Dieses Buch handelt von der Steuerung unseres Alltags durch Medizin und von der Bürokratisierung der Medizin mit Hilfe von Technik. Chipkarten, Computer und Datenleitungen sind Werkzeuge dafür. Ein erster Schritt war die Krankenversichertenkarte und die damit angestoßene EDV-Vernetzung des Gesundheitswesens. Der nächste Schritt werden medizinische Chipkarten sein.
Die Krankenversichertenkarte wurde von den deutschen Krankenkassen schon an alle ihre Versicherten, 85 % der Bürgerinnen und Bürger, ausgegeben. Das Bild darauf, die Proportionalstudie des menschlichen Körpers von Leonardo da Vinci, ist zu einem Sinnbild für Gesundheit geworden. Zu Recht, denn die Mathematisierung der Gesundheit ist weit vorangeschritten.
Die Karte ist selbst ein Symbol dafür. Mit ihrer Hilfe werden Menschen zum Informationsmuster im vernetzten System der Gesundheitsversorgung. Ihr Design ist ein bürokratisch-technisch-künstlerisches Meisterwerk. Alles, was sie bedeutet, kann man von ihr ablesen. Eine Interpretation der Krankenversichertenkarte soll Sie in einem Schnelldurchgang durch dieses Buch führen.
Für Leonardo waren die Sehnen des Menschen "mechanische Instrumente" und das Herz ein "wunderbares Werkzeug, erfunden vom größten Meister". In seinen anatomischen Zeichnungen hat er versucht, die Mechanik des menschlichen Körpers sichtbar zu machen und seine Teile als Hebelwerkzeuge, Pumpen und Leitungen zu begreifen. Das Schema des Mannes im Kreis soll beweisen: nicht nur für Gebäude, sondern auch für Menschen gelten die Proportionen aus Lehrbüchern des Mathematikers Pacioli und des Architekten Vitruv.
Seit Leonardos Zeit haben Männer das, was sie in der äußeren Welt erschufen, auch im Inneren des Menschen am Werke gesehen. Im Dampfzeitalter waren wir wandelnde Dampfmaschinen: das Blut und seine Temperatur standen im Mittelpunkt der Forschung. Das Chemiezeitalter sah uns als wandelnde Chemie- und Elektrofabrik: es war die Zeit der Nervenleitungen und Hormone. Im Zeitalter der Computer ist das Bild des Menschen als Energieanlage passé: wir werden zum Informationsmuster. ForscherInnen "entschlüsseln" unseren "genetischen Code" und entdecken "Botenstoffe", die Informationen im Körper umhertragen. Mit den Körperbildern wandeln sich die Bilder vom Arzt und vom Patienten. Bisher stand der hochspezialisierte Facharzt wie ein Ingenieur der komplizierten Körpermaschine gegenüber. Der Arzt von morgen ist, wie der Servicetechniker von IBM, nur eine Schnittstelle zum Wissenschafts- und Verwaltungsapparat, der hinter ihm steht. Diesen Wandel medizinischer Leibbilder, der sich parallel zu Veränderungen von Machtausübung und Kontrolle vollzog, beschreiben wir im 1. Kapitel.
Leonardo hat die künftigen Künstler eingewiesen: "Der Abstand vom Haaransatz bis zum Rand des Unterkinns ist ein Zehntel der Größe des Menschen, der vom unteren Rand des Kinns bis zum Scheitel des Kopfes ein Sechstel, der vom oberen Rand der Brust bis zum Haaransatz ist ein Siebentel des ganzen Menschen, der von den Brustwarzen bis zum Scheitel des Kopfes ist ein Viertel des Menschen." (da Vinci 1940). Und so geht es weiter in seinem Text, der im Original über und unter der Proportionalstudie steht und ihre Geometrie beschreibt. Danach hat ein Norm-Mensch, der 1,72 groß ist, mathematisch genau Schuhgröße 41.
Die moderne, technisierte Schulmedizin beruht auf dem Vergleich eines wissenschaftlich konstruierten Normkörpers mit dem wirklichen Körper des Patienten. Technische Meßgeräte, wie Computer-Tomographen und Ultraschallgeräte, sind nach statistischen Durchschnittswerten für die Dichte von Geweben oder die Verteilung von Stoffen geeicht. Angezeigt wird die Abweichung von diesem Durchschnitt, so daß die Geräte "Krankheiten" zeigen können, die wir gar nicht wahrnehmen.
Die Ärzte haben ihren Vorrang gegenüber Masseuren, Badern und Heilpraktikern vor allem damit erreicht, daß sie die unterschiedliche Einordnung von Menschen wissenschaftlich erklären konnten und ihre in der Gesellschaft geforderte Auswahl vornahmen. Egal, ob man einen wissenschaftlichen Unterschied zwischen Ariern und "Fremdrassigen" sehen oder Arbeitsfähige von den Arbeitsunfähigen trennen wollte: Mediziner standen und stehen bereit, Unterschiede wissenschaftlich zu begründen und an einzelnen Personen nachzumessen, ohne daß die das Ergebnis beeinflussen dürfen. Dazu braucht man einen wissenschaftlichen Maßstab, den man an jede Person anlegen kann; ein Maschinenmodell vom Menschen: den Normkörper.
Auf der Grundlage dieser Vorstellung hat sich die Gesundheitsversorgung in Deutschland entwickelt. Bürokratie und Ökonomie haben wesentlichen Einfluß auf die Inhalte der Medizin genommen. Der Normkörper, an dem alle Menschen gemessen werden, ist durch Bezahlungssysteme und Verwaltung geprägt und verändert worden. Im 2. Kapitel beschreiben wir diese Veränderung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg der Ärzte.
In der Zeichnung da Vincis sind die einzelnen Körperteile mit geraden Strichen voneinander abgegrenzt. Dicke Striche trennen die Oberarme von den Unterarmen, die Unterarme von den Händen. Auf der Krankenversichertenkarte sind die meisten Trennungslinien wegretuschiert, einige sind noch deutlich zu sehen. Das ist auch richtig so. Die Karte kommt mitten im Umbruch von der mechanischen Körperteilmedizin zur statistischen Ganzheitsmedizin.
Die Vorstellung der "Menschmaschine" ist seit Leonardo da Vinci bis heute die zentrale Idee der Medizin. Sie wird durch das Abrechnungssystem in jede einzelne Behandlung hineingetragen. Denn die Bezahlung der ÄrztInnen richtet sich nach der Gebührenordnung.(§ 87 SGB V.). Diese ist aufgebaut wie der Katalog der Zeitvorgaben für Reparaturen in den Vertragswerkstätten von VW oder Opel: Es gibt Inspektionen, Reparaturen und Transplantationen an diversen Einzelteilen. Das Abrechnungssystem erfordert einen zergliedernden Blick. Damit können Ärzte ein "ganzheitliches, partnerschaftliches" Bild der Patientin so wenig erhalten, wie man von KFZ-Handwerkern einen ganzheitlichen, partnerschaftlichen Umgang mit dem Auto erwarten kann. In der Gebührenordnung ist ein mechanisches Selbstverständnis enthalten, das zur Zeit ihrer Verabschiedung bereits antiquiert war und das Medizinverständnis des 19. Jahrhunderts widerspiegelt.(Hoffmann 1991: 15). Jede Abrechnung wird statistisch mit den Abrechnungen aller Kollegen der gleichen Fachrichtung verglichen. Ärzte, die z.B. mehr und längere Gespräche führen oder gründlichere körperliche Untersuchungen vornehmen als der Durchschnitt, werden mit Honorarabzug bestraft (Baader 1983). Durch das Abrechnungssystem wird somit jede einzelne Behandlung gelenkt und standardisiert. Die Abrechnungssysteme für Gesundheitsleistungen und die kommerzielle Formierung und Lenkung der Medizin durch sie beschreiben wir im 3. Kapitel.
Genau gegenüber vom Mann im Kreis sitzt auf der Karte ein Microchip. Mit seinen Kontakten ist er der andere grafische Schwerpunkt des Gesamtkunstwerks. Leonardos Bild vertritt den Körper des versicherten Karteninhabers. Es zeigt seine äußere, sichtbare Hülle, die Erscheinung, während der Chip das Verborgene, Wesentliche enthält: Informationen. Das Bild ist unveränderlich wie der Fingerabdruck und der genetische Code. Der Chip ist dynamisch und aktiv. Mit seinen ausgestreckten Kontaktflächen stellt er zwischen Körper und Außenwelt die Verbindung her. Das Bild steht für Kreativität und Schönheit, der Chip für Nützlichkeit und Funktionalität. Exakt und nüchtern schließt der Chip den Körper an die Außenwelt an, macht ihn nützlich.
Die Krankenversichertenkarte enthält vor allem eine Nummer, die den Karteninhaber bezeichnet. Der Datenfluß findet hinter dem Rücken des Benutzers statt, indem der Arzt-Computer die Versichertennummer und die Behandlung per Draht an die Verwaltung meldet. Versichertenkarten dienen dazu, Millionen von Behandlungsinformationen, die zwischen Ärzten, Verbänden und Kassen übermittelt werden, eindeutig zuzuordnen. Zweck von Kartensystemen ist es immer, zu verhindern, daß jemand mehr bekommt, als eine Institution für berechtigt hält. Das geschieht nicht nur, indem Diagnosen und Einnahmen der Ärzte kontrolliert werden. Elektronisch begrenzt wird vor allem das Anrecht der einzelnen Patienten. Sie sollen weniger Leistungen erhalten als bisher, um sich selbst sowie Staat und Wirtschaft Kosten zu ersparen. So, wie es normale Eurocards gibt und die Eurocard Gold, könnte es bald verschiedene Klassen von Versichertenkarten geben. Bis heute werden unsere Behandlungen aber vor allem mittelbar gekürzt. Den Ärzten und Krankenhäusern werden beschränkte Budgets zugewiesen. Sie müssen dann selbst entscheiden, welche Patienten sie schlecht behandeln.
Ob es heute vom Krankenhaus entschieden wird oder morgen durch die Krankenkasse, die Frage ist die gleiche: Kann es die Medizin mit den zur Verfügung gestellten Mitteln schaffen, mich wieder in die Nähe des Normkörpers zu bringen? Oder habe ich mich so weit davon entfernt, daß sich der Aufwand nicht lohnt? Die Antwort liefern Statistik und Ökonomie. Im einen Fall kommt Hochleistungsmedizin zum Einsatz, im anderen wird mich der Allgemeinarzt beim Leiden und Sterben begleiten. Je weniger man für Gesundheitsleistungen ausgibt, um so mehr wird die Hochleistungsmedizin auf die Hochleistungsträger der Volkswirtschaft konzentriert. Dafür sorgen Verwaltung und Computer-Technik. Die computerisierte Beschränkung und Zuteilung von Lebens-Chancen beschreiben wir im 4. Kapitel: Gegenwart und Zukunft der elektronischen Rationierung.
Man kann die Krankenversichertenkarte von links nach rechts und von oben nach unten lesen. Der Chip steht für Maschine, Funktionalität und Kommunikation, das Kassenlogo für die Bürokratie der Gesundheit. Die ersten beiden Textzeilen rufen den Versicherten auf, nennen ihn beim Namen. Die letzte Zeile gibt ihm eine Nummer und ordnet ihn in die Versichertengemeinschaft ein. Die Gesamtheit wird vertreten durch das Kassenlogo und durch die Nationalfahne. Diese Regenbogenfahne verbindet die Nummer des Versicherten mit der "Versichertenkarte" und dem Körper.
Die versicherte Person wird mit Haut und Haaren eingeordnet in die Versichertengemeinschaft und den Nationalkörper. Das soll auf lange Sicht nicht nur durch Verwaltung von außen geschehen. Ziel ist der mündige Patient, der sich selbst einordnet, so wie es die Allgemeinheit von ihm erwarten darf.
In Zukunft sollen wir in unserer Karte einen Statusbericht über unseren Körper mitführen. Einen Bericht, den wir selbst mitgestalten, und der uns und anderen beim Management der Gesundheitsrisiken hilft. Seit Jahren werden in Forschungsprojekten der EU "Gesundheits-Chipkarten" erprobt, auch in Deutschland (DVD 1992: 13 - 15, Anlage). Krankenkassen und Ärzteverbände sahen die Verwaltungskarte, die jetzt eingeführt wird, von Anfang an nur als Zwischenlösung (Schäfer 1992, Debold 1992: 24). Was die Institutionen über unseren Körper wissen, soll für immer an uns haften bleiben. Die Karte wird Auskunft geben, was für ein Mensch ich bin: ob ich regelmäßig bei den Vorsorgeuntersuchungen war, welche Allergien und genetischen Risiken ich habe, bei welchem Arzt noch mehr Informationen zu holen sind. In einigen Betrieben gibt es schon Gesundheitspässe. In ihnen läßt man sich bescheinigen, daß man an der Pausengymnastik oder am Raucher-Entwöhnungskurs teilgenommen hat. Dafür erhält man von der AOK oder der Betriebskrankenkasse eine Prämie (DVD 1992: 18 - 19). In Zukunft sollen solche Informationen auf die Gesundheits-Chipkarte.
