genarchiv ist. Das Genarchiv ist eine Organisation von Frauen, die sich
kritisch mit Gen- und Reproduktionstechnik beschäftigen. Sie haben ein Archiv in Essen
aufgebaut, es gibt dort einen Versammlungsraum, dort hat Beate ihre Praxis.
Beates Medizin ist insofern anders, als sie sich sehr
ausführlich mit ihren Patienten unterhält. Viele von ihnen haben schon einen langen
Leidensweg in Krankenhäusern und bei Ärzten hinter sich und erleben das erste Mal eine
Ärztin, die ihnen hilft. Beate setzt fast keine Medizintechnik ein. Von dem, was die
Krankenkassen für ihre Behandlungen zahlen, kann Beate nicht leben, trotz eines
anspruchslosen Lebensstils. Ihre Patientinnen zahlen ihr deshalb zusätzlich 40 Mark pro
Monat, egal, ob sie gerade in Behandlung sind oder nicht. Dafür behandelt Beate sie, wenn
sie es brauchen. Beate und ihre Patientinnen sind eine Art
Selbstversorgungs-Genossenschaft. Ich finde dieses Modell sehr gut.
1993 waren Ute Bertrand und ich zu einer
Veranstaltung im Genarchiv. Dort haben wir einige von Beates Patientinnen kennengelernt,
Beate selbst war auch da. Was wir über die Krankenkassen und ihre Datenverarbeitung
erzählten, war Wasser auf ihren Mühlen. Denn am liebsten, so erklärten die Patientinnen
uns, würden sie aus der gesetzlichen Krankenkasse austreten. Sie haben keine Lust,
zweimal zu zahlen: Zum einen für die Behandlung, die sie brauchen und die ihnen hilft,
zum anderen für die Krankenkasse. Bei den wirkungslosen und teuren Technik-Behandlungen
der anderen Ärzte hatte die Krankenkasse monatlich das zehnfache von dem ausgegeben, was
Beate braucht. Die Patienten mußten nichts zuzahlen. Jetzt, wo die Behandlung viel
billiger ist und hilft, müssen sie sie selbst bezahlen. Das sehen sie nicht ein. Die
jetzige Krankenversicherung sei eine Umverteilung aus ihren Taschen in die von
High-Tech-Ärzten und Pharma-Konzernen. Und die künftigen Kontrollen würden eine
Behandlung wie die von Beate vollends unmöglich machen.
Damals haben wir noch mit Engelszungen auf das
Publikum eingeredet, in der gesetzlichen Krankenversicherung zu bleiben. Wir sind gegen
Ent-Solidarisierung. Jeder Austritt von Selbständigen und freiwillig Versicherten zwingt
die Krankenkassen, bei ihren verbleibenden Versicherten immer schärfer zu rationieren und
zu kontrollieren. Wir sind für politische Veränderungen, für eine andere
Krankenkassen-Politik. Aber: keine einzige Krankenkasse darf Beate das bißchen Geld
bezahlen, das sie braucht. Es würde nichts nützen, bei den Krankenkassenwahlen eine
eigene Liste aufzustellen und zu gewinnen. Das ganze verrückte Honorar-System ist
gesetzlich vereinheitlicht. Verbesserungen gehen nur für alle Krankenkassen, alle
Versicherten und Ärzte, oder gar nicht. Nur Seehofer und der Bundestag könnten da was
ändern, darauf haben wir nicht gehofft. Man konnte also nichts machen. Unser resignativer
Vorschlag war: drin bleiben, weiter zahlen, es ist das kleinere Übel.
