Zum dritten Mal, nach dem Gesundheitsreformgesetz 1989 und dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993, steht jetzt eine größere Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung bevor, die Gesundheitsreform 2000, deren tragende Säulen wiederum Budgetierung, Zulassungsbeschränkung und Kontrolle heißen. Budgetierung - die Gesundheits-Dienstleister dürfen insgesamt nur eine begrenzte Geldmenge ausgeben. Zulassungsbeschränkung - die Niederlassung junger Ärzte wird verhindert. Kontrolle - mit Dokumentationspflichten der Krankenhäuser und Ärzte, und mit intensiven Kontrollen der Ärzte durch die Verbände soll erreicht werden, daß keiner sich auf Kosten der anderen bereichert, und die Patienten keinen Schaden nehmen.
Wie seine Vorgänger, zeigt das neue Gesetz letztlich die Gestaltungsunfähigkeit des politischen Systems durch Macht der Verbände. Die grundlegenden Defizite des Gesundheitswesens sind vor allem falsche Anreize. Immer mehr Medikamente werden verordnet, immer mehr wird operiert und behandelt, den Patienten geht es kaum besser, es kostet nur mehr Geld. Die "Deckelung" durch das Budget hat vergleichbare Wirkungen, wie das Schließen eines benutzten Nachttopfes mit einem Deckel. Das Problem bleibt - seine Wahrnehmung wird verzögert. Wieder wird jetzt der Deckel mit neuen Gewichten der Kontrolle beschwert. Je länger das geschieht, desto wahrscheinlicher wird, daß am Ende die völlige Privatisierung steht, das Wegwerfen des Nachttopfes, weil ihn keiner mehr benutzen will. Doch bis dahin profitieren Krankenkassen und Ärzteverbände, sie erhalten neue Aufgaben und Nützlichkeiten, neue Stellen, höhere Budgets (ihre Verwaltungskosten sind nicht gedeckelt), neue Computer und Datenbanken.
Die geplanten Neuregelungen bringen in fünf
Bereichen Verschlechterungen des Schutzes der Patientendaten, in einem sechsten Bereich
wird ein Ausweg eröffent, wobei offen ist, ob dieser genutzt wird.
1. Bisher schon sollte jeder Patient festlegen, wer sein Hausarzt ist, sein ständiger gesundheitlicher Begleiter, sein oberster Gesundheitslenker und Vertrauensträger. Es wäre ungerecht, Parallelen zum Nationalsozialismus zu ziehen, wo dies schon einmal so war und der Hausarzt als Gesundheitsführer galt - denn diese Festlegung hatte bisher keinerlei rechtliche Auswirkungen. Das wird jetzt anders. Denn immer, wenn man irgendwo behandelt wird - beim Facharzt, im Krankenhaus oder beim Masseur, muß man dort sagen, wer der Hausarzt ist, und jedesmal muß die Behandlerin den Befund und ihre Behandlung an diesen Hausarzt melden. Gar keinen Hausarzt zu haben, ist verboten, und wenn man jedesmal einen anderen nennt, wird man durch Datenkontrolle entlarvt. Beim Hausarzt laufen alle Informationen zusammen. Wer bei problematischen Diagnosen noch eine zweite, unbefangene Meinung eines anderen Arztes einholen will, wird daran gehindert, denn der Hausarzt erfährt alles.
Mündige Patienten, die sich in der ärztlichen Versorgung die gleiche Freiheit des Wechsels nehmen wie beim Schuhkauf, werden von Ärzteseite mit den verächtlichen Schlagworten "doctor shopper" und "doctor hopper" bedacht. Aus alter Gewohnheit wünscht mancher Arzt Treue und Anhänglichkeit des Patienten. Als Hausarzt bekommt er sie, zwangsweise.
2. Viele ältere Leute, die keine Verwandten haben, die sie pflegen, liegen heutzutage längere Zeit im Krankenhaus. Länger, als sie unbedingt müßten, wenn sie zu Hause jemanden hätten. Aus Sicht der Kassen sind das "Fehlbelegungen". Kontroll-Ärzte des medizinischen Dienstes der Krankenkassen sollen jetzt mehr Rechte bekommen, diese Kostenfaktoren zu killen. Sie dürfen alle Unterlagen, auch die Krankenakten, einsehen und den Krankenkassen dann anonymisiert Bericht erstatten. Die Folgen hat der Patient persönlich zu tragen.