Es geht um unser bestes, wertvollstes Gut: die Gesundheit. Jede und jeder weiß, was man dafür zu tun hat, und eine Abweichung bleibt sowieso nicht verborgen. Da bemüht man sich gleich selbst, eine "saubere Karte" zu haben. So, wie der Normkörper nicht durch Unregelmäßigkeit der Gliedmaßen verunstaltet ist, soll keine Abweichung vom Idealleben unseren Chip verschmutzen. Das 5. Kapitel stellt die Pläne zur medizinischen Chipkarte vor und diskutiert gesellschaftliche Folgen.
"Wer einer Republik Verfassung und Gesetze gibt, (muß, d.Verf.) alle Menschen als böse voraussetzen und unterstellen (...), daß sie so oft ihre üblen Neigungen zeigen werden, wie ihnen Gelegenheit dazu geboten wird." "Ein kluger Fürst muß es (...) so einzurichten verstehen, daß die Untertanen immer und unter allen Umständen seiner bedürfen, und auf diese Art werden sie ihm auch ununterbrochen getreu verbleiben." Niccoló Machiavelli (1990: 137/80).
Machiavelli, Zeitgenosse und Freund von Leonardo da Vinci, verstand sich als Mediziner der Gesellschaft. Er nannte Republiken "zusammengesetzte Körper" und erteilte Ratschläge zur "Verlängerung ihres Lebens" und zur "Heilung ihrer Krankheiten". Der Siegeszug der Herrschaftstechnik, die Machiavelli begründete, ist längst nicht beendet. Die sachliche Kontrolle des Menschen betrifft neue Lebensbereiche, geht weiter in die Tiefe. Kontrolleure und Kontrollierte sind kaum noch zu unterscheiden. Chipkarten sind ein Symbol dafür (Kuhlmann 1994). Im 6. Kapitel beschreiben wir das Gesundheitswesen der "Gesunden Neuen Welt", die gerade entsteht. (Und die wir natürlich verhindern wollen, indem wir dieses Buch schreiben.)
"Bemühe dich, deine Gesundheit zu bewahren, und das wird dir um so eher gelingen, je mehr du dich vor den Ärzten hütest."Leonardo da Vinci (1940: 132). Geht es auch anders? Oder muß man, wie es Leonardo nahelegt, die Ärzte boykottieren? Im letzten Kapitel wollen wir nicht unseren alternativen Systementwurf schildern. Wir stellen konkrete Alternativen vor, die es schon gibt, und verschüttete Alternativen, die in Vergessenheit geraten sind. Es soll Material für die Werkstatt der Zukunft sein, in der Patienten die Hilfe und Behandlung erhalten, die sie sich wünschen. Danach folgt ein Service- und Adressenteil. Er enthält Anschriften von Patientenstellen, von Zeitungen und Zeitschriften, von Gruppen und Initiativen im Gesundheitswesen. Dort kann man mehr über die Themen erfahren, die wir in diesem Buch behandeln.
Ein Mann ohne Makel ziert jede Krankenversichertenkarte. Die berühmte Proportionsstudie Leonardo da Vincis erinnert daran, daß die Chipkarte nicht bloß ein Verwaltungsinstrument ist. Sie öffnet uns die Augen dafür, welcher Mensch gemeint ist, der, wie die Kassen versichern, in unserem Gesundheitswesen stets im Mittelpunkt steht. Mit den Augen und Instrumenten eines Mathematikers rückte Leonardo dem Menschen zuleibe, um ihn zu vermessen und seine Proportionen zu berechnen - genauso wie es Baumeister damals mit Gebäuden taten:
"Wenn du die Arme so weit spreizt, daß Du um ein Vierzehntel deiner Höhe abnimmst, und wenn Du dann Deine Arme ausbreitest und hebst, bis du die Scheitellinie des Kopfs mit deinen Mittelfingern berührst, so mußt du wissen, daß der Mittelpunkt des Kreises, der durch die Enden der gestreckten Glieder gebildet wird, der Nabel ist und daß der Zwischenraum zwischen den Beinen ein gleichseitiges Dreieck bildet. Die Spanne der ausgebreiteten Arme des Menschen ist gleich seiner Höhe. Der Abstand vom Haaransatz bis zum Rand des Unterkinns ist ein Zehntel der Größe des Menschen, der vom unteren Rand des Kinns bis zum Scheitel des Kopfes ein Sechstel, der vom oberen Rand der Brust bis zum Haaransatz ist ein Siebentel des ganzen Menschen, der von den Brustwarzen bis zum Scheitel des Kopfes ist ein Viertel des Menschen."
Leonardos anatomische Zeichnungen gelten als Symbol für die Abkehr vom dunklen Mittelalter und die Zuwendung zum strahlenden Licht der modernen Wissenschaft. Die Renaissance sei die Zeit der Entdeckung des Menschen durch den Menschen, heißt es heute; und gemeint ist damit die Entdeckung des Menschen als Objekt moderner wissenschaftlicher Forschung. Im Mittelalter noch waren Glaube und Erkenntnis eins. Im 15. Jahrhundert löste sich die Wissenschaft von der Religion und beanspruchte, wahre Aussagen über den Menschen zu machen. Krankheit und Gesundheit - bis dahin Ausdruck sündigen oder gottgefälligen Verhaltens - konnten jetzt wissenschaftlich untersucht werden. Zu Zeiten Leonardos formierte sich der neuzeitliche, ärztliche Blick, der uns so unabänderlich und natürlich erscheint. Dieser vermessende Blick konstruiert den berechenbaren Normkörper.
Aber sind Blick und Leibbilder - dazu noch solche aus der historischen Mottenkiste - tatsächlich von entscheidender Bedeutung dafür, wie Menschen heute behandelt werden? Ist nicht viel wichtiger, daß Pharmaunternehmen ihre Medikamente verkaufen, Ärzte eine reibungslose Krankenabfertigung organisieren, Bürokratien sich selbst erhalten und Politiker an der Macht bleiben wollen? Sicher, aber die Leibbilder sind Teil dieser Strukturen, sie schreiben sich darin ein - und nicht zuletzt auch in unsere Köpfe. Warum vertrauen wir denn darauf, daß schon alles seine Richtigkeit haben wird, wie wir behandelt und verwaltet werden? Warum sind wir davon überzeugt, daß Meßwertreihen, Immunparameter und genetische Analysen etwas über das persönliche Befinden aussagen? Daß es im eigenen Innern so aussieht, wie es das Bild aus dem Computertomographen zeigt? Warum halten wir unsere Ärzte für fortschrittlicher als Bader und Schamanen und glauben ihren Beschreibungen unseres Körpers? Überzeugt uns der Erfolg der High-Tech-Medizin?
Der Erfolg der Medizin könne ihre hohe Wertschätzung nicht begründen, urteilt der ehemalige Vorsitzende des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen, Michael Arnold. Denn die "heutige hohe durchschnittliche Gesundheitlichkeit der Bevölkerung und die hohe Lebenserwartung [verdankten wir, d. Verf.] nicht in erster Linie den Spitzenleistungen der Medizin, sondern der besseren Ernährung, besseren Wohnverhältnissen, einem höheren Hygienestand und Bildungsniveau sowie einer größeren Sicherheit bei der Lebensführung". Der Glaube an die Medizin aber gäbe "Hoffnung und Trost im Falle eigenen Betroffenseins durch Krankheit". "Die Vermittlung dieser Hoffnung und die Gewährung von Trost und Hilfe angesichts des Todes können als Teil der Sozialfunktion der Medizin aufgefaßt werden, die sie nach historischer Erfahrung weitgehend unabhängig von ihrem objektiven Leistungsvermögen ausübt. Mit der Medizin steht dem einzelnen und der Gesellschaft eine Möglichkeit zur Verfügung, in rationaler Weise mit Krankheit und Tod fertig zu werden." (Arnold 1993, 191)
Brauchen wir die Medizin etwa als Placebo? Wollen wir unsere Selbstwahrnehmung jeder technischen Neuerung anpassen? Und wie reagieren wir dann auf die tiefen Irritationen, die gerade die Erfolge der High-Tech-Medizin auslösen? Wenn etwa in Erlangen eine Frau von Medizinern erst als Leiche für die Organspende definiert wird, dann aber wieder als Schwangere, die am Leben erhalten werden soll, damit sie ihr Baby austragen kann.
Indem Menschen sich selbst so sehen, wie die Schulmedizin sie sehen will, öffnen sie sich der Medizintechnik. Die Beschäftigung mit historischen Körperbildern ermöglicht es, kritische Distanz zum aktuellen Geschehen zu gewinnen und Befremden zu entwickeln gegenüber den Zuschreibungen, die ein hochtechnisiertes Gesundheitswesen heute vornimmt. Diese Zuschreibungen sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen entscheidend geworden - weit über die medizinische Versorgung hinaus. Ob es um Schul-, Berufs- und Arbeitsplatzwahl geht, um Arbeitsunfähigkeit, Tauglichkeit als Soldat oder Schuldfähigkeit bei Gericht - wie selbstverständlich sind Mediziner maßgeblich an den Entscheidungen und Selektionen beteiligt. Sie sind zu "Sachwaltern der Körperlichkeit" (Labisch 1989, 32) geworden, die durch ihr Handeln unmittelbar mitbestimmen, was Leben und Tod bedeuten. Heute beginnt das Leben von nahezu jedem Menschen in Deutschland im Krankenhaus, um 1900 war es nur 1 Prozent. 1900 starben 10 Prozent im Spital, 1980 waren es schon 80 Prozent. (Schipperges 1990, 187) Für jede Lebensphase - von der Geburt im Kreißsaal bis zum Sterben auf der Intensivstation - gibt es entsprechend spezialisierte Professionelle. Die zuständigen Institutionen der "medikalisierten Gesellschaft" (Illich 1977, 93 ff.) verbreiten Vorgaben, wie geboren, gesund gelebt, wie gestorben wird und beeinflussen damit, wie Menschen sich und andere wahrnehmen.
Wir wollen zeigen, daß solche Leibbilder gemacht sind und um so stärker ihre Wirkung enfalten, je selbstverständlicher und alternativloser alle an sie glauben. Unser Ziel ist es nicht, die Schulmedizin zu verdammen oder Ärzte persönlich anzugreifen. Vielmehr geht es darum zu erkennen, wie Leibbilder, Technik und Bürokratie ineinandergreifen und Menschen sich dadurch kontrollieren lassen.
Die Medizin braucht glaubwürdige Modelle, um ihr Eingreifen zu legitimieren, und sie hat diese Modelle immer gehabt. Blättert man im Leibbilderbuch der Medizin, stellt man fest, daß die abendländische wissenschaftliche Medizin den Menschen stets so beschrieben und behandelt hat, daß er ihr möglichst wenig in die Quere kommen konnte. Es ist der Blick der Distanz, der Menschen begutachtet, ohne sie selbst zu Rate ziehen zu müssen; ein inspizierender Blick, der den Körper eines Menschen untersucht wie eine Sache. Und da Körper wie Sachen nicht lügen können, versteht es der Arzt, sich das richtige, objektive Bild von dem Inspizierten zu machen. Diese medizinische Sichtweise kristallisiert seit Jahrhunderten in einem Bild: im Bild vom Menschen als Maschine. Es zieht sich in Variationen wie ein roter Faden durch die offizielle Medizingeschichtsschreibung, ausgedacht und reproduziert von Männern, die in ihrem Körperinneren - ebenso wie in dem von Frauen - die gleichen Funktionsweisen zu entdecken glauben wie in den Maschinen, die sie gerade besonders faszinieren. Waren es zunächst einfache mechanische Maschinen, rücken mit der Industrialisierung energiegetriebene Kraftmaschinen in den Vordergrund. Heute ergänzt die Informatisierung des Leibes die Industrialisierung der Hand- und Kopfarbeit. Computer werden zur Interpretation und Manipulation des Lebendigen herangezogen.
Wenn die Schulmedizin allen Anfeindungen trotzt und sich als Religion unserer Zeit bezeichnen darf, dann hängt das damit zusammen, daß es ihr über Jahrhunderte gelungen ist, ihre Sicht der "Maschine Mensch" immer wieder dem Stand von Wissenschaft und Technik anzupassen, ihn in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern und dagegen andere Vorstellungen vom Menschen als vor- und irrational, primitiv und metaphysisch abzukanzeln.
