Jan Kuhlmann:  

Einleitung

Dieses Buch handelt von der Steuerung unseres Alltags durch Medizin und von der Bürokratisierung der Medizin mit Hilfe von Technik. Chipkarten, Computer und Datenleitungen sind Werkzeuge dafür. Ein erster Schritt war die Krankenversichertenkarte und die damit angestoßene EDV-Vernetzung des Gesundheitswesens. Der nächste Schritt werden medizinische Chipkarten sein.

Die Krankenversichertenkarte wurde von den deutschen Krankenkassen schon an alle ihre Versicherten, 85 % der Bürgerinnen und Bürger, ausgegeben. Das Bild darauf, die Proportionalstudie des menschlichen Körpers von Leonardo da Vinci, ist zu einem Sinnbild für Gesundheit geworden. Zu Recht, denn die Mathematisierung der Gesundheit ist weit vorangeschritten.

Die Karte ist selbst ein Symbol dafür. Mit ihrer Hilfe werden Menschen zum Informationsmuster im vernetzten System der Gesundheitsversorgung. Ihr Design ist ein bürokratisch-technisch-künstlerisches Meisterwerk. Alles, was sie bedeutet, kann man von ihr ablesen. Eine Interpretation der Krankenversichertenkarte soll Sie in einem Schnelldurchgang durch dieses Buch führen.

Für Leonardo waren die Sehnen des Menschen “mechanische Instrumente” und das Herz ein “wunderbares Werkzeug, erfunden vom größten Meister”. In seinen anatomischen Zeichnungen hat er versucht, die Mechanik des menschlichen Körpers sichtbar zu machen und seine Teile als Hebelwerkzeuge, Pumpen und Leitungen zu begreifen. Das Schema des Mannes im Kreis soll beweisen: nicht nur für Gebäude, sondern auch für Menschen gelten die Proportionen aus Lehrbüchern des Mathematikers Pacioli und des Architekten Vitruv.

Seit Leonardos Zeit haben Männer das, was sie in der äußeren Welt erschufen, auch im Inneren des Menschen am Werke gesehen. Im Dampfzeitalter waren wir wandelnde Dampfmaschinen: das Blut und seine Temperatur standen im Mittelpunkt der Forschung. Das Chemiezeitalter sah uns als wandelnde Chemie- und Elektrofabrik: es war die Zeit der Nervenleitungen und Hormone. Im Zeitalter der Computer ist das Bild des Menschen als Energieanlage passé: wir werden zum Informationsmuster. ForscherInnen “entschlüsseln” unseren “genetischen Code” und entdecken “Botenstoffe”, die Informationen im Körper umhertragen. Mit den Körperbildern wandeln sich die Bilder vom Arzt und vom Patienten. Bisher stand der hochspezialisierte Facharzt wie ein Ingenieur der komplizierten Körpermaschine gegenüber. Der Arzt von morgen ist, wie der Servicetechniker von IBM, nur eine Schnittstelle zum Wissenschafts- und Verwaltungsapparat, der hinter ihm steht. Diesen Wandel medizinischer Leibbilder, der sich parallel zu Veränderungen von Machtausübung und Kontrolle vollzog, beschreiben wir im 1. Kapitel.

Leonardo hat die künftigen Künstler eingewiesen: “Der Abstand vom Haaransatz bis zum Rand des Unterkinns ist ein Zehntel der Größe des Menschen, der vom unteren Rand des Kinns bis zum Scheitel des Kopfes ein Sechstel, der vom oberen Rand der Brust bis zum Haaransatz ist ein Siebentel des ganzen Menschen, der von den Brustwarzen bis zum Scheitel des Kopfes ist ein Viertel des Menschen.” (da Vinci 1940). Und so geht es weiter in seinem Text, der im Original über und unter der Proportionalstudie steht und ihre Geometrie beschreibt. Danach hat ein Norm-Mensch, der 1,72 groß ist, mathematisch genau Schuhgröße 41.