3. Die Vergütung aller Ärzte zusammen ist auf einen festen Betrag beschränkt, das Budget (§ 84). Doch verteilt wird das Geld nach den erbrachten Einzelleistungen (§ 87 a). Ebenso gedeckelt ist das Budget für verordnete Arzneimittel, Massagen oder Krankengymnastik. Dies System produziert Konkurrenz und Mißtrauen, es erfordert Verdatung und Kontrolle. Sie geschieht, indem möglichst viele Informationen über die Behandlungen erhoben und von Computern und Prüfungsausschüssen nach Auffälligkeiten durchgemustert werden. Für die Wirtschaftlichkeitsprüfungen sollen umfangreiche Informationen über Versicherte, ihre Krankheiten und Behandlungen an Ärzteverbands- und Krankenkassenvertreter weitergegeben werden, so daß, anders als bisher, einzelne Fallgeschichten über mehrere Quartale verfolgt werden können. Statistische Auswertungen und Vergleiche nach Alter und Geschlecht sollen alle nicht standardgemäßen Behandlungen herausfiltern, für die sich der Arzt dann als Gebührenschinder rechtfertigen muß. Standard sind entweder der Durchschnitt der Kollegen, oder von Kassen und Verbänden festgelegte Richtwerte.
Die Krankenkassen erhalten von den Apotheken und anderen "Leistungserbringern" sämtliche Verordnungen und Rezepte. Wenn die Ärzteschaft das Budget für Medikamente, Massagen, Krankengymnastik oder Physiotherapie überschritten hat, ermitteln die Kassen, welche Ärzte "zuviel" verordnet haben, und melden sie bei den Ärzteverbänden. Ihre Vergütung soll dann gekürzt werden. Daß dieses Vorhaben, schon lange im Gesetz, jetzt wirklich umgesetzt werden soll, nutzen die Ärzteverbände derzeit für ihre Propaganda.
Daß überprüft wird, ob Ärzte mehr abrechnen, als typischerweise an einem Tag gearbeitet werden kann, wird keinen Patienten stören. Interessant ist aber, daß bei Ärzten, die zuwenig abrechnen - viel weniger als der Durchschnitt - die Praxis zwangsweise geschlossen werden soll (§ 103). Damit, und mit verschärften Zulassungsbeschränkungen, soll eine "Überversorgung" mit Ärzten verhindert werden. Stundenlange Wartezeiten im Wartezimmer - doch es herrscht Überversorgung. Sie soll beseitigt werden, u.a. indem Ärzten, die zuwenig abrechnen, (nicht etwa solchen, die zuviel abrechnen), die Zulassung entzogen wird.
4. Zukünftig muß jeder Arzt jeden Patienten bei jeder Behandlung in drei Klassifikationen einordnen, d.h. ihm dreimal meist mehrere EDV-lesbare Kennziffern zuordnen:
Sinn der Sache ist, eine Basis zu bieten für Wirtschaftlichkeits- und Qualitätskontrollen. Dazu müssen diese Daten nicht nur den Ärzteverbänden zugänglich gemacht werden, sondern auch den Kassen. Die Einschränkung beim Gesundheitsstrukturgesetz, daß die Kassen die Daten nicht versichertenbezogen erhalten dürfen, ist gestrichen. Der Satz war seinerzeit auf Drängen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz eingefügt worden.
Der Arzt wird bei vielen Behandlungen längere Zeit für die geforderte Dokumentation brauchen, als für das Gespräch mit dem Patienten. Ein Phänomen, das aus den USA hinlänglich bekannt ist und auch hierzulande in der Pflege schon auftritt.
Daß die Ärzte mit ihrer Praxis-EDV gegenrüsten und Diagnosen und Behandlungen exakt nach Vorgabe dokumentieren werden, um an das Geld zu kommen, ist zu erwarten. Daß sie auch in der Praxis keinen Millimeter von den Vorgaben der Verbände abweichen, und genau diejenigen Diagnosen erkennen und die Behandlungen durchführen, die ihnen statistisch zugeteilt werden, auch damit muß nach allem, was man weiß, leider gerechnet werden.