Leider fällt mir die richtige Antwort manchmal erst
hinterher ein. Und die wäre folgendermaßen: Wer sehr wenig verdient, sollte nicht
doppelt zahlen. Diese können beispielsweise aber ihren Job so ändern, daß sie in keiner
Sozialversicherung mehr sind. Also z.B. auf Honorarbasis oder 560-Mark-Jobs. (Von
Arbeitslosenversicherung und Rente hat man bei den niedrigen Einkommen sowieso fast
nichts.) Und dann bezahlen sie nur noch Beate. Und schließen noch eine private
Versicherung ab fürs Krankenhaus. Aber wer genug verdient, sollte erst mal in der
Krankenkasse bleiben. Ich bleibe auch drin. Wenn einige Versicherte massenweise
Ultraschalluntersuchungen, Valium usw. haben wollen, sollen sie das von mir kriegen. Das
ist auch Umverteilung. Jeder kann selbst bestimmen, welche Bedürfnisse er hat; und die
mehr verdienen, müssen mehr davon zahlen, also ich auch. Aber wir, d.h. ich und alle die,
die viel verdienen und freiwillig in der gesetzlichen Krankenkasse sind, wir können etwas
dafür tun, daß die Sozialversicherung sozial bleibt. Wir müssen ein Ultimatum stellen,
mit ganz konkreten Forderungen. Also: Bezahlung der Behandlerinnen nach Arbeitszeit oder
Kopfpauschalen. Keine Zuzahlungen, keine Einschränkung von Leistungen. Die Behandlungen
und Medikamente entweder umsonst, beliebig oft und für jeden der will, oder gar nicht -
auch nicht privat und für Geld. Und das fordern wir bis zum Tag X - sagen wir in drei
Jahren, und wir sammeln Unterschriften unter unser Ultimatum. Wir sind natürlich bereit
zu Verhandlungen und Kompromissen. Aber wenn wir nichts erreichen, dann treten wir am Tag
X alle aus der Krankenkasse aus und machen etwas eigenes. Das müssen wir natürlich
öffentlich machen. Was haltet Ihr davon? Das hätte ich sagen sollen und würde ich
jetzt sagen.
In den letzten drei Jahren gab es Foren und
Podiumsdiskussionen zur medizinischen Chipkarte, mit Ministerialen, Ärzten,
Kassen-Vertretern, mit Industrie und Wissenschaft. Gegen etwa 20 Milliarden DM
ökonomische Interessen habe ich nur Argumente gehabt. Das lohnt nicht den Aufwand.
Diskutieren mit wichtigen krawattierten Herren tut man ja nicht aus Vergnügen. Es hat
keinen Sinn, Kritik zu üben, ohne Alternative im Rücken. Unser Motto muß werden:
Wir können auch anders. Deswegen wäre das jetzt mein Vorschlag.
Ein Patiententagebuch wäre ein Buch, in das jede und
jeder selbst hineinschreibt, was einem für die eigene Gesundheit wichtig ist.
Konfrontiert mit der Idee des Patiententagebuches reagieren Ärzte überwiegend ablehnend.
Egal, ob verpackt in ein mitleidiges Lächeln oder offen artikuliertes Unverständnis -
Ärzte scheinen sich einig zu sein: Sowas wie ein Poesiealbum? - Und was soll das
bringen? - So ein Quatsch - das geht doch gar nicht. So auch ein Arzt in einem
Leserbrief an eine Computerzeitschrift: Welcher Behandler will vierzig (oder mehrere
hundert) Seiten durchlesen und auswerten... wenn vom behandelnden Mediziner,
Pfleger und anderen Heilpersonen schriftlich Notizen, Skizzen, Tabellen und Kurven
eingetragen werden... (Wettig, 1994). Weitere, ähnlich klingende Bedenken ließen
sich hier wiedergeben.
Assoziiert wird hier allerdings das Patiententagebuch
als Krankenakte bzw. genauer, als Anhäufung zahlreicher, im Laufe einer Patientenkarriere
angesammelter, ärztlich-medizinische Dokumentationen. So gesehen wäre das
Patiententagebuch eine aus der Ärztehand gegebene Krankenakte, etwas vollständiger -
dafür aber auch unhandlicher. Patienten wären nur die Träger dieses dicken
Buches und in dieser Logik wäre eine Speicherchipkarte mit den gesammelten Daten
tatsächlich praktischer. Allerdings bliebe zu fragen, ob die Motivation des behandelnden
Mediziners besser ist, wenn er mehrere hundert Seiten an einen Lesegerät durchlesen und
auswerten soll. Wenn es nicht der Mühe wert scheint, sich von professioneller Seite durch
die gesamte Krankengeschichte durchzuarbeiten, sagt dies dann nicht auch darüber etwas
aus, was für einen Haufen wertloses Zeug sich in den Schubladen der Ärzten im Laufe
unserer Patientenkarriere ansammelt?