Die moderne, technisierte Schulmedizin beruht auf dem Vergleich eines wissenschaftlich konstruierten Normkörpers mit dem wirklichen Körper des Patienten. Technische Meßgeräte, wie Computer-Tomographen und Ultraschallgeräte, sind nach statistischen Durchschnittswerten für die Dichte von Geweben oder die Verteilung von Stoffen geeicht. Angezeigt wird die Abweichung von diesem Durchschnitt, so daß die Geräte “Krankheiten” zeigen können, die wir gar nicht wahrnehmen.

Die Ärzte haben ihren Vorrang gegenüber Masseuren, Badern und Heilpraktikern vor allem damit erreicht, daß sie die unterschiedliche Einordnung von Menschen wissenschaftlich erklären konnten und ihre in der Gesellschaft geforderte Auswahl vornahmen. Egal, ob man einen wissenschaftlichen Unterschied zwischen Ariern und “Fremdrassigen” sehen oder Arbeitsfähige von den Arbeitsunfähigen trennen wollte: Mediziner standen und stehen bereit, Unterschiede wissenschaftlich zu begründen und an einzelnen Personen nachzumessen, ohne daß die das Ergebnis beeinflussen dürfen. Dazu braucht man einen wissenschaftlichen Maßstab, den man an jede Person anlegen kann; ein Maschinenmodell vom Menschen: den Normkörper.

Auf der Grundlage dieser Vorstellung hat sich die Gesundheitsversorgung in Deutschland entwickelt. Bürokratie und Ökonomie haben wesentlichen Einfluß auf die Inhalte der Medizin genommen. Der Normkörper, an dem alle Menschen gemessen werden, ist durch Bezahlungssysteme und Verwaltung geprägt und verändert worden. Im 2. Kapitel beschreiben wir diese Veränderung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg der Ärzte.

In der Zeichnung da Vincis sind die einzelnen Körperteile mit geraden Strichen voneinander abgegrenzt. Dicke Striche trennen die Oberarme von den Unterarmen, die Unterarme von den Händen. Auf der Krankenversichertenkarte sind die meisten Trennungslinien wegretuschiert, einige sind noch deutlich zu sehen. Das ist auch richtig so. Die Karte kommt mitten im Umbruch von der mechanischen Körperteilmedizin zur statistischen Ganzheitsmedizin.

Die Vorstellung der “Menschmaschine” ist seit Leonardo da Vinci bis heute die zentrale Idee der Medizin. Sie wird durch das Abrechnungssystem in jede einzelne Behandlung hineingetragen. Denn die Bezahlung der ÄrztInnen richtet sich nach der Gebührenordnung.(§ 87 SGB V.). Diese ist aufgebaut wie der Katalog der Zeitvorgaben für Reparaturen in den Vertragswerkstätten von VW oder Opel: Es gibt Inspektionen, Reparaturen und Transplantationen an diversen Einzelteilen. Das Abrechnungssystem erfordert einen zergliedernden Blick. Damit können Ärzte ein “ganzheitliches, partnerschaftliches” Bild der Patientin so wenig erhalten, wie man von KFZ-Handwerkern einen ganzheitlichen, partnerschaftlichen Umgang mit dem Auto erwarten kann. In der Gebührenordnung ist ein mechanisches Selbstverständnis enthalten, das zur Zeit ihrer Verabschiedung bereits antiquiert war und das Medizinverständnis des 19. Jahrhunderts widerspiegelt.(Hoffmann 1991: 15). Jede Abrechnung wird statistisch mit den Abrechnungen aller Kollegen der gleichen Fachrichtung verglichen. Ärzte, die z.B. mehr und längere Gespräche führen oder gründlichere körperliche Untersuchungen vornehmen als der Durchschnitt, werden mit Honorarabzug bestraft (Baader 1983). Durch das Abrechnungssystem wird somit jede einzelne Behandlung gelenkt und standardisiert. Die Abrechnungssysteme für Gesundheitsleistungen und die kommerzielle Formierung und Lenkung der Medizin durch sie beschreiben wir im 3. Kapitel.