Für Leonardo waren die Sehnen des Menschen "mechanische Instrumente" und das Herz ein "wunderbares Werkzeug, erfunden vom größten Meister". Borelli verglich die "Verrichtungen" in Lebewesen mit Waage, Hebel, Winde, Keil und Schraube. Descartes sah im Blutkreislauf eine hydraulische Orgel, wo die Blasebälge die Lebensgeister durch die Röhrenanlagen pumpen und dampfen lassen. "Und damit man zu Anfang eine allgemeine Vorstellung von der ganzen Maschine bekomme, die ich zu beschreiben habe, möchte ich hier vorausschicken, daß es die Hitze ist, die sie im Herzen besitzt, die die große Triebkraft und das Prinzip aller in ihr stattfindenden Bewegungen ist. Die Venen sind die Röhren, die das Blut von allen Teilen des Körpers zu diesem Herzen hinführen, wo es zur Nahrung für die dortige Wärme dient. Auch der Magen und die Därme sind eine solche große Röhre." (Descartes 1632, zit. n. Rothschuh 1969, 141)
Descartes konnte Menschen wie Maschinen beschreiben, weil er sie per Definition in Körper und Geist aufspaltete. Damit legte er den Grundstein für eine Schulmedizin, die sich seitdem den Vorwurf gefallen lassen muß, in eine seelenlose Apparatemedizin und eine körperlose Seelenmedizin zersplittert zu sein. So wie bei einer Uhr die Bewegungen von der Anordnung der Gewichte und Räder abhinge, meinte Descartes, sei auch das Funktionieren des menschlichen Körpers von der Lage seiner Bestandteile zueinander bestimmt. Der Mensch ist nur ein Rädchen im großen Uhrwerk des Weltgeschehens; sein Leben verläuft in voraussagbaren Bahnen, determiniert von klaren Ursache-Wirkung-Zusammenhängen. Um die Welt der Körper zu erschließen, schlußfolgert er, sei deshalb eine Wissenschaft, eine Methodik vonnöten. Schulmedizin und reduktionistische Naturwissenschaft reichen einander die Hände. Das Ergebnis ist die "Maschine Mensch", die nicht lebt, sondern funktioniert.
Die wissenschaftliche Demontage des Leibes kam der Medizin gerade recht. Ein von Religion, Magie und Metaphysik bereinigter seelenloser Körper lag nun auf dem Untersuchungstisch der Medizin, der weiteren Ausforschung stand nichts mehr im Wege. Medizin konnte ab sofort als Physik des menschlichen Körpers begriffen werden, als experimentelle Wissenschaft, die die Natur des Menschen - in der Tradition von Francis Bacon - auf die Folter spannen konnte, um ihr eindeutige, allgemeingültige Antworten abzupressen. Ein weiter Horizont technischer Möglichkeiten tat sich auf: Denkbar war, das künftige Verhalten dieser "Maschine Mensch" vorauszuberechnen, Bauteile auszutauschen oder nachzubauen oder die Maschine zu optimieren. Endlich ließ sich die These vom konstruierbaren Menschen wissenschaftlich unterfüttern. Für die Medizin war damit die Perspektive realistisch geworden, ganz Naturwissenschaft und gestaltende Biotechnik zu werden.
Natürlich gab es zu allen Zeiten und in allen Kulturen nicht bloß dieses eine Bild vom Menschen. So einflußreich und dominant wie heute ist das professionalisierte und technisierte Gesundheitswesen wohl nie gewesen. Bis hinein ins 19. Jahrhundert hatten die meisten Menschen ohnehin keine Chance, einen akademisch gebildeten Arzt zu Gesicht zu bekommen. Sie wendeten sich in ihrer Not schon eher an Priester und heilkundige Frauen, an Barbiere und Wundärzte oder versuchten, sich selbst zu kurieren.
Von der Vielfalt der Leibbilder, die außerhalb der offiziellen Lehre, etwa in der Volksmedizin, Naturheilkunde und Anthroposophie existieren, ist in den renommierten Medizingeschichtsbüchern wenig zu lesen. Sie werden ausgeblendet, so daß der Eindruck eines gradlinigen, von großen Männern vorangetriebenen Fortschritts der Medizin entsteht - hin zu einem immer besseren Verständnis des Menschen und einer immer ausgeklügelteren Herrschaft über Leben und Tod. Leonardo da Vincis Bild vom vermessenen Leib tragen wir im Kopf und auf der Krankenversichertenkarte, es unterstützt die Stilisierung des stetigen Aufwärtstrends der Medizin. Diese aufstrebende Fortschrittslinie führt von der Säftelehre, die seit der Antike bis hinein ins Mittelalter die Köpfe der Gelehrten beherrscht hatte, zum Studium des Körperbaus und der Gewebe.
In der Tradition von Hippokrates und Galen, beide Ärzte der Antike, konzentrierte sich die akademische Medizin auf die Säfte, die den Menschen durchströmten. "Der Körper eines Menschen hat in sich Blut und Schleim, gelbe und schwarze Galle, und das ist die Natur seines Körpers und dadurch hat er Schmerzen und ist gesund." (Corpus Hippocraticum, Von der Natur des Menschen, zit. n. Frank 1989, 51) Waren die Säfte richtig gemischt, galt jemand als gesund; eine falsche Mischung bedeutete Krankheit. Die Bestimmung des Krankheitsortes war also nicht wesentlich. Krankheit hatte keinen festgelegten, bestimmbaren Ort im Körper - so wie der Defekt in der Körpermaschine. Deshalb machte es auch keinen Sinn, den Menschen zu zergliedern. "Wer krank ist, ist als ganzer Mensch krank; es ist unnütz, besondere Einzelkrankheiten abzugrenzen", befand Hippokrates. (Lüth 1986, 34) Körperteile-Spezialisten, wie sie die Körpermaschinen-Medizin erfordert, wären damals wohl jedem unsinnig vorgekommen. Mit der Gewebelehre bekam die Krankheit dann einen Ort im Körper zugeteilt. Immer kleinteiliger wurde in der Folgezeit die innere Landkarte vermessen: von den, mit menschlichen Sinnen noch wahrnehmbaren, Geweben über die einzelnen Zellen der Virchow_schen Zellularpathologie bis hinein in den Zellkern und die Erbmoleküle.
Theoretische Konzepte, wie die Zwei-Substanzenlehre von Descartes und die mechanistische und reduktionistische Deutung des Lebendigen, strukturieren die Wahrnehmungsweisen einer Medizin, die Naturwissenschaft sein will und Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften unmittelbar am Menschen anwendet. Durch Experimente am menschlichen Objekt kann die Medizin den Glauben an die Existenz der "Maschine Mensch" bestärken.
Da verwundert es nicht, daß die Erschütterung des herrschenden Dogmas von der Säftelehre vor allem aus der Anatomie kam, die heute als erste richtige Naturwissenschaft überhaupt angesehen wird. Anatomie heißt soviel wie Lehre vom Auseinanderschneiden und Zergliedern. Und davon machten die viel gerühmten Gelehrten reichlich Gebrauch. Die Sektion von Toten bildet die Grundlage des schulmedizinischen Wissens über den menschlichen Körper.
Bevor die Anatomen der Renaissance ans Werk gehen konnten, mußten sie sich über Tabus und Verbote von Kirche und Staat hinwegsetzen. Obduktionen hatten jahrhundertelang als Ungeheuerlichkeit gegolten. Michelangelo soll sich nachts heimlich in die Leichenhalle geschlichen haben, um bei flackerndem Kerzenschein die Körper von Bettlern aufzuschneiden, auf die niemand Anspruch erhob. Allein Leonardo häutete und zergliederte mehr als zehn Leichen. (Math‚ 1978, 22) Ebenso tat es Vesal. Sein Werk "Vom Bau des menschlichen Körpers" (1543) gilt als Klassiker; Bilder daraus finden sich heute in zahlreichen Anatomie-Lehrbüchern. Der historische Holzschnitt auf dem Titelblatt zeigt den Verfasser, damals Lektor für Chirurgie an der Universität Padua. Den Zeigefinder erhoben, steht Vesal am Seziertisch vor dem aufgeschnittenen Bauch einer nackten, toten Frau. Er doziert und seziert wie auf einer Theaterbühne, umringt vom drängelnden, gaffenden Publikum. Unter dem Seziertisch streiten sich zwei Kerle um das Sektionsgeschirr. Tiere springen durch den Raum. Von Ehrfurcht vor der Würde der Toten keine Spur. Eine "Anweisung zum kunstgerechten Sezieren toter und lebendiger Körper", schreibt Vesal in seinem Vorwort, wolle er mit seinen sieben Büchern liefern, so anschaulich und reich bebildert, "daß sie denen, die sich um die Werke der Natur bemühen, gleichsam einen sezierten Körper vor Augen halten". (Herrlinger 1967, 105)
Mit Skalpell und Zeichenstift untersuchten gelehrte Männer das stumme Objekt, das keinen Widerstand mehr leisten, mit dem man alles machen konnte. So beruht das Wissen über das Lebendige auf Studien des Toten. Bis heute funktioniert der Zirkelschluß: Erst behauptet man, der menschliche Leib sei eine seelenlose Maschine; sodann untersucht man einen seelenlosen, toten Körper und bestätigt die eigenen Vorannahmen. Stets wurde kritisiert, Erkenntnisse, die man durch Sektionen von Tieren, beispielsweise von Schweinen, gewonnen hatte, auf den Menschen zu übertragen; Rückschlüsse vom Toten auf das Lebendige wurden dagegen kaum problematisiert.
Heute hat jeder Medizinstudent bereits bei seinem ersten Präparierkurs eine klare Vorstellung davon, was er sehen soll. Der Mensch ist sauber zerteilt: in Verdauungs-, Kreislauf-, Atem- und Harnaparat, in Organ- und Steuerungssysteme sowie Sinnesorgane. Sämtliche Fragmente lassen sich wiederum aufspalten bis in Zellen, Zellorganellen, Moleküle. Alles hat seinen Platz und seinen Namen. Geordnete Friedhofsruhe in jedem Körper.
Schaut man sich in Anatomie-Büchern Fotos von Leichen mit geöffneter Bauchdecke an, kann man ahnen, wie schwierig es gewesen sein muß, etwas zu erkennen, wenn einem noch keiner sagen konnte, was man sehen sollte. Lage und Form der Organe und die Existenz des Blutkreislaufes, die uns heute als selbstverständliche, einfache und unumstößliche Wahrheiten gelten, waren zu Zeiten Leonardos schlicht unbekannt. Das Auge war im Vermessen der inneren Landkarte nicht geschult. Erst im 15. Jahrhundert entwickelte sich ein klares Verständnis der Zentralperspektive. Dieses geometrische, investigative Sehen konstruiert die Proportionen des äußeren Körpers ebenso wie die Strukturen des Körperinneren. Ein Gittergerüst von Linien durchzieht das Gewirr der Gewebe. Es erlaubt, jeden Punkt im Körper exakt zu verorten und auf diese Weise eine innere Topologie zu erstellen.
Alle bildgebenden Verfahren, alle Techniken zur Durchleuchtung, Sichtbarmachung und Veröffentlichung des Leibesinneren, basieren auf diesem Prinzip der Kontrolle, was sich an welchem Punkt befindet. Einmal an die geometrische Sehweise gewöhnt, hat sich der ärztliche Blick mit immer neuen Instrumenten bewaffnet, um dem Feind im Körperinneren auf die Spur zu kommen, ihn im Körperdunkel aufzuspüren, ans Licht der Öffentlichkeit zu holen und wirksam zu bekämpfen. Zu diagnostischen Zwecken setzt man Körper Röntgenstrahlen, Ultraschallwellen und Magnetfeldern aus und schiebt Spiegel ins Körperinnere. Mediziner schicken neben winzigen Werkzeugen Sonden und Kameras in die Leibeshöhle, um minimal-invasiv "durchs Schlüsselloch" zu operieren. Schwangere Frauen unterziehen sich einer intensiven technischen Überwachung.
Untersuchungen, in den Mutterschaftsrichtlinien vorgeschrieben, machen das Ungeborene im "fötalen Umfeld" sichtbar und stülpen Verständnis und Erleben der Schwangerschaft um. Im Zentralklinikum Augsburg können Geburten bereits vorab am Bildschirm simuliert werden. Als Modell für die Rechner-Geburt dienten Computer-Crash-Tests von Autos. Sie seien, so Klinikdirektor und Ideengeber Arthur Wischnik, auch nichts anderes als die "relative Bewegung zweier Festkörper unter wechselseitiger Verformung". (Vorpahl 1994, 6) Die Welt der Technik dient so auf zweierlei Weise der Formierung des ärztlichen Blicks: theoretisch als Interpretationsvorlage und praktisch als Prothese zur Optimierung der menschlichen Sehleistung. In diesem Sinne sind bildgebende Verfahren auch leibbildgebende Verfahren.