Aber auch Patienten assozieren zunächst eine
medizinische Krankenakte, allerdings integriert in ein Tagebuch mit ihren Notizen und
Beobachtungen. So ein Patiententagebuch hätte dann möglicherweise die äußere Form
eines Ringbuches, hier könnten die Ergebnisse mit den Blutwerten hineingeklebt,
Röntgenbilder eingeheftet werden usw. Natürlich müßte dieses, eventuell durchaus
umfangreiche, Buch dann zu jeder Behandlung mitgeschleppt werden. - Es sei denn, Ärzte
würden ihre Befunde nicht nur aus der Hand geben, sondern auch so verständlich
erklären, daß wir wüßten, was sie bedeuten und das Buch könnte in den meisten Fällen
zu Hause liegenbleiben. Immerhin wäre das Patiententagebuch eine Krankenakte in der
Verfügungsgewalt der Betroffenen, geboren aus dem Ärzte-Patienten Miß-Verhältnis, eine
Notlösung - und doch wäre dies ein Fortschritt zur bisherigen Praxis.
Vielleicht wäre es aber auch ein bißchen mehr. Im
Tagebuch könnten Patienten Fragen und Problemstellungen selber formulieren. Der
entscheidende Unterschied zu einer Krankenakte bestünde in dem Perspektivwechsel. Ärzte
müßten auf ihre Patienten, auf unsere Sprache, eingehen und nicht umgekehrt. Und noch
entscheidender: Fragen und Problemstellungen wären nicht auf isolierte (objektivierte)
Fakten und vereinzelte Krankheitsereignisse gerichtet, sondern aus der (subjektiven)
Gesamtsicht meines individuellen Lebens formuliert, in dem Gesundheit und Krankheit nur
zwei unterschiedliche Seiten ein und desselben Prozesses sind.
Vermittelt über Tagebücher könnte unter Patienten
ein Erfahrungsaustausch stattfinden, wie ich beispielsweise mit entzündeten oder
gebrochenen Körperteilen umgehen, leben kann, ohne mich auf diese zu reduzieren. Etwa
über einen gebrochenen Arm, der auch ohne medizinischen Eingriff wieder zusammenwächst,
von Nieren, die wieder besser arbeiten, obwohl ich medizinisch gesehen ein sicherer
Dialyse- bzw. Transplantationskandidat bin, vom Leben mit dem Darmkrebs, obwohl mich die
Medizin bereits für tot erklärt hat.
Ein Patiententagebuch wäre eine patientenorientierte
Technik, ein Hilfsmittel auf dem Weg zu einer veränderten Patienten-Ärzte-Kommunikation.
Eine Chipkarte kann dies niemals sein, auch wenn auf ihr extra ein Bereich für
subjektive Reflektionen eingerichtet würde. Solche sogenannten
Patientenchipkarten sind für bürokratische Verwaltungsaufgaben erdacht und entwickelt
worden und können nicht losgelöst von ihrem geplanten Gebrauch betrachtet werden:
Angesichts der totalitären Züge der Gesellschaft läßt sich der traditionelle
Begriff der _Neutralität_ der Technik nicht mehr aufrechterhalten (...) die
technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau
der Technik am Werke ist (Marcuse, 1980, 18). Patientennutzen ist in
diesem Zusammenhang nur ein Verkaufsargument und soll die fehlende soziale Akzeptanz
verschaffen.
Aber ein Tagebuch ist tatsächlich unbequem,
besonders für uns selbst. Verlangt es doch Auseinandersetzung da, wo wir bisher gewohnt
waren, die Verantwortung abzugeben und in die Hände der Ärzte zu legen. Denn es war ja
ihr Job, über uns zu befinden - über unser Leben!
