Noch Tage nach der letzten GAL-MV, die meine erste war, träumte ich davon. Träumend hob auch ich wieder meine Hand für eine Entscheidung, in der es hieß: „bei uns gibt es keine Berufspolitikerlnnen, wir lehnen die Politik als Beruf mit allen ihren widerlichen Begleiterscheinungen ab".
Da plötzlich: Blitz und Donner, gleißende Helle, das Dach des Kaifu-Gymnasiums öffnete sich, eine riesige Hand fuhr hernieder, ergriff mich und zog mich durch die kalten Lüfte.
Nach rasender Reise stand ich auf dem Pik Kommunismus im Altai-Gebirge. Dort wartete Erich Mühsam. "Erich, du hier?", stammelte ich, doch er, mit einem langen Gewand bekleidet, schritt feierlich auf mich zu, unter dem Arm zwei rot-grüne Tafeln. Mit großer Geste übergab er sie und dröhnte noch „und in dieses Vokabelheft haben Wir Kommentare dazu geschrieben, damit Ihr Uns nicht schon wieder falsch versteht". Bevor ich etwas fragen konnte, öffnete sich ein Abgrund, der den von den Nazis ermordeten anarchistischen Berufsrevolutionar verschlang.
Allein mit Heft und Tafeln erkannte ich meine Verantwortung. Jetzt nicht aufwachen! Ich setzte mich, studierte verbissen die Inschrift der Tafel und die Kommentare im Heft und prägte mir alles ein. Sphärenklänge der Marke Junghans beendeten bald meinen Aufenthalt auf dem Dach der Welt. Noch vor dem Frühstück setzte ich mich an den Computer.
Die Tafel:
1. Ihr sollt Eure BerufspolitikerInnen nicht leugnen.
2. Ihr sollt um Eure BerufspolitikerInnen keinen Götzendienst treiben, denn die Berufspolitikerin wird denjenigen nicht unbestraft lassen, die sie zum Götzendienst mißbraucht.
3. Ihr sollt Uns anleiten.
4. Ihr sollt Uns und Euch ausbilden.
5. Ihr sollt Uns anständig bezahlen.
6. Ihr sollt begehren Unser Haus, Hof, Diäten, Steuerersparnisse und alles, was Unser ist.
7. Ihr sollt Uns wählen.
8. Ihr sollt keine Amateure haben neben Uns, sondern nur über oder unter Uns.
9. Ihr sollt mit Uns kein Mitleid haben.
10. Ihr sollt werden wie Berufspolitikerlnnen und wissen, was gut und böse ist."
Das Heft:
„1. Ihr sollt Eure Berufspolitikerlnnen nicht leugnen.
Was ist das:
Jede nicht völlig bedeutungslose politische Gruppe hat Berufspolitikerlnnen, bezahlte oder unbezahlte. Sogar die Hafenstraße! Das liegt an der Arbeitsteilung und Hierarchisierung, die ahnlich bombenfest wie in Eurer Gesellschaft, auch in Euren Köpfen steckt. Mit Arbeitsteilung und Hierarchisierung, mit Vorstand, Bewegungs-Schriftstellerinnen, BewegungsAnwältinnen, Bewegungs-Journalistinnen wollt Ihr heute leben. Eure eigenen Vorstellungen über Qualifikation und politische Arbeit sind geprägt von Delegation von Verantwortung, Aufblicken, Abschieben von Fehlern. Ihr dürft deshalb nicht fragen: Wie verhindert Ihr Uns? Sondern: Wie benutzet Ihr Uns?
2. Ihr sollt um Eure Berufspolitikerlnnen keinen Götzendienst treiben, denn der/die Berufspolitikerln wird diejenige/denjenigen nicht unbestraft lassen, der/die sie zum Götzendienst mißbraucht.
Was ist das:
Wir sind Eure Vertreterlnnen. Und nicht die Fleischwerdung Eurer Wünsche und Träume. Nicht die Verkörperung Eurer Bewegung. Ihr dürft Unsere Erfahrung, die Gewandtheit Unserer Sprache und Unseres Denkens bewundern und nutzen, wie andere Eigenschaften, die Ihr Euch selbst planmäßig aneignen könnt. Mehr nicht. So bleibt Ihr von Uns unabhängig, so bleiben Wir Eure Helferlnnen, statt Dealerlnnen Eurer Drogen zu sein.
3. Ihr sollt Uns anleiten.
Was ist das:
Das Leben entfernt Uns Berufsfunktionarlnnen von Euch, Unsere Lebenslage und Unser Lebensstil sind anders als Eure. Dagegen hilft nicht Rotation und schlechte Bezahlung. Ihr sucht Euch doch gerade Uns aus, die Wir schon (fast Oder ganz) Berufsfunktionärlnnen waren, bevor Wir bei Euch anfingen, die schon damals anders waren, als Ihr seid. Nur Ihr könnt wissen, was fur Euch zu tun ist. Befehlt es uns. Verzettelt Unsere Arbeitskraft nicht, laßt Uns nicht nur an Unsere Hobbies. Behandelt Uns als Eure Angestellten in einem kapitalistischen Betrieb.
4. Ihr sollt Uns und Euch ausbilden.
Was ist das:
Um zu leisten, was Ihr von Uns erwartet, hätten Wir SpitzenunternehmerIn, ProfessorIn und Kinostar sein mussen. Als Wir anfingen, waren Wir aber so befähigt wie die schlechtesten unter Euren FührerInnen. Was ihnen fehlt, wißt Ihr. Schafft in Euren Reihen die Möglichkeit, sich zu qualifizieren. Setzt häufig und regelmaßig Schulungen an, in denen Ihr Uns zwingt, das auf Eure Kosten erworbene Wissen herzugeben! Dann werdet Ihr bald eine Reserve haben, aus der Ihr weiter rotieren lassen könnt.