Genau gegenüber vom Mann im Kreis sitzt auf der Karte ein Microchip. Mit seinen Kontakten ist er der andere grafische Schwerpunkt des Gesamtkunstwerks. Leonardos Bild vertritt den Körper des versicherten Karteninhabers. Es zeigt seine äußere, sichtbare Hülle, die Erscheinung, während der Chip das Verborgene, Wesentliche enthält: Informationen. Das Bild ist unveränderlich wie der Fingerabdruck und der genetische Code. Der Chip ist dynamisch und aktiv. Mit seinen ausgestreckten Kontaktflächen stellt er zwischen Körper und Außenwelt die Verbindung her. Das Bild steht für Kreativität und Schönheit, der Chip für Nützlichkeit und Funktionalität. Exakt und nüchtern schließt der Chip den Körper an die Außenwelt an, macht ihn nützlich.

Die Krankenversichertenkarte enthält vor allem eine Nummer, die den Karteninhaber bezeichnet. Der Datenfluß findet hinter dem Rücken des Benutzers statt, indem der Arzt-Computer die Versichertennummer und die Behandlung per Draht an die Verwaltung meldet. Versichertenkarten dienen dazu, Millionen von Behandlungsinformationen, die zwischen Ärzten, Verbänden und Kassen übermittelt werden, eindeutig zuzuordnen. Zweck von Kartensystemen ist es immer, zu verhindern, daß jemand mehr bekommt, als eine Institution für berechtigt hält. Das geschieht nicht nur, indem Diagnosen und Einnahmen der Ärzte kontrolliert werden. Elektronisch begrenzt wird vor allem das Anrecht der einzelnen Patienten. Sie sollen weniger Leistungen erhalten als bisher, um sich selbst sowie Staat und Wirtschaft Kosten zu ersparen. So, wie es normale Eurocards gibt und die Eurocard Gold, könnte es bald verschiedene Klassen von Versichertenkarten geben. Bis heute werden unsere Behandlungen aber vor allem mittelbar gekürzt. Den Ärzten und Krankenhäusern werden beschränkte Budgets zugewiesen. Sie müssen dann selbst entscheiden, welche Patienten sie schlecht behandeln.

Ob es heute vom Krankenhaus entschieden wird oder morgen durch die Krankenkasse, die Frage ist die gleiche: Kann es die Medizin mit den zur Verfügung gestellten Mitteln schaffen, mich wieder in die Nähe des Normkörpers zu bringen? Oder habe ich mich so weit davon entfernt, daß sich der Aufwand nicht lohnt? Die Antwort liefern Statistik und Ökonomie. Im einen Fall kommt Hochleistungsmedizin zum Einsatz, im anderen wird mich der Allgemeinarzt beim Leiden und Sterben begleiten. Je weniger man für Gesundheitsleistungen ausgibt, um so mehr wird die Hochleistungsmedizin auf die Hochleistungsträger der Volkswirtschaft konzentriert. Dafür sorgen Verwaltung und Computer-Technik. Die computerisierte Beschränkung und Zuteilung von Lebens-Chancen beschreiben wir im 4. Kapitel: Gegenwart und Zukunft der elektronischen Rationierung.

Man kann die Krankenversichertenkarte von links nach rechts und von oben nach unten lesen. Der Chip steht für Maschine, Funktionalität und Kommunikation, das Kassenlogo für die Bürokratie der Gesundheit. Die ersten beiden Textzeilen rufen den Versicherten auf, nennen ihn beim Namen. Die letzte Zeile gibt ihm eine Nummer und ordnet ihn in die Versichertengemeinschaft ein. Die Gesamtheit wird vertreten durch das Kassenlogo und durch die Nationalfahne. Diese Regenbogenfahne verbindet die Nummer des Versicherten mit der “Versichertenkarte” und dem Körper.

Die versicherte Person wird mit Haut und Haaren eingeordnet in die Versichertengemeinschaft und den Nationalkörper. Das soll auf lange Sicht nicht nur durch Verwaltung von außen geschehen. Ziel ist der mündige Patient, der sich selbst einordnet, so wie es die Allgemeinheit von ihm erwarten darf.