Der bisher beschriebene Blick focussiert den einzelnen Körper. Zur Konstruktion eines Normkörpers sind aber Untersuchungen einer großen Zahl von Menschen notwendig, um den Durchschnitt zu berechnen und einen Blick dafür zu gewinnen, was die Norm sein soll. Bis zum Aufkommen der modernen, verweltlichten Spitalsmedizin zur Zeit der Aufklärung gab es dazu wenig Gelegenheit. Ärzte hatten in der Regel nur wenige Patienten, von denen jeder anders war als der andere; die Vielfalt überwog, ein abstrakter Blick für die Norm ließ sich schwerlich an ihnen schulen. Die Spitäler wurden zumeist von Ordensgemeinschaften geführt, bei denen die Kranken wohl Barmherzigkeit und Pflege zu erwarten hatten - nicht jedoch wissenschaftliches Interesse an ihrer Krankheit.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich das. Große Krankenanstalten entstanden, wie 1784 das Allgemeine Krankenhaus in Wien. In Paris wurde die "Gesundheitsschule" gegründet, das erste große europäische Zentrum der klinisch orientierten Medizin (Jetter 1986, 152). Dort konnten Forschung und Heilung unmittelbar ineinandergreifen, standen den Ärzten doch "Krankengut" sowie Leichen in großer Zahl zur Verfügung. Die "Geburt der Klinik" (Foucault 1988) war eine Voraussetzung dafür, daß Verfahren entwickelt wurden, um die Gesundheit der Bevölkerung, dieses "Körpers mit unzähligen Köpfen" (Foucault 1993, 63), abzubilden. Einen Ausweg aus dem Dilemma, allgemeingültige Aussagen über Individuen zu treffen, wies die Statistik. Sie lenkte den Blick weg vom Individuum hin zur Gruppe, weg von der persönlichen Erfahrung hin zur anonymen Abstraktion.
Mit der Industrialisierung wird die Mehrheit der Menschen zum Potential von Arbeits- und Reproduktionskräften, zum Humankapital, das es optimal zu bewirtschaften gilt. Die Medizin rückt in den Alltag vor - gestützt von einer Hygienebewegung, die die Vorstellung von Gesundheit als höchstem Gut populär macht. Eine neue Machttechnik, so Foucault, tauche auf, die anders sei als die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ausgeübte "Anatomo-Politik" des Körpers: die "Bio-Politik". "Diesseits also dieser großen, absoluten, dramatischen, finsteren Macht, die die Macht des Souveräns war, taucht nun mit dieser Bio-Macht, dieser Machttechnologie über die Bevölkerung als solcher, über den Menschen als Lebewesen eine fortdauernde, wissende Macht auf: die Macht, leben zu machen. Die Souveränität machte sterben und ließ leben. Nun erscheint eine Macht, die ich Regulierung nennen würde, die im Gegensatz dazu darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen." (Foucault 1993, 63)
Ein Wandel vollzieht sich: von der Disziplinierung und der Dressur einzelner Körpern, vom Aussondern und Einschließen in Krankenanstalten hin zur wissenden, "intelligenten" Regulierung der Bevölkerungsgesundheit. Eine Gesellschaft, die Politiker und Wissenschaftler zur Informationsgesellschaft erkoren haben, verkauft diesen Wandel als Befreiung. Information gilt als Schlüssel zu Freiheit, Gleichheit und Demokratie.
Der Gesundheitssektor macht dabei keine Ausnahme. Große Hoffnungen werden mit der Informatisierung verknüpft: Mündigkeit und Selbstbestimmung, Ganzheitlichkeit, Vernetzung und Integration lauten die sympathischen neuen Vokabeln, die die Kritik an der Schulmedizin aufgreifen, um für die Computerisierung zu werben. Gelingt damit der Einstieg in den Ausstieg aus der Körpermaschinenmedizin? Nimmt die Medizin nun den ganzen Menschen in den Blick? Wird sie endlich menschlicher?
Schaut man unter die neuen sprachlichen Gewänder, entdeckt man, daß darunter immer noch das alte Leibbild steckt: das Bild vom Menschen als Maschine. Der Vergleich von Mensch und Maschine, das Denken in Produktionsprozessen und ökonomischen Kategorien bleibt, es wird nur modernisiert. Denn sogenannte intelligente, ressourcensparende Technologien bilden die Insignien einer post-industriellen Gesellschaft. Computer sind die aktuelle Interpretationsschablone. So wandelt sich das Leibbild zur Vorstellung vom Menschen als "transklassische Maschine", als Informationsmuster. (Bertrand 1993, 9 ff.)
Der Informationsbegriff wird als Chance dargestellt, die Kluft zwischen Körper und Geist zu überbrücken und das starre, mechanistische und materialistische Bild vom Menschen abzulösen. Bindestrich-Disziplinen wie die Psychoneuroimmunologie (PNI) treten mit dem Anspruch in die Öffentlichkeit, das dualistische Dogma zu überwinden. Sie entdecken den Menschen als Netzwerk, in dem es zahlreiche Informationsverbindungen zwischen Körper und Geist sowie mit Umweltsystemen gibt. Von Leib und Seele ist dabei keine Rede. Mit naturwissenschaftlichen Methoden, vor allem mit Hilfe der Gentechnik, soll auf molekularer Ebene erforscht werden, wie das Zusammenspiel von Immun-, Hormon- und Nervensystem funktioniert. "Welche Moleküle und welche chemischen Prozesse vermitteln Gefühle an das Immunsystem und umgekehrt?", fragen die PNI-Experten oder anders formuliert: "Wie kann ein weißes Blutkörperchen erkennen, ob wir glücklich, traurig oder gestreßt sind?" (Miketta 1991, 22) Leben = Materie + Information heißt die neue Formel, mit der methodische Reduktionisten Seele und Lebensgeist berechenbar machen wollen. Die informationelle "vis vitalis" steckt nun in jeder Zelle.
Mit der kybernetischen Brille auf der Nase entdecken Forscher das Funktionieren von Regelkreisen, von informationsverarbeitenden Systemen im menschlichen Körper: Hormon-, Immun- und Nervensystem steuern den Menschen. In jedem Zellkern steckt ein genetisches Programm, das detaillierte Befehle enthält, wie sich der menschliche Körper zu entwickeln hat. Das Gehirn wandelt sich zu einem Supercomputer, den die Evolution erfunden hat. Nervenzellen tauschen Nachrichten untereinander aus. Botenstoffe flitzen durch den Körper, Gene werden abgelesen, kopiert und korrigiert. Die Zell-Fabrik arbeitet nach neuesten Management-Methoden. Von der Zelle bis zum Sozialgefüge der Gesellschaft - überall existieren Systeme, die nur das eine tun: sie organisieren sich selbst, indem sie Informationen verarbeiten.
Information ist das neue Lebens-Elixier. Wird jemand krank, liegt es jetzt daran, daß die Kommunikation nicht richtig klappt. "Lebende Wesen", heißt es, "reagieren nicht mechanisch auf Einwirkungen, sondern verwandeln sie in Zeichen, die ihnen Nachrichten vermitteln über die Bedeutung der Umgebung für die eigenen Bedürfnisse. Krankheitssymptome lassen sich somit als Störungen der Nachrichtenverbindungen deuten." (Pflanz 1993, 924) Der Klempner allein kriegt die defekte Maschine nicht mehr in Gang. Ein Bio-Systemanalytiker ist gefragt, der immaterielle, nicht lokalisierbare Fehler im Informationsaustausch findet. Krankheit wird zum Informationsproblem - und damit prinzipiell vermeidbar.
Die Krankheitsursachen aber lassen sich immer schwieriger ausfindig machen. Der einzelne kann die Gefahren nicht mehr überschauen und befürchtet zugleich, daß sie überall lauern können. Sonnenbaden unter dem Ozonloch, Asbest im Kindergarten, Elektrosmog oder genmanipulierte Lebensmittel - angesichts der zivilisatorischen Gefahren versagen die menschlichen Sinne. Deshalb nimmt die Bereitschaft zu, auf Technik zu vertrauen. Körperinformationstechniken, vom Dosimeter-Pflaster zur Messung von UV-Strahlen bis zum Biosensor in der Blutbahn, erlauben das Monitoring daheim. Die Einsicht wächst, die Risiken wohl oder übel persönlich managen zu müssen und sich eigenverantwortlich und selbstbestimmt zu überwachen. Die Fremdkontrolle wird verinnerlicht.
Die Risiken werden in den Menschen hinein verlagert - bis in seine Zellkerne. Gen-Epidemiologie heißt eine Forschungsrichtung, die sich die Aufdeckung genetischer Risikofaktoren zum Ziel gesetzt hat. Mit jedem Gen, das die Wissenschaftler der entsprechenden Großforschungsprojekte in Europa, Japan und den USA, entschlüsseln, gewinnen die Epidemiologen neue Aufgabenfelder. Im genetischen Code fahnden die "Genhacker", wie sie sich nennen, nach Erbleiden und genetischen Dispositionen, also Empfindlichkeiten für weit verbreitete Krankheiten wie Krebs, Bluthochdruck, Diabetes und Alzheimer. Die Ergebnisse der Studien und Wahrscheinlichkeitsrechnungen sickern in den Alltag; sie begegnen Menschen als diagnostische Urteile in der humangenetischen Beratung, bei der vorgeburtlichen Diagnostik, bei Reihenuntersuchungen von Neugeborenen und beim Arbeitnehmer-Screening.
Mit der Verbreitung der Gentechnik wird die Idee populär, man könne in einem Menschen lesen wie in einem offenen Buch. Heute lernen schon die Kinder in der Schule das Alphabet des Lebens. Es besteht aus den vier Buchstaben A, C, T und G, den Abkürzungen für die verschiedenen Basen des Erbmoleküls. Drei Buchstaben ergeben ein Wort, die Wörter bilden einen Text, und der erhält alle Informationen zum Aufbau von Eiweißen, die ein Mensch braucht. An Blut, Schmerz und Operationen ist nicht zu denken. Bis in den Kern jeder Zelle sind wir durchtränkt von Logik, Abstraktion und Effizienz. Die Bezeichnungen laden dazu ein, Wörter zu korrigieren, den Text zu ändern. Die reduktionistische Gleichung lautet: Gene = Informationen = Schicksal.
Im Verbund mit der Soziobiologie fördert die Genomforschung das molekularbiologistische Credo, das Schicksal eines Menschen ließe sich an seinen genetischen Daten ablesen. Glaubt man den Versprechungen der Gentechniker, sind schon vorgeburtlich Abbilder einer Persönlichkeit möglich. Das Modell des Menschen existiert also, bevor der Modellierte selbst existiert. Prävention kann nun unter Umständen bedeuten, die Geburt eines "fehlerhaften Modells" vorsorglich zu verhindern. Gentests geht immer eine eugenische Bewertung voraus. Man muß definieren, was ein Fehler sein soll. "Genetisch bedingtes Übergewicht" etwa kann so ein Fehler sein. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag befragte 1157 Schwangere, die sich für eine pränatale Diagnostik entschieden hatten. 18,9 % von ihnen antworteten, eine solche genetische Prognose sei für sie ein Grund, vermutlich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. (Büro für Technikfolgenabschätzung 1993, 79) Frauen sind das letzte Glied in der Verantwortungskette. Sie sollen den Ausweg aus einem Dilemma finden, in das sie eine Technologie drängt, auf deren Entwicklung sie keinen Einfluß haben. Gerade wenn der Terror der Normalität stärker wird, mag es individuell als vernünftig erscheinen, eugenisch zu handeln - und damit den Druck auf jene, die von der Norm abweichen, noch zu verstärken.
Auf der Grundlage von Gentests werden Prognosen über die Zukunft eines Menschen getroffen. Das Datenmodell kann zur Richtschnur der Biographie werden, sich verselbständigen und ein Eigenleben entwickeln. Immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens fallen damit in die Zuständigkeit eines Gesundheitssektors, der Informationen über biologische Merkmale eines Menschen erheben und verarbeiten darf. Der Bioethiker Hans-Martin Sass und die Ärztin Rita Kielstein etwa halten es für eine moralische Pflicht, die persönlichen genetischen Risikofaktoren ausforschen zu lassen und "Lebensplanung, Liebe, Freundschaft, Hobby und Beruf" darauf abzustimmen. (Sass/Kielstein 1992, 400) Die Risikoträger sind eingebettet in ein Geflecht medizinischer und paramedizinischer Institutionen, deren Beratungsangebote sie tunlichst in Anspruch nehmen sollten, wenn sie sich als "gesundheitsmündige" Bürger und Bürgerinnen erweisen wollen. Der ganzheitliche Ansatz schlägt um in ganzheitliche Kontrolle.
Die Persönlichkeitsabbilder, auf Chipkarten gespeichert, könnten per Knopfdruck aus den Netzen der Gesundheitsbürokratie auf den Bildschirm geholt und bearbeitet werden. Die Mensch-Maschine-Kommunikation ersetzt das langwierige Erzählen von Krankengeschichten und das ohnehin karge Bemühen um einfühlendes Verstehen. Der Blick auf die Daten lädt dazu ein, sich - am Betroffenen vorbei - ein vermeintlich objektives Bild von jemandem zu machen. Der Abgebildete dagegen hat es schwer, dieses Bild zu korrigieren.
Menschen kommen in der Sprache der Bio-Politik nicht mehr vor. Der Genpool, das Krankheits- oder das Fehlbildungsgeschehen in einer Bevölkerung, heißt es, werde überwacht. "Langfristig ist geplant, die in der BRD bestehende Meldepflicht für angeborene Fehlbildungen durch ein Netz von Überwachungszentren sinnvoll und effektiv zu ersetzen. Das Prinzip einer multizentrischen Überwachung entspräche dem der Überwachung von Luft-, Wasser-, und Bodenqualitäten mittels einer Überwachungsstation pro Bundesland," heißt es in einer Skizze des "Projekts zur Erfassung angeborener Fehlbildungen bei Neugeborenen", das seit 1989 an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz läuft. Nicht Frauen und Kinder, Gene sind anscheinend Objekte der Kontrolle; biologische Ressourcen, vergleichbar mit Luft, Wasser und Boden. Für einen Mediziner, der aus dieser Vogelperspektive schaut, kann es höhere Ziele geben als die Heilung des Patienten, der ihm gerade gegenüber sitzt - beipielsweise die Rate der Herzinfarkte in einem Stadtteil zu senken. Therapien können künftig in der Keimbahn ansetzen und Menschen, gar Generationen heilen wollen, die noch gar nicht existieren. Der Patient ist nichts, seine Informationen sind alles.
Das Subjekt schwindet. Die systemische Sichtweise erübrigt es, zwischen biologischen und technischen Informationsverarbeitungssystemen zu unterscheiden. Der französische Wissenschaftler und Regierungsberater Jacques Attali unterscheidet drei Phasen, in denen die Vorstellung vom Lebenden von der Metapher der Maschine zu der des Codes übergeht. Zu Beginn steht die "Geburt einer Kopie", eines Idealbildes, das ein weltweit gültiges Modell eines Durchschnittslebens abgibt. Da man kontrollieren will, ob man mit diesem Bild übereinstimmt, braucht man "Spiegel des Körpers". "Mit Hilfe dieser informatischen und genetischen Normierungsgeräte überwacht ein jeder seine Anpassung selbst und denunziert selbst seine Abweichung. Es entsteht das Bewußtsein eines neuen Übels: Prädisposition zur Krankheit, das Profil eines kostspieligen Lebens, Anormalität, Abweichung von der Kopie." Da Menschen immer vom Idealbild abweichen werden, kommen konsumierbare Techniken zur Körper-Optimierung ins Angebot: "Organ- oder Gliederprothesen, Körperimitationen, immer perfektere künstliche Abbilder bis hin zur Produktion genetischer Duplikate eines Lebewesens". (Attali 1981, 226)
Leben ist ein Gut, das es optimal zu verwalten gilt. Informationstechniken bieten sich an, die kostbaren biologischen Ressourcen ebenso wie die verknappten medizinischen Leistungen zu verteilen und somit den Sachzwang zu organisieren. Chipkarten werden dabei als Rationierungsinstrumente dienen. Sie ersetzen den Kontakt mit einem Menschen durch Kommunikation mit der Maschine. Gerade diese Kontrolle ohne Kontrolleure, anonym und unsichtbar, läßt Protest ins Leere laufen. Die Arbeitsteilung funktioniert: Techniker stellen die Instrumente zur Verteilung bereit; Gesundheitsökonomen berechnen, wer was bekommen soll und Bioethiker führen aller Öffentlichkeit vor, daß die vorgenommene Verteilung nach Kosten-/Nutzenkriterien ein Maximum an Glück produziert.
Eine informatisierte Gesundheitsbürokratie setzt auf ein feines Instrumentarium, mit dem sie regulierend in das Leben jedes einzelnen eingreifen und immer differenziertere, individuell abgestimmte Vorgaben machen kann, wie gelebt werden soll. Leibbilder integrieren die verschiedenen Beteiligten im Gesundheitswesen, indem sie sie auf ein gemeinsames Ziel hin orientieren. Ist ein Leibbild in Bürokratie und Technik gegossen und erstarrt, wirkt es wie eine Verhaltensanweisung - und verdrängt andere Sichtweisen auf den Menschen. Das Maschinenmodell ist ein solches Korsett. Es erleichtert, Menschen zu verwalten, einen Wahrheitsanspruch aber kann es nicht erheben.
Der Krankenschein ist das Abrechnungs- und Kontrollinstrument, das der Versichertenkarte voranging. Nach einer hundertjährigen Geschichte wurde er 1995 endgültig abgelöst. Man kann den Schein als Symbol für die Medikalisierung der Gesellschaft und die Bürokratisierung der Medizin sehen. Bei seiner Einführung symbolisierte er den Sieg der Ärzte über die Krankenkassen. Er festigte die Möglichkeit der Ärzte, allein zu bestimmen, was Krankheit ist und wie sie behandelt wird, ohne daß sich die Patienten einmischen. Die Entmachtung anderer Heilberufe, die Entmachtung der Selbsthilfe-Einrichtungen und Krankenkassen brachte die Vorherrschaft einer neuen Medizin.
In vielen Kulturen, die wir kennen, haben Heiler eine wichtige politische und kulturelle Funktion: ob es die traditionellen Medizinfrauen und -männer bei den amerikanischen Ureinwohnern sind, heilige Männer und weise Frauen im Mittelalter, oder wissenschaftliche Mediziner in der Neuzeit. Sie alle unterstützen und nutzen die gesellschaftliche Ordnung und das herrschende Denken ihrer jeweiligen Kultur. Wenn sie es nicht taten - wie die "weisen Frauen" im Spätmittelalter - wurden sie brutal verfolgt (Heinsohn/Steiger 1989). Heute verflechten sich politische Macht und herrschendes Weltbild mit der Medizin. Ein Symbol dafür ist die Krankenversichertenkarte. Der Einfluß der Medizin dehnt sich auf den Alltag aus, zugleich wird das Heilwesen als Verwaltungsapparat organisiert.
Nach Meinung vieler Ärzte und Patienten kam (und kommt) der Erfolg der Mediziner daher, daß sie einzelne Menschen heilen können. Das stimmt bei ihnen ebenso, wie es bei den weisen Frauen und den Medizinmännern stimmte. Aber das erklärt nichts. Bevor wir die Geschichte des Krankenscheins näher betrachten, wollen wir fragen: Kam der Aufstieg der Ärzte vor allem daher, daß sie Kranke besser gesund machten? Oder hatte er andere Ursachen?
Um 1850 herum ist der statistische Durchschnittsmensch in seinem ganzen Leben nie mit einem Arzt in Verbindung gekommen. Bei seiner Geburt hatte seinerzeit eine tüchtige Frau geholfen, die dafür bei den Frauen der Umgebung bekannt und angesehen war. Wenn er sich beim Arbeiten den Arm gebrochen oder verrenkt hatte, ging er zu einem dorfbekannten Schmied oder Schäfer, der schiente ihn oder renkte ihn ein. Wenn Herr Normalverbraucher Fieber bekam und hustete, trank er einen Tee aus Kräutern, die die Familie gesammelt oder auf dem Markt gekauft hatte, und machte sich heiße Umschläge. Als Herr Normalverbraucher in seinem Bett starb, hielt ihm seine Frau die Hand, die Kinder waren Zeugen der letzten Worte.
Heute wird Herr Normalverbraucher im Krankenhaus geboren, er stirbt auf der Intensivstation, und in der Zwischenzeit verbringt er bei jährlich zwölf Arztbesuchen einen Tag jedes Jahres im Wartezimmer. Der Arzt verschreibt ihm, noch ehe er sechzig ist, Medikamente für 235,-- DM pro Jahr, die meisten davon schluckt er. Herr Normalverbraucher sieht das als Gewinn. Der medizinische Fortschritt und die Krankenversicherung, so denkt er, haben mir eine längere Lebenserwartung und mehr Gesundheit gebracht.
Tatsächlich ist die Lebenserwartung gestiegen, vor allem die der Kinder. Vor 150 Jahren bekam eine Frau sechs bis acht Kinder, nur zwei oder drei davon erreichten das Erwachsenenalter. Frau Normalverbraucherin wurde damals keine vierzig Jahre alt. Heute überleben hier fast alle Kinder, und ihre Mütter können sich noch mit siebzig an ihnen freuen. Wenn man den Experten glauben darf, haben diese Veränderungen wenig mit medizinischer Behandlung zu tun. Früher waren viele Kinder vernachlässigt; Kinder und Erwachsene waren unterernährt, überarbeitet, schlecht gekleidet und wohnten in miserablen Quartieren. Sie starben deshalb früh an Infektionskrankheiten. Die Gründe für unser längeres Leben seien vor allem bessere Ernährung, daneben mehr Hygiene, bessere Wohn- und Arbeitsbedingungen, und neue Praktiken der Geburtenkontrolle.
Der englische Mediziner Thomas McKeown hat detailliert nachgewiesen, daß die Sterblichkeit zurückging, als diese besseren Verhältnisse eintraten (McKeown 1982: 57 ff.). Die "großen Killer", wie Pest, Pocken, Lepra und Cholera, können sich nur in ungünstigen Lebensverhältnissen ausbreiten. Die meisten anderen Infektionen würden bei günstigen Bedingungen und guter Pflege auch ohne ärztliche Hilfe geheilt. Andererseits stirbt fast jeder im Alter an chronischer Krankheit, auch wenn er ärztliche Fürsorge erhält. Zum Leben wird also nicht viel Medizin gebraucht. Jeder hat schon von Menschen gehört, die von Ärzten gerettet wurden, aber auch von welchen, die durch Medizin umkamen. Die Untersuchungen McKeowns sind in aktuellen Untersuchungen bestätigt worden, in der Wissenschaft widerspricht ihnen kaum noch jemand (vgl. Schellhaaß/Brenner 1994). Die Medizin sei eine kulturelle Veranstaltung, meint sogar der Gesundheitssystemforscher Prof. Arnold, langjähriger Vorsitzender des offiziellen "Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen" (1993: 159).
Anders könnte man auch die Forschungsergebnisse der amerikanischen Biochemikerin Lynn Payer (1989) kaum erklären. Sie verglich medizinische Statistiken aus England, Frankreich, Deutschland und den USA und fand dabei heraus, daß es bis heute sehr unterschiedliche nationale "Krankheitskulturen" gibt. Bei den deutschen Patienten werden z.B. die meisten Mängel am Herzen erkannt, englische und amerikanische Medizine geben eher Infektionen die Schuld, wenn es Patienten schlecht geht. In Frankreich gibt es eine Krankheit, verbunden mit Verkrampfungen, namens Spasmophilie. 14 % der Franzosen sind dafür anfällig. Außerhalb Frankreichs kommt die Krankheit kaum vor. Dafür werden bei französischen Frauen fast nie Probleme der Gebärmutter festgestellt, während ca. 55 % der älteren Frauen in den USA die Gebärmutter herausoperiert wird. Deutschland liegt in der Mitte (Payer 1989: 80, vgl. Arnold 1993: 51). Selbstverständlich stellen alle Ärzte streng wissenschaftlich die Diagnosen und behandeln mit hochwirksamen Mitteln. Die Patienten haben ihre Krankheiten ja wirklich.
Wenn die ärztliche Kunst nicht wissenschaftlich gesund macht, was macht sie dann? Medizinische Macht hat weniger mit Heiluenn die ärztliche Kunst nicht wissenschaftlich gesund macht, was macht sie dann? Medizinische Macht hat weniger mit Heilung als mit Politik, Geld und Wissenschaft zu tun. Im 19. Jahrhundert entstand ein Bündnis zwischen Ärzten, Staat und Wissenschaftsideologie. In Deutschland wurde dieses Bündnis mit der Krankenversicherung und dem Krankenschein verfestigt. Die deutschen Regierungen von Bismarck bis Hitler haben Alternativen der Laienbehandlung und der organisierten Selbsthilfe allmählich ausgeschaltet. Die Ärzte und ihre Medizin haben sich nicht nur politisch durchgesetzt. Ihre Muster von Gesundheit und Krankheit haben sich in unsere Köpfe und Körper eingeschrieben.
Um 1800 war der Arzt für seine Patienten nichts wesentlich Besseres als ein damaliger, chirurgisch gebildeter Barbiergeselle. Er hatte keine Praxisräume, sondern kam immer ins Haus und behandelte vor den Familienangehörigen. Diese standen um das Krankenbett herum, beobachteten ihn kritisch und erteilten ihm Ratschläge. Seine Diagnosen und Vorschläge wurden wenig ernst genommen. Die Autorität des Mediziners und das Vertrauen in seine Wissenschaft waren gering. Über Krankheitsursache und Therapie diskutierte er ausführlich, er mußte auf Argumente der Familie ernsthaft eingehen. Dabei hörte er sich ihre alltäglichen Klagen und Probleme an. So beklagten es die Ärzte damals in ihren Schriften (vgl. Huerkamp 1985: 25 - 28), so kann man es noch in Thomas Manns "Buddenbrooks" nachlesen. Damals erhielt der Arzt ein jährliches Pauschalgehalt dafür, daß er eine Familie versorgte (Huerkamp 1985: 27/28). Was ihm dort bekannt wurde, verriet er niemandem, sonst würde er Beruf und Einkommen verlieren. Seine Arbeit beruhte auf persönlicher Vertrautheit.
100 Jahre später hielt ein Arzt seine Sprechstunden in seiner Praxis ab. Das soziale Ansehen seiner Patienten war jetzt fast immer weit niedriger als sein eigenes. Der Arzt bat den Patienten ins Zimmer, dieser schilderte seine Symptome. Bestimmt und entschieden wies der Arzt an, sich zur Untersuchung auszuziehen, und verordnete seine Therapie. Erzählungen des Patienten aus dem beruflichen und privaten Leben würgte er entschlossen ab. Diskussion war nicht mehr vorgesehen. Über jede Behandlung schrieb der Arzt einen kurzen Report, in dem er über die Symptome des Patienten, über seine Diagnose und Behandlung berichtete. Diesen Report schickte er an die Krankenkasse. Die Beziehung zum Patienten war professionell und unpersönlich geworden (Huerkamp 1985: 154 - 161).
In den Untersuchungen darüber, was diesen Wandel bewirkt hat, kann man fünf Grundlagen ärztlicher Macht identifizieren. Erstens: Das neue Vorrecht von Ärzten, staatliche und wirtschaftliche Vor- und Nachteile zu verteilen, schuf eine soziale Abhängigkeit der Patienten, eine direkte politische Über-Macht. Dazu kam zweitens die Macht des Verfahrens-Monopols: nur Ärzte erhielten Zugang zu neuen, gesundheitlich wirksamen Mitteln und Techniken, anderen Behandlern waren sie verschlossen. Drittens gewannen die Ärzte gesellschaftliche Macht. Sie waren Teil des Bürgertums und nahmen an dem Aufstieg teil, den diese Schicht im 19. Jahrhundert nahm. Während der Arzt gegenüber einem adligen Rittergutsbesitzer eine zweitrangige Existenz war, konnte er mit einem Fabrikanten von gleich zu gleich reden. Er erhielt realen Einfluß, politische Mitsprache. Parallel dazu wurde die ärmere Masse der Bevölkerung zur Klientel der Ärzte. Mediziner nahmen teil am Verwalten und Organisieren der Gesellschaft.
Verstärkt wurden diese realen Machtfaktoren durch ideologische und psychische Macht. Hinter den Ärzten standen die Naturwissenschaft und das Ingenieurwesen, die im 19. Jahrhundert einen Siegeszug ohnegleichen erlebten. Das Weltbild der Menschen wurde dadurch völlig verändert, ihre überkommenen Traditionen und Erfahrungen schienen entwertet. Das wissenschaftliche Wissen handelte von tief verborgenen Kräften, die nur die Männer der Wissenschaft verstehen und kontrollieren konnten. Zu ihnen gehörten die Ärzte, die damit (viertens) Wissens-Macht erwarben. Dazu kam als fünfte Säule ihre Macht, Krankheiten und Therapien zu definieren. Ärzte wurden akzeptierte Autoritäten. Die akzeptierte Autorität eines Heilers kann sehr zur Gesundung beitragen. Sie kann dem Patienten helfen, innere Kraft zu schöpfen und seine Einstellungen zu ändern. Diese fünf Säulen medizinischer Macht stützten und stärkten sich gegenseitig. Schon vor Einführung der Krankenversicherung hatten die Ärzte ihre Position dadurch wesentlich verbessert. Die Krankenversicherung hat ihre Macht weiter gesteigert.
In den Städten und Gemeinden Preußens und anderer deutscher Länder gab es seit dem 18. Jahrhundert eine Armen- und Krankenfürsorge insbesondere im Spital, dem Vorläufer des Krankenhauses. Von einer ärztlichen Behandlung, wie sie die Oberschicht erhielt, war bei ihnen nicht die Rede. Es war bei Ärzten gang und gäbe, den Kranken der Unterschicht selbst die Schuld an ihren Lebensumständen und ihrer Krankheit zu geben, und in ihnen Experimentier-Objekte zu sehen. Die Armen lernten den Arzt aus einer Position der Angst und Abhängigkeit kennen (Huerkamp 1985: 41).
Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht kam dazu die Macht der Militärärzte, die die Wehrpflichtigen auf Tauglichkeit untersuchten. Schon damals hatten gerade im ärmeren Teil der Bevölkerung viele Rekruten nichts dagegen, untauglich zu sein. Um so wichtiger war es, einen "objektiven" gesundheitlichen Befund eines Menschen produzieren zu können. Erforderlich war eine neue Art der medizinischen Untersuchung. Ihr Zweck bestand nicht mehr darin, die richtige Therapie zu bestimmen, sondern darin, einen Befund zu produzieren, ohne daß der Untersuchte mitwirkte.
Ähnlich war es mit der wachsenden Zahl der Arbeitsinvaliden und Kriegsopfer. Sehr viele Menschen arbeiteten sich an überlangen Arbeitstagen und ungesunder Arbeit kaputt, ohne daß sie gleich daran starben. Invalide Bergleute erhielten Unterstützung von der Knappschaft, manche Arbeiter bekamen Beihilfen von den Gewerkvereinen der Unternehmer. Dazu mußte wissenschaftlich und objektiv festgestellt werden, ob diese Menschen wirklich nicht arbeiten konnten und wirklich an der Arbeit erkrankten. Ähnliches galt für die Kriegsopfer und später dann für die Krankschreibung, die Arbeitsunfähigkeit.
Früher hatte ein Mediziner sich auf den Bericht des Patienten und seiner Familie gestützt, um etwas über ihn herauszufinden. Medizinische Lehrbücher gingen aus von Aussagen des Patienten, was er gegessen hatte, was ihm weh tat, wann und wo er etwas gespürt hatte. Medizin war vor allem eine Gesprächskunst. Ihre Grundlage waren Erfahrungen und Überlieferungen, was schon einmal bei welchen Symptomen geholfen hatte. In der Säfte-Lehre Galens führten Krankheiten zu Stimmungsveränderungen. Es war unmöglich, zu wissen, was der Patient hatte, ohne ihn zu fragen (Reiser 1978: 8 ff). Mit diesem Wissen konnte man bei der Musterung und Invalidenuntersuchung nichts anfangen. Um den "objektiv" Arbeitsunfähigen oder Kriegsunfähigen vom Simulanten zu unterscheiden, brauchte man neue Methoden und ein technisches Bild vom Menschen (Stone 1993: 49; Reiser 1978: 93).
In der Gutachtermedizin trat an die Stelle des Gespräches die direkte körperliche Untersuchung. Dazu mußten Ärzte erfinderisch werden. Sie erfanden das Abklopfen der Lunge , um deren Größe und Lage festzustellen. Mediziner konstruierten einen metallenen Blasebalg, in den hinein die Untersuchten ausatmen mußten, um ihr Lungenvolumen zu messen, sowie den Augenspiegel, um den Augenhintergrund zu untersuchen. Die Urinuntersuchung wurde verfeinert, Ärzte erfanden die Reflexprüfung mit dem Hammer und die Blutuntersuchung. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit standen jetzt nicht mehr die Klagen des Patienten, sondern verborgene physiologische Tatsachen (Reiser 1978: 43).
Diese neuen Untersuchungsmethoden wurden sehr schnell in die täglichen Behandlungen der Krankenhäuser und Privatärzte übernommen. Weitere Techniken kamen hinzu, wie z.B. die Magensonde und das Stethoskop. Seit damals haben Mediziner eine Vorliebe für Verfahren, die ihnen einen Informationsvorsprung vor den Patienten verschaffen (Reiser 1978: 43 ff.). Einige Mediziner kritisierten damals, daß die Technik keinen therapeutischen Nutzen hätte: für abnormale Befunde war gar keine Therapie bekannt. Doch die Ärzte merkten sehr schnell, welchen Gewinn an Autorität die körperlich-mechanische Untersuchung brachte. Sie erleichterte es dem Arzt, der Krankheit einen Namen zu geben, und eine glaubwürdige Voraussage über den weiteren Verlauf zu machen. Die Unsicherheit und Angst der Patienten wurde damit verringert (Reiser 1978: 33). Außerdem bewirkte die Diagnose wissenschaftliches Gewicht: Sie war die Bestätigung, daß man wirklich litt. Ein objektiver, naturwissenschaftlicher Name für das eigene Leiden hat bis heute seinen Wert, um die Fürsorge zu erhalten, die man dringend benötigt, während es einem schlecht geht (Stone 1993: 52 f.).
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts konkurrierten Ärzte mit Feldschern, Barbieren, Wundärzten und Hebammen um zahlungsfähige Kranke, ohne mit der Qualität ihrer Behandlungen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu erreichen. Mediziner waren gegenüber Laien-HeilerInnen weit in der Minderzahl. Bei der Geburtshilfe war damals die Inkompetenz der Ärzte sprichwörtlich. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich das auch durch neu erfundene Behandlungen.
Zum einen betrafen diese Neuerungen das Operieren. Bis 1870 wußte man noch nicht, daß extreme Sauberkeit (Sterilität) die Erfolgsaussichten von Operationen wesentlich verbessert. Zuvor waren sehr viele Patienten, denen z.B. nach einem Unfall ein Körperteil amputiert werden mußte, an Entzündungen und Wundbrand gestorben. Kaiserschnitte wurden kaum jemals vorgenommen, und wenn doch, dann überlebte die Mutter in den seltensten Fällen. Jetzt wurde das Operationsrisiko viel geringer (Huerkamp 1985: 133 ff). Außerdem wurde es möglich, wesentlich schmerzloser zu operieren, denn man konnte mit Chloroform betäuben. Sterile Operationen mit Betäubung waren aber nur im Krankenhaus möglich, wo Laien-Heiler keinen Zugang hatten. Es war der alleinige Erfolg der Ärzte. Er kam zwar nur wenigen Menschen zugute, aber die Berichte darüber steigerten ihren Ruf wesentlich (Huerkamp 1985: 135 f.).
Neben dem Chloroform kamen im 19. Jahrhundert noch Morphium und Chinin auf. Auf Drängen der Ärzte durften diese und viele andere Medikamente nur gegen ein von ihnen ausgestelltes Rezept verkauft werden. Opiate wurden im 19. Jahrhundert weit häufiger als heute verordnet. Morphium und Chinin brachten für viele Menschen die Erfahrung, daß Ärzte extrem wirksame Mittel zur Fiebersenkung, Schmerzstillung und Bekämpfung der Schlaflosigkeit hatten. Ihre Wirksamkeit stellte alles, was man aus dem Kräutergarten kannte, weit in den Schatten. Das schien die Überlegenheit der Ärzte gegenüber anderen Heilern zu bestätigen- ohne daß die Menschen dadurch gesünder wurden. Der alleinige Zugang der Ärzte zum Krankenhaus und zum Morphium, und ihr exklusives Recht, eine "objektive" Krankheit zu bescheinigen, gehörten zu ihrer Verwaltungsmacht. Diese wurde zur Grundlage der Überlegenheit ihrer Medizin.