5. Ihr sollt Uns anständig bezahlen.
Was ist das:
Wir werden fur Euch keine guten Leistungen bringen, wenn Ihr Uns nicht von der schlimmsten Not des täglichen Überlebens freistellt. In der Gosse schreibt sich's kaum die besten Manifeste. Bei Euch arbeiten Wir nicht für Geld, sondern für Ziele, die, bevor wir Berufsfunktionärlnnen wurden, Unseren Interessen entsprachen. Wenn Wir diese Ziele jetzt vergessen (was Uns kaum vorzuwerfen wäre), bleibt Euch zu Unserer Disziplinierung Unser Lohn. Bezahlt Ihr Uns aber nicht Oder allzu schlecht, so werden Wir Euch leichten Herzens untreu.
6. Ihr sollt begehren Unser Haus, Hof, Diäten, Steuerersparnisse und alles, was Unser ist.
Was ist das:
Für FunktionärInnen, die wie die besten von Uns analysieren, reden, entscheiden, leiten können, zahlt die kapitalistische Wirtschaft märchenhafte Summen. Sobald Wir Unser Handwerk als Gewerbe ansehen, könnt Ihr Euch nur Unseren Abschaum leisten. Oder müßt in Kauf nehmen, daß Wir ergänzend in den Dienst weiterer Brotgeber treten. Das Problem hat selbst die CDU, die viel reicher ist als Ihr.
Bei Uns darf nie der Eindruck aufkommen, Wir würden für das, was Wir nützen, bezahlt. Das könnt Ihr nur bezahlen, wenn Wir Euch nicht viel nützen. Leisten konnt Ihr Euch Unseren Lebensunterhalt. Und um zu kontrollieren, ob Wir noch fur Euch auf dem Posten sind, braucht Ihr manchmal Unsere Kontoauszüge und Steuererklärungen.
7. Ihr sollt Uns wählen.
Was ist das:
Wir betreiben gern das Nehmen und Geben Eurer Jobs, um neben politische auch persönliche Seilschaften und Abhängigkeiten zu setzen und Uns gegenseitig abzusichern. Wir bilden dazu Arbeitsvermittlungs-Gruppen in Euren Reihen. Eure Richtungsstreitigkeiten bekommen eine prickelnde Scharfe durch den Kampf Unserer Gruppen um Arbeitsplätze. Ihr sollt möglichst alle Eure bezahlten FunktionärInnen wählen. Auch den/die Kassiererln und den/die wissenschaftliche/n Referentln. Keine Vorstände und Kommissionen sollen zwischen Euch und Uns stehen. Wir mussen wissen, daß Wir Unsere Jobs Euch, nicht irgendwelchen Cliquen zu danken haben.
8. Ihr sollt keine Amateure haben neben Uns, sondern nur über oder unter uns.
Was ist das:
Die ganze Richtung vorgeben soll das gemeine Volk auch, gerade, seinen besten Fachleuten. Aber was danach kommt, will gelernt sein. Wie Ihr, sofern Ihr Lehrer seid, Euch die allzu detaillierte Einmischung der Eltern verbittet, und wie Ihr als Taxikunden haarkleine Ausführungen über das Autofahren unterlaßt, so dürft Ihr auch Uns nicht mit allzu viel Besserwisserei das Leben sauer machen, selbst wenn Ihr eindeutig Recht habt. Politik machen ist eine Kunst, in der Ihr Uns zu Profis gemacht habt. Mit den Folgen müßt Ihr leben.
9. Ihr sollt mit Uns kein Mitleid haben.
Was ist das:
Eure Parteien und Bewegungen sind kein selbstverwalteter Alternativbetrieb, der den Kapitalisten zeigen kann, daB es auch ohne Schinderei geht. Ihr habt Zweckverbände zur Verfolgung Eurer staatskritischen Ziele gegründet, und Euer Geld dafür ist knapp. Um Uns nützlich zu machen, haben wir bei Euch angefangen, nicht, um Uns eine Lebensstellung zu sichern. Wenn Ihr meint, daB wir Euch nicht mehr nützen, sollt Ihr Uns die Rückkehr ins nichtpolitische Berufsleben erleichtern, falls nötig. Ansonsten gilt noch nicht mal Arbeitsrecht.
10. Ihr sollt werden wie Berufspolitikerlnnen und wissen, was gut und böse ist.
Was ist das:
Habt Ihr in den letzten Wochen mit Euren Verwandten weniger uber Weihnachtsfeiern und -geschenke gesprochen als darüber, welche Auswirkungen das Gesundheitsreformgesetz auf Euch hat? Wißt Ihr von Euren Kolleglnnen besser, wen sie bei der letzten Betriebsratswahl wählten, als, wo sie zuletzt im Urlaub waren? Verabredet Ihr Euch öfter auf Demos als auf Feten?
Wenn Ihr alle Fragen mit Ja beantwor-tet habt, braucht Ihr keine BerufspolitikerInnen, könnt aber mit Uns leben.
Gegeben in der am Sysiphosberge tagenden Versammlung des Vereins Ehemaliger Berufsrevolutionäre, den 11.12.88
gez. Vorsitzender Bakunin, Vorsitzende Benario
Der Sekretär wird beauftragt, Vorstehendes auf geeignetem Wege der GAL Hamburg mitzuteilen.