In Zukunft sollen wir in unserer Karte einen Statusbericht über unseren Körper mitführen. Einen Bericht, den wir selbst mitgestalten, und der uns und anderen beim Management der Gesundheitsrisiken hilft. Seit Jahren werden in Forschungsprojekten der EU “Gesundheits-Chipkarten” erprobt, auch in Deutschland (DVD 1992: 13 - 15, Anlage). Krankenkassen und Ärzteverbände sahen die Verwaltungskarte, die jetzt eingeführt wird, von Anfang an nur als Zwischenlösung (Schäfer 1992, Debold 1992: 24). Was die Institutionen über unseren Körper wissen, soll für immer an uns haften bleiben. Die Karte wird Auskunft geben, was für ein Mensch ich bin: ob ich regelmäßig bei den Vorsorgeuntersuchungen war, welche Allergien und genetischen Risiken ich habe, bei welchem Arzt noch mehr Informationen zu holen sind. In einigen Betrieben gibt es schon Gesundheitspässe. In ihnen läßt man sich bescheinigen, daß man an der Pausengymnastik oder am Raucher-Entwöhnungskurs teilgenommen hat. Dafür erhält man von der AOK oder der Betriebskrankenkasse eine Prämie (DVD 1992: 18 - 19). In Zukunft sollen solche Informationen auf die Gesundheits-Chipkarte.

Es geht um unser bestes, wertvollstes Gut: die Gesundheit. Jede und jeder weiß, was man dafür zu tun hat, und eine Abweichung bleibt sowieso nicht verborgen. Da bemüht man sich gleich selbst, eine “saubere Karte” zu haben. So, wie der Normkörper nicht durch Unregelmäßigkeit der Gliedmaßen verunstaltet ist, soll keine Abweichung vom Idealleben unseren Chip verschmutzen. Das 5. Kapitel stellt die Pläne zur medizinischen Chipkarte vor und diskutiert gesellschaftliche Folgen.

“Wer einer Republik Verfassung und Gesetze gibt, (muß, d.Verf.) alle Menschen als böse voraussetzen und unterstellen (...), daß sie so oft ihre üblen Neigungen zeigen werden, wie ihnen Gelegenheit dazu geboten wird.” “Ein kluger Fürst muß es (...) so einzurichten verstehen, daß die Untertanen immer und unter allen Umständen seiner bedürfen, und auf diese Art werden sie ihm auch ununterbrochen getreu verbleiben.” Niccoló Machiavelli (1990: 137/80).

Machiavelli, Zeitgenosse und Freund von Leonardo da Vinci, verstand sich als Mediziner der Gesellschaft. Er nannte Republiken “zusammengesetzte Körper” und erteilte Ratschläge zur “Verlängerung ihres Lebens” und zur “Heilung ihrer Krankheiten”. Der Siegeszug der Herrschaftstechnik, die Machiavelli begründete, ist längst nicht beendet. Die sachliche Kontrolle des Menschen betrifft neue Lebensbereiche, geht weiter in die Tiefe. Kontrolleure und Kontrollierte sind kaum noch zu unterscheiden. Chipkarten sind ein Symbol dafür (Kuhlmann 1994). Im 6. Kapitel beschreiben wir das Gesundheitswesen der “Gesunden Neuen Welt”, die gerade entsteht. (Und die wir natürlich verhindern wollen, indem wir dieses Buch schreiben.)

“Bemühe dich, deine Gesundheit zu bewahren, und das wird dir um so eher gelingen, je mehr du dich vor den Ärzten hütest.”Leonardo da Vinci (1940: 132). Geht es auch anders? Oder muß man, wie es Leonardo nahelegt, die Ärzte boykottieren? Im letzten Kapitel wollen wir nicht unseren alternativen Systementwurf schildern. Wir stellen konkrete Alternativen vor, die es schon gibt, und verschüttete Alternativen, die in Vergessenheit geraten sind. Es soll Material für die Werkstatt der Zukunft sein, in der Patienten die Hilfe und Behandlung erhalten, die sie sich wünschen. Danach folgt ein Service- und Adressenteil. Er enthält Anschriften von Patientenstellen, von Zeitungen und Zeitschriften, von Gruppen und Initiativen im Gesundheitswesen. Dort kann man mehr über die Themen erfahren, die wir in diesem Buch behandeln.