Ein Allheilmittel gibt es nicht, sondern einzig
die Verpflichtung zur insistenten, unnachgiebigen Selbstkritik. (Theodor W. Adorno)
Als Medizininformatiker stelle ich den Einsatz von
Technik, und speziell der Informations- und Kommunikationstechnik, nicht grundsätzlich in
Frage. Sie kann einen nützlichen Beitrag zu einer menschenwürdigen Medizin liefern -
wenn sie entsprechend gestaltet wird. Mich stört in meinem Fach aber die
Selbstüberschätzung und der Alleinvertretungsanspruch der maßgeblichen Akteure für das
richtige Vorgehen bei der Computerisierung der Gesundheit. Deshalb bin ich
dafür, innerhalb des Faches mehr wissenschaftliche und politische Selbstkritik
zuzulassen, und auch die anderen Akteure im Gesundheitswesen einzuladen, die Vorhaben
kritisch zu bewerten und mitzugetalten. Eine notwendige Voraussetzung für sinnvolle und
gesellschaftlich akzeptable Technikgestaltung ist meiner Ansicht nach die direkte
Beteiligung von Bürgern (Partizipation) an konkreten Technikprojekten. Ich glaube, daß
Partizipation zu gesellschaftlich nützlichen und bürgerfreundlichen Systemen führen
kann, die zudem noch demokratisch besser legitimiert und gesellschaftlich breiter
akzeptiert wären.
Heute werden Entscheidungen in unserem
Gesundheitswesen üblicherweise am grünen Tisch der Krankenkassen, Ärzteverbände,
Ministerien und der Industrie - unter weitgehendem Ausschluß der Bürger - ausgehandelt.
Kassenfunktionäre, Ärzte, Politiker wie Techniker fühlen sich berufen, stellvertretend
für den Patienten zu sprechen. So werden auch seither alle deutschen Chipkartenprojekte
ohne eigenständige Bürgerbeteiligung geplant und durchgeführt. Die Technik sei zu
kompliziert, und die Verflechtungen im Gesundheitswesen seien so unübersichtlich, sagen
uns die Experten. Der Normalbürger sei überfordert, in allen Detailfragen zu folgen.
Partizipation sei daher praktisch leider nicht machbar. Es ist also nicht zu erwarten,
daß die Leiter von Chipkartenprojekten von sich aus auf die Idee kommen, Patienten
einzuladen, ihre Projekte kritisch zu kommentieren und um Hilfe zu bitten.
Stellen wir uns trotzdem einfach mal vor, daß wir
darauf bestehen, bei der Bewertung und Gestaltung von Chipkartensystemen nach unserer
Meinung gefragt zu werden. Vorstellbar ist beispielsweise, daß sich Leute von
Selbsthilfegruppen, PatientInnenstellen und Bürgerinitiativen in einem Chipkartenbeirat
zusammenfinden. Dieser selbstorganisierte Beirat beobachtet die laufenden und die
geplanten Chipkartenprojekte kritisch und bildet sich eine eigene, unabhängige Meinung.
Und der Beirat steht mit den anderen Akteuren - wie den Krankenkassen - im Gespräch. Er
informiert sich über alle relevanten Aspekte konkreter Chipkartenprojekte und zieht bei
Bedarf auch mal den einen oder anderen Experten zu Rate. Und er zeigt Alternativen zu
unnötig erachteten Technikprojekten auf.