5. Die erhobenen Informationen mußten bisher direkt bei Ärzteverbänden und Kassen abgeliefert und ausgewertet werden. In Zukunft soll es dazu besondere Stellen geben, Datenannahmestellen (§ 294) und Arbeitsgemeinschaften zur Datenaufbereitung (§ 303 a), die das in ihrem Auftrag tun. Schon bisher haben die Angestellten-Krankenkassen die Firma Debis, Tochter des DaimlerChrysler Konzerns, als Datenannahmestelle eingeschaltet. Im Debis-Rechenzentrum liefen die Informationen aller Ärzte und Krankenhäuser zusammen und wurden dann auf die Kassen verteilt. Das geschah ohne gesetzliche Grundlage. Ein gebräuchliches Verfahren im Gesundheitswesen ist es, rechtswidrige Handlungen der großen Verbände nachträglich zu legalisieren und für die Zukunft noch einen draufzusetzen. So auch hier.
Denn die Absicht von Debis war von vornherein, die Daten nicht nur zu sammeln, sondern auch auszuwerten, also in ihrem Rechenzentren all die vielen Kontrollen der Diagnosen, Behandlungen, Durchschnittswerte, Richtgrößen usw. durchzuführen. Das soll jetzt nicht nur erlaubt sein, sondern - geboten. Den Krankenkassen und Ärzteverbänden wird zur Pflicht gemacht, Arbeitsgemeinschaften zur Datenaufbereitung zu gründen und in ihnen die Kontrollen aller Ärzte zentral durchzuführen, denn nur, wenn man die gesamte Datenbasis nimmt, kommen gute Ergebnisse heraus. Und wer könnte diese Datenverarbeitung besser durchführen, als Debis.
Ich halte nichts davon, Menschen persönliche
Vorwürfe zu machen, die rechtlich zulässige Möglichkeiten zur Steigerung ihres
Einkommens konsequent nutzen. Ein solches Verhalten muß in einer Marktwirtschaft als
Standard vorausgesetzt werden. Es ist Aufgabe der politischen Gestaltung, die
wirtschaftlichen Anreize so zu setzen und zu organisieren, daß diejenigen Menschen, die
sich am konsequentesten eigennützig verhalten, dadurch die nützlichsten Ergebnisse für
das Allgemeinwohl produzieren. Das gilt auch für Ärzte.
Im medizinischen Bereich ist es aber normal, ein Handeln im Dienste höherer Ziele zu verlangen, den Dienst am Nächsten aber materiell zu bestrafen und sein Gegenteil zu belohnen. Sodann wird versucht, mit Kontrollen ein Gegengewicht zu schaffen. Das verstärkt nur die Ausweich-Tendenzen und führt zu einem Teufelskreis von Flucht und Kontrollverstärkung.
Aus der Sicht des Grundrechts- und Datenschutzes ist ein solcher Zusammenhang immer rechtlich relevant. Die Erhebung und Auswertung personenbezogener Daten ist nur zulässig, wenn sie erforderlich ist. Es darf kein milderes Mittel geben. Eine Gestaltung von Vorteilen, die den Eigennutz der Betroffenen in gemeinnützige Bahnen lenkt, ist ein milderes Mittel gegenüber ihrer Überwachung und Kontrolle. Ist eine solche Gestaltung möglich, führt das dazu, daß die Datenerhebung zum Zweck der Kontrolle unzulässig wird.
Dr. Ellis Huber, früherer Präsident der Berliner Ärztekammer, hat wiederholt auf die Unsinnigkeit des Bezahlungssystems hingewiesen und den Übergang zu einem System des Zeithonorars oder der Kopfpauschalen gefordert, um die Ärzte von vornherein für die Kommunikation mit den Patienten und für deren Gesunderhaltung zu belohnen. Solange solche Alternativen noch nicht einmal geprüft werden, darf die Politik m.E. nicht durch Einführung neuer Kontrollen die Systemdefizite verlängern und vertuschen. Kontrollen sind nicht das Mittel, das am wenigsten Grundrechte beeinträchtigt, und somit unzulässig.
Wenn man im Gesetzentwurf nach Alternativen zur Kontrolle sucht, kann man an zwei Stellen fündig werden, Einmal soll es integrierte Versorgungsformen geben (§ 140 b), die allerdings zwischen den Spitzenverbänden der Kassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vereinbart werden müssen. Das ist eine Garantie dafür, daß Vorschläge wie die von Huber nicht umgesetzt werden.
Anders bei Modellversuchen nach § 64 SGB V nach dem Gesetzentwurf. Sie können danach allein von einigen Kassen, also neuerdings ohne Zustimmung der Ärzteverbände durchgeführt werden, und können neue Bezahlungssysteme erproben. Für engagierte Patienten und Ärzte eröffnet sich hier ein Feld für mögliche Alternativen zum Leben unter dem Deckel.