Man darf nicht vergessen, welche Folgen es hatte, die Welt mechanisch und den Menschen als Maschine zu sehen. Das half dem Bürgertum und Unterschicht, sich aus der Bevormundung von Kirche und Aristokratie zu befreien. In der mittelalterlichen Ideologie waren Krankheiten die Strafen Gottes. Ihre Ursachen und Folgen galten als gottgewollt. Wer behauptete, man könnte daran etwas ändern, betrieb Volksverhetzung. Die Naturwissenschaftler kritisierten die schlechten Verhältnisse und die Ideologie, die sie stützte. Nach Descartes und La Mettrie steckte im Menschen nichts Göttliches, Unbegreifliches. Die Fürsten, Könige und Bischöfe waren genauso eine Maschine aus Röhren, Pumpen und Nervenleitungen, wie jeder von uns. Wenn eine Dampfmaschine im Freien steht und schlechte Kohlen bekommt, geht sie kaputt, genauso ist es mit den Menschen. Statt auf Sünden, Missetaten und ewige Gebote zu schauen, richteten die Bürger deshalb ihren Blick immer häufiger auf ihre Lebensverhältnisse, wenn es ihnen schlecht ging. Die Medizin half eine Zeitlang dabei.
Viele Mediziner in Deutschland sympathisierten mit den Ideen der Revolution von 1848 und beteiligten sich an ihr, z.B. der linksliberale Pathologe Rudolf Virchow. 1848 verfaßte er seine "Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie". Darin machte er Elend und Armut als Ursachen der Seuche dingfest und forderte Reformen als Therapie. Virchow gehörte zu den Urhebern der Zellpathologie, der Lehre von der Zelle als Grundbaustein des Lebens. Den Organismus sah er als "Zellstaat". Damit begann in Deutschland die Abkehr von der bis dahin herrschenden Säfte-Lehre. Mit mechanisch-technischen Ideen darüber, wie der Mensch funktioniert, erforschte Virchow die Ansteckung mit Krankheitserregern und ihre Wirkungen im Körper. Auf derselben Grundlage machte er Vorschläge zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit. Virchow war nebenher Politiker und Journalist. Auch auf seine Forderungen hin wurde in Berlin für die arme Mehrheit der Bevölkerung die Wasserversorgung und die Kanalisation verbessert, dadurch wurden Typhus und Cholera eingedämmt.
Das Beispiel Virchows zeigt den Wechsel der Leitideen in der Medizin des 19. Jahrhunderts. Einerseits setzte sich das mechanistische Menschenbild völlig durch. Andererseits wurde der Zuständigkeitsbereich der Medizin erweitert. Zur Hilfe in der Not des einzelnen kam die Sorge um die Volksgesundheit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten die Städte und Gemeinden viele Ärzte in den öffentlichen Gesundheitsdienst ein. Was vorher oft eine unentgeltliche Ehrenpflicht war, wurde zur bezahlten Beschäftigung. Ihr Schwerpunkt verschob sich. Früher bedeutete Armenpflege vor allem Gesundheitsfürsorge für individuelle Arme. Jetzt ging es um mehr: die Organisation des Schlachthofes, die Verhältnisse auf dem Gemüsemarkt und beim Fischhandel, die Sanierung des Armenviertels (Huerkamp 1985: 167 - 177). Die Ärzte nahmen Teil an einer neuen Art von Verwaltung: Nicht mit Drohung, Gewalt und Indoktrination, sondern durch Regulierung und Erziehung wurden die Menschen gezähmt und die Kräfte des Landes gestärkt. An dieser neuen Art der Herrschaft waren die Ärzte von Anfang an beteiligt.
Die Medizin war wichtig für die Kritik der religiösen Sicht der Welt. Eine Zeitlang machte sie deutlich, daß nicht höhere, unantastbare Gesetze das Schicksal der Menschen bestimmen, sondern der Mensch selbst. Fast gleichzeitig übernahmen Mediziner, später auch Psychologen, die frühere Funktion der Prediger und Beichtväter. Sie fanden Erklärungen, warum bestimmten Menschen ein bestimmtes Schicksal innewohnt. Damit entlasteten sie die Menschen ebenso von ihrer Verantwortung, wie es vorher die Religion getan hatte, und rechtfertigten zugleich schlechte Zustände.
Zum Beispiel schrieb die Medizin im 19. Jahrhundert den Frauen geringere geistige Fähigkeiten zu. Man entdeckte bei ihnen die Gebärmutter, die die Frauen zu Gefühlsmenschen machte. Damit war die Frage, warum alle Frauen am Herd standen, wissenschaftlich geklärt. Die Gebärmutter war auch Sitz einer nervösen Störung, der "Hysterie" (lat. Hystera = Gebärmutter). Wenn eine Frau z.B. vor Angst und Wut weinte und zitterte, war sie krank und litt an Hysterie. Sie wurde mit Operationen, Medikamenten und ab 1900 mit Elektroschocks behandelt, an ihrer Umgebung und ihrer Situation brauchte man nichts zu ändern. Die meisten "Hysterikerinnen" glaubten selbst an ihre Krankheit. Sie hatten oft unwillkürliche Krämpfe, die die Ärzte damals erwarteten (Shorter 1994: 167 - 203). Gleichzeitig mit dem Aufkommen der Frauenbewegung ist die Hysterie verschwunden.
Mediziner meinten, ebenso aussagekräftige körperliche Besonderheiten an Kriminellen, Asozialen und Verrückten zu entdecken. Ärzte, die solche Entdeckungen machten, wurden berühmt und erhielten wissenschaftliche Institute. Sie konnten nicht nur die Kriminalität und die Lage der Frauen erklären. Sie versprachen auch, hysterische Frauen oder Kriminelle durch eine Behandlung zu normalen Menschen zu machen.
Die wissenschaftliche Autorität der Ärzte wuchs auch dadurch, daß immer größere Teile der Bevölkerung seit 1848 mit den sozialistischen und liberalen Ideen symphatisierten. Diese Ideen bescheinigten der Naturwissenschaft mythische Großartigkeit. Fortschritt war das Zauberwort liberaler und sozialistischer Parteien. Zu den Trägern des Fortschritts gehörten die wissenschaftlichen Ärzte. Die mechanisch-körperliche Untersuchung und die Entdeckung vieler Krankheitserreger waren Beweise dafür, daß die Mediziner mit den Mächten des Fortschritts im Bunde standen.
Daher kam die Mißachtung der Schäfer, Wundärzte, Heilkundigen und weisen Frauen. Daß die Laien-HeilerInnen zweitrangig waren, meinten gerade die "fortschrittlichen" politischen Kräfte, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker wurden. Aus der Sicht der Sozialdemokratie war es ungerecht, daß die kranke Arbeiterin zum Kurpfuscher ging, während die Bürgerin sich den Arzt leistete. In der Wirksamkeit der Therapien dürfte der Unterschied zwischen Laienbehandlern und Ärzten meist gering gewesen sein. (Manche Arbeiter gingen, ihrer Partei zum Trotz, weiter zu ihren Laien-Behandlern, den "Naturärzten". Viele Ortskankenkassen haben deshalb im 19. Jahrhundert zusätzlich zu Ärzten noch Laien-"Heildiener" zur kostenlosen Behandlung angeboten (Huerkamp 1985: 274; Göckenjan 1985: 351).)
Verwaltungsmacht, körperlich-technische Untersuchung und Wissenschaft stärkten die Autorität der Ärzte so, daß ihre Anordnungen selbst zum Machtfaktor wurden. Viele Kranke wurden durch ihren Glauben und ihren Gehorsam geheilt. Ihre Geschichten schienen die Überlegenheit der Medizin zu bestätigen. Diese Wirksamkeit konnte sich im 19. Jahrhundert auf neuen Gebieten erweisen.
Im Verhältnis zum Individuum kamen zusätzliche Aufgaben auf die Behandler zu. Wenn jemand nicht an sichtbaren Gebrechen litt, hieß das im Mittelalter, daß er vollständig war und genügte. In der bürgerlichen Welt reichte das nicht mehr aus. Geistesgegenwart, Spannkraft, Sensibilität, Geduld, Schönheit, Frische waren gefordert. Jeder sollte all das haben können, jeder war seines Glückes Schmied. Kopf und Körper des Menschen wurden Waffe und Werkzeug des individuellen Erfolgs .
Umgekehrt kamen von Kopf und Körper aber viele Hemmungen, die die volle Funktion behinderten. Einerseits wehrten sich die Menschen unbewußt mit Körper und Geist gegen die neuen Anforderungen und Zumutungen. Sie produzierten sichtbare Krankheit. Ihr Körper erteilte ihnen Urlaub vom Anpassungsdruck; sie setzten sich außer Funktion, ohne daß sie etwas dafür konnten. Andererseits verfolgten die Menschen mit neuer Aufmerksamkeit ihr Funktionieren. Sie nahmen mehr an sich wahr, als früher. Die Bürger forderten von den Ärzten, daß sie diese Symptome und Wahrnehmungen interpretierten und behandelten. Sehr viele Krankheiten, so wird heute gesagt, seien auch psychosomatisch bedingt. Für den Erfolg eines Heilers ist dann entscheidend, daß er eine glaubwürdige Diagnose und eine passende Therapie definieren kann. Diagnose und Therapie müssen den Interessen des Kranken entsprechen und ihm Sicherheit geben. Dann können sie zur Grundlage eines Bündnisses zwischen Patient und Behandler werden, das zur Gesundung und Anpassung führt (Shorter 1994: 443 - 446).
Die Anforderungen an die Leistung des einzelnen sind im 19. Jahrhundert immer intensiver geworden. Dadurch wurde eine viel größere Aufmerksamkeit für Körper und Krankheit erzeugt. Alterungs- und Verschleißerscheinungen wurden ein neues Feld für ärztliche Definitionsmacht. Immer mehr Menschen überlebten das 35. Lebensjahr. Sie waren in ihrer Arbeit gesundheitlich verschlissen worden, dazu kam die natürliche Alterung. Nur der Arzt konnte ihnen bescheinigen, daß z.B. ihre Gelenkschmerzen Rheumatismus waren und ihre Rückenschmerzen Bandscheibenschäden. Nur er konnte sie später deswegen krank schreiben, ihnen wirksame Schmerzmittel verschaffen. Die Definitionsmacht über "Krankheiten" von Menschen und die Verwaltungsmacht (Krankschreibung, Kuren, Rezepte) gehörten zusammen.
Ihre neue Autorität und ihr Kontakt zur Naturwissenschaft hat es den Ärzten ermöglicht, Krankheiten und Therapien zu definieren, die die Patienten angenommen haben, und die deren Umgebung ernst nahm. Andere Behandler konnten das nicht ebenso gut tun. Diese Definitionsmacht hat wesentlich zur medizinischen Macht beigetragen.
Die Medizin brauchte im 19. Jahrhundert nicht sehr erfolgreich zu heilen, um wirksam zu sein. Sie war so eng mit der Naturwissenschaft, dem Fortschritt und der Macht verbunden, daß ihr Aufstieg folgerichtig schien und geräuschlos vor sich ging. Am Ende des vorigen Jahrhunderts war die Gesprächsmedizin durch die mechanisch-technische Untersuchung abgelöst. Die Medikalisierung der Gesellschaft, von der Soziologen sprechen, war weit vorangeschritten.
Die Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung war eine Folge dieses Siegeszugs der Naturwissenschaft. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die ärztliche Behandlung zu einem Grundbedürfnis vieler Menschen. Medikamente, Krankengeld und Rente bekam man nur, wenn der Arzt eine Bescheinigung ausstellte. Die Abhängigkeit von Ärzten wurde so groß, daß auch die Solidarität der Arbeiterbewegung dagegen nichts mehr ausrichtete.
Selbsthilfeorganisationen der Gesellen für den Krankheitsfall sind in Deutschland seit dem Mittelalter bekannt. Einige davon haben bis heute als Krankenkassen überlebt: neben der Knappschaft der Bergleute z.B. die Buchdrucker-Krankenkasse von 1824 und die Hamburger Zimmerer-Krankenkasse. Ihre Grundsätze waren Selbstverwaltung und gegenseitige Hilfe unter Zunftkollegen. Die Unterstützung im Krankheitsfall war ausschließlich finanzielle Beihilfe, um den Lohnausfall zu kompensieren (Rodenstein 1978: 115)
Die erste Selbsthilfeeinrichtung, in der auch medizinische Hilfe geleistet wurde, entstand während der Revolution von 1848. 1849 wurde der "Gesundheitspflegeverein der deutschen Arbeiterverbrüderung" in Berlin gegründet. Er nahm eine Reihe von sympathisierenden Ärzten unter Vertrag, die von allen Mitgliedern gewählt wurden, und bei denen sie sich kostenlos behandeln lassen konnten. Die Ärzte erhielten vom Verein ein ermäßigtes Honorar, das aus den Mitgliedsbeiträgen bestritten wurde. Sie mußten über ihre Tätigkeit ein Journal führen, an den Mitgliederversammlungen teilnehmen und waren dem Vereinsvorstand rechenschaftspflichtig (Hansen u.a. 1981: 31 ff.).