Eine wichtige Aufgabe ist die Information der
gesellschaftlichen Gruppen durch ihre Vertreter im Beirat. So wird der aktuelle Stand der
Dinge in die Gesellschaft hineingetragen. Der Chipkartenbeirat wäre praktisch das
Expertengremium zur gesellschaftlichen Bewertung der Chipkartentechnik. Umgekehrt könnten
Ideen und Anforderungen von den gesellschaftlichen Gruppen über den Beirat in laufende
Chipkartenprojekte konstruktiv eingebracht werden. Die Beteiligung der Betroffenen an den
technischen, organisatorischen und politischen Entscheidungen setzt voraus, daß sich die
Bürger sachkundig machen und auch bereit sind, im gesellschaftlichen Diskurs Stellung zu
beziehen. Daran müssen sie selber arbeiten - das kann ihnen keiner abnehmen. Die
Beteiligung an der Beiratsarbeit wird auch viel Zeit und Geld kosten. Hier könnten
beispielsweise die gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam die Grundfinanzierung solcher
Beiräte übernehmen. Es wäre aber auch eine Art Verursacherprinzip definierbar, in dem
die Kosten zum Teil aus den Chipkartenprojekten heraus - oder direkt vom
Bundesgesundheitsminister - finanziert würden.
Frühzeitige und umfassende Beteiligung kann
rechtzeitig zeigen, wo Konsens möglich ist und Dissens zum Umdenken zwingt. Dazu muß von
allen Seiten mit offenen Karten gespielt werden - vielen Akteuren wird das schwerfallen.
Das allein schafft aber das notwendige Vertrauen in das Geschehen. Nach den sonst
üblichen Lippenbekenntnissen zum Mündigen Patienten und dem immer wieder
betonten hohen Patientennutzen von Chipkartensystemen wäre ein echtes
Partizipations-Experiment für alle sehr lehrreich. Ich möchte im Rahmen meiner
wissenschaftlichen Arbeit dieses gesellschaftliche Experiment unterstützen. Interessenten
mögen sich bitte an mich wenden! Vielleicht führt die Beteiligung nebenbei endlich zu
einem Gesundheitswesen, das auch Otto Normalbürger auf Anhieb versteht? Es sollte
effektiv und effizient, aber nicht unbedingt kommerziell-bürokatisch sein. Der Tendenz,
daß die Strukturen durch moderne Technologien immer komplexer und undurchschaubarer
werden, muß entgegengetreten werden. Neue Technologien müssen angemessen und
bürgerfreundlich gestaltet werden. Ich möchte ein Transparentes
Gesundheitswesen, das heißt : Für den Laien durchschaubare, und warum nicht auch
einfache, Strukturen auf allen Ebenen. Dafür würde ich sehr gerne auf den
Gläsernen Arzt und den Gläsernen Patienten verzichten!
Unsere Untersuchung begann mit dem Mann im Kreis auf
der Krankenversichertenkarte, einem Symbol der Renaissance. Wenn so viele fasziniert sind
von jener Zeit und ihrer Kultur, was vermissen wir dann für uns, was ist verloren
gegangen. Leonardo da Vinci und sein Freund Machiavelli konnten noch selbst überlegen,
wohin sie wollten. Viele Wege lagen frei vor ihnen. Wissenschaft, Verwaltung und Technik
waren noch keine Dogmen geworden. Inzwischen sind sie geronnen zur Realität und
Weltanschauung, die das Denken und Leben formt und einengt. Der Wunsch, sich aus dieser
Enge zu befreien, macht die Renaissance zur Utopie.
Die Helden der Renaissance haben den Unterschied
zwischen Fantasie und Erfahrung, zwischen Sollen und Sein für die Nachwelt aufgestellt.
Ihnen selbst war er noch nicht eingebrannt. Ob Leonardo ein Musikstück komponierte, oder
eine naturwissenschaftliche Theorie erfand: er konnte Fantasie und Messung frei
kombinieren. Macchiavelli mochte die Handlung eines Theaterstücks ersinnen, oder eine
neue Gesellschaftstheorie, jedesmal brachte er seine Subjektivität und die Überlieferung
nach Lust und Laune in Verbindung. Da es für sie keinen Unterschied gab zwischen Finden
und Erfinden, zwischen Kunst und Wissenschaft, konnten sie beides zugleich betreiben.
Wenn wir uns aus der Gesunden Neuen Welt von
Bürokratien und Institutionen befreien wollten, müßten wir uns diese Freiheit des
Denkens zurück erobern. Neue Wege würden erst dadurch sichtbar werden.