In einer öffentlichen Sitzung des Vereins jeden Sonntag nahmen mehrere Vereinsärzte, der Vereinsvorstand und viele Versicherte teil. Dort wurden Streitfälle geklärt und kostspielige Therapien bewilligt, z.B. größere Kuren und Reisen oder zweifelhafte Einweisungen ins Krankenhaus. Zur Arbeit des Vereins gehörte es, die gesellschaftlichen Ursachen der Krankheit zu untersuchen und auf ihre Beseitigung hinzuwirken (Hansen u.a. 1981: 35). Innerhalb weniger Monate wurden 8.000 Arbeiter in Berlin Mitglied. Sie hatten Mitgliedsausweise aus Papier, auf denen die Zahlung ihrer Beiträge verzeichnet war. Mit ihnen wiesen sie sich bei den Vertragsärzten aus. Nach der Niederlage der Revolution wurde der Verein 1853 polizeilich verboten (Hansen u.a. 1981: 47 ff.).
Noch im Revolutionsjahr 1849 wurde in Preußen den Gemeinden das Recht eingeräumt, Krankenkassen für Fabrikarbeiter einzurichten, für die dann Mitgliedschaftspflicht bestand. Der Beitrag dieser Zwangskassen, wie sie damals genannt wurden, wurde den Arbeitern vom Lohn abgezogen. Das Interesse der Gemeinden war aber gering. 1868 waren erst etwa 500.000 Arbeiter in Ortskrankenkassen versichert, ungefähr ein Viertel der Fabrikarbeiter Preußens. Ihren Mitgliedern wurden Ausweise ausgestellt, die sie den Vertragsärzten vorlegten. Die meisten Kassen hatten nur einen Vertragsarzt, von dem sich alle Mitglieder behandeln lassen mußten (Rodenstein 1978: 126 ff.; Huerkamp 1985: 194 - 195).
Parallel dazu entwickelte sich eine Alternative. Seit den 1860er Jahren gründeten die Gewerkschaften eigene Hilfsorganisationen für Krankheitsfälle. Gemeinsam mit den älteren Gesellenkassen waren das die Freien Hilfskassen. Wer Mitglied war, mußte nicht in die Zwangskasse eintreten. Bis 1893 hat es über 600 solche freien Hilfskassen gegeben. Ihre Leistungen waren ausschließlich Geldleistungen. Der Versicherte mußte von dem erhaltenen Geld selbst die Behandlung und das Krankenhaus bezahlen, es blieb ihm überlassen, auf welche Weise er seine soziale Not linderte.(Rodenstein 1978: 117 ff.; Göckenjan 1985: 341 f.). Auf dem Höhepunkt 1890 waren in Deutschland über 800.000 ArbeiterInnen mit ihren Familien in freien Hilfskassen organisiert (Rodenstein 1978: 146), obwohl deren Beiträge höher waren als die der Zwangskassen. Wichtig war, daß die Mitglieder sich ihre Krankheit nicht von einem Arzt bescheinigen lassen mußten. Die Zahlungen im Krankheitsfall waren vor allem Lohnersatz. Die Versicherten erhielten außerdem oft Geld für die Behandlung beim Arzt oder Laien-Behandler, die Kosten wurden nach einem festen Satz erstattet . Manche Hilfskassen boten ihren Versicherten daneben einen Vertragsarzt an (Göckenjan 1985: 342).
Die freien Kassen lagen deshalb im Dauerstreit mit den staatlichen Versicherungsämtern. Diese reglementierten die Hilfskassen und verboten sie, wenn sie nicht den Vorschriften nachkamen, die für Versicherungen galten. Gemeinsame gesundheitliche Selbsthilfe ist mit dem Prinzip der Versicherung eigentlich unvereinbar. Den Hilfskassen wurde diese Rechtsform aufgezwungen. Sie versuchten, ihre Probleme zu umgehen, indem sie den Mitgliedern keine bestimmten Unterstützungsbeträge für den Krankheitsfall versprachen. Die Mittelverteilung gab aber immer wieder Anlaß zu Streitigkeiten mit der Aufsichtsbehörde (Gesundheitswesen 1973: 90; Rodenstein 1978: 147).
Das Prinzip der Versicherung ist, daß man bei Eintreten eines juristisch definierten Ereignisses rechtlich bestimmte Ansprüche gegen den Versicherungsunternehmer hat, die im voraus feststehen. Dafür zahlt man seine Versicherungsprämie. Das bedeutet:
nämlich der Arzt. Die einzige zulässige Kontrolle der Ärzte ist eine rechtsförmige Kontrolle: durch Juristen oder durch andere Ärzte, die von der Krankenversicherung bezahlt werden. Die Versicherten sind von der Kontrolle ausgeschlossen.
Im Wettbewerb zwischen staatlich reglementierter und selbstorganisierter Krankenhilfe brachten die Bismarckschen Sozialgesetze einen Umschwung zum Staat. Als erste der Sozialreformen wurde 1883 die Krankenversicherung als Pflichtversicherung eingeführt. Erklärtes Ziel dieser Reform war es, die Arbeiter davon zu überzeugen, daß der Staat auch für sie Vorteile hatte, um den revolutionären Bestrebungen der Sozialdemokratie das Wasser abzugraben (Rodenstein 1978: 143). Alle Versicherten erhielten Anspruch auf freie ärztliche Behandlung im Krankheitsfall, und auf Krankengeld bei Arbeitsunfähigkeit, die ein Arzt bescheinigen mußte. Die Arbeitgeber mußten 1/3 der Beiträge aufbringen. Wer Mitglied einer freien Hilfskasse war, brauchte keine Beiträge zu den neuen Zwangskassen zu leisten, allerdings zahlte auch der Unternehmer nichts für ihn.
Die Mitgliedschaft in den Freien Hilfskassen stieg trotzdem weiter an (Hansen u.a. 1981: 67). In Chemnitz, einer Hochburg der Arbeiterbewegung, nahm die Ortskrankenkasse 1885 mehrere Heilpraktiker unter Vertrag. Sie hoffte, damit die Abwanderung der Arbeiter zu den Hilfskassen zu stoppen. Damit löste sie einen Proteststurm der Ärzte aus, der jedoch vergeblich war: die Heilpraktiker blieben (Huerkamp 1985: 274). Aber es zeigte sich, daß das Anwachsen der Freien Hilfskassen auf diese Weise nicht gestoppt werden konnte.
1892 fiel schließlich der entscheidende Schlag: Die Hilfskassen wurden verpflichtet, den Versicherten unentgeltliche ärztliche Behandlung zur Verfügung zu stellen. Das Prinzip der im voraus feststehenden "Ansprüche auf Sachleistungen" wurde auch für sie obligatorisch. Hierzu hatten sie aber zu wenig Geld. Das ärztliche Behandlungsmonopol brach ihnen das Genick, ihre Mitglieder traten in die Pflichtkassen ein (Rodenstein 1978: 147 f.; Hansen u.a. 1981: 69). Die Zeit der Selbsthilfe der Arbeiter war damit vorbei. Die Auseinandersetzung verlagerte sich in die Selbstverwaltung der Pflichtkassen hinein. Ab 1893 konzentrierte sich die SPD darauf, Sozialdemokraten in ihre Vorstände wählen zu lassen und somit deren Politik zu beeinflussen. Es gelang ihr in kurzer Zeit, die Vorstände vieler Krankenkassen zu erobern und die hauptamtlichen Posten in ihnen mit Sozialdemokraten zu besetzen. Die künftigen Auseinandersetzungen wurden zwischen den Krankenkassenvorständen und den Ärzten ausgetragen.
Bei der Einführung der Pflichtversicherung waren die Kassen mit einem vierfachen Ärztemonopol konfrontiert, das bis heute fortbesteht:
Die Krankenkassen sind also zwingend auf die Mitarbeit von Ärzten angewiesen. Trotzdem haben sie jahrelang ihre Mitbestimmung bei der Krankenversorgung gewahrt. Erst durch die Ärztestreiks und schließlich durch den Nationalsozialismus wurde es ihnen unmöglich, die Behandlungen und ihre Kosten zu beeinflussen. Krankenscheine und Versichertenausweise waren Symbole der Machtverteilung.
Vor 1893 war das Ziel der Krankenkassen eine möglichst billige Behandlung gewesen. Sie nahmen einen Arzt unter Vertrag, der für einen festen Betrag alle Kassenmitglieder bei Krankheit krank schrieb und behandelte. Vor allem die Arbeitgeber waren an möglichst wenigen und möglichst kurzen Krankschreibungen interessiert. Die Kassenvorstände rügten Ärzte, die zu willfährig gegenüber den Wünschen der Versicherten waren. Wenn die Ärzte anders behandelten, als sie sollten, kündigten die Kassen ihren Vertrag und stellten einen anderen Arzt ein (Huerkamp 1985: 217). Die Versicherten wiesen sich beim Arzt mit einem Ausweis aus.
Auftraggeber des Arztes war jetzt nicht mehr der Patient, sondern die Krankenkasse. Ihr mußte der Arzt über seine Arbeit Rechenschaft ablegen. Das bedeutete, daß gegenüber der Krankenkasse das Arztgeheimnis nicht galt. Die Krankenkasse erfuhr von Krankheit, Behandlung, Verschreibungen, sie übte Druck auf die Ärzte und die Versicherten aus. Fast alle Kassen hatten nur wenige hundert Versicherte, so daß der Kassenvorstand die Behandlungen der einzelnen Versicherten persönlich kontrollierte (Göckenjan 1985, 353 - 355).
Die Forderung vieler Versicherter nach freier Arztwahl wurde laut. Die Versicherten wollten sich aussuchen, von welchem Arzt sie sich behandeln ließen. Davon erhofften sie sich bessere Behandlungen und weniger Strenge bei der Krankschreibung. Es kam oft vor, daß Versicherte gesund geschrieben wurden, obwohl sie sich zu schwach für die Arbeit fühlten. Bei freier Arztwahl konnten die Versicherten zu dem Arzt gehen, der am aufgeschlossensten war. Selbst wenn die Kasse ihnen mehrere Ärzte alternativ anbot, standen diese Ärzte unter der Aufsicht des Kassenvorstands und mußten um ihren Vertrag bangen, wenn sie anders behandelten, als der Vorstand es wollte. Die Sozialdemokratie gewann die Krankenkassenwahlen um 1890 mit ihrer Forderung nach freier Arztwahl. Doch dort, wo sie eingeführt wurde, zeigte sich ein Problem. Es war nicht der Anstieg der Arbeitsunfähigkeitszeiten (zumal die Versicherten nur 50 % ihres Lohns als Krankengeld erhielten,) sondern die Behandlungskosten . Sie stiegen dermaßen an, daß Kassen mit freier Arztwahl höhere Beiträge nehmen mußten. Die Mitglieder und ihre Angehörigen gingen immer häufiger zum Arzt, z.B. um sich ein Rezept abzuholen. Bei freier Arztwahl kostete jeder weitere Arztbesuch für die Krankenkasse zusätzliches Geld.
Die Kassenvorstände strebten damals an, die Beiträge im Rahmen zu halten und davon so viel wie möglich als Krankengeld an die Mitglieder zurückzuzahlen. Für Arzthonorare wollten sie möglichst wenig abzweigen (Rodenstein 1978: 152). Das Interesse der Ärzte war dagegen, aus dem Topf der Kassen möglichst viel Honorar zu schöpfen. Ärzte wetterten in ihrer Standespresse gegen die Begehrlichkeit der Versicherten, die nur krank feiern wollten. Statt ihnen Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen, bestellten sie die Versicherten lieber nach Feierabend wieder und wieder in ihre Praxis und verschrieben ihnen Medikamente. Sie selbst und die Arbeitgeber profitierten mehr von dieser Art der Behandlung.
Für die freie Arztwahl war der Krankenschein das Abrechnungmittel. Der Krankenschein war ein Gutschein für ärztliche Behandlung. Er wurde den Versicherten auf Antrag von der Krankenkasse ausgestellt, wenn sie krank waren. Damit gingen sie zum Arzt, dieser schickte der Kasse den Schein mit der Diagnose, den Behandlungen und seiner Rechnung zurück.
Mit der freien Arztwahl begann der Machtverlust der Krankenkassen. Sie konnten nicht mehr den Arzt auswählen, dessen Behandlung gefiel und dessen Gehaltsforderung im gesteckten Rahmen blieb. Es war nicht möglich, seine Behandlungen und Verordnungen zu überprüfen. Die Kassen wurden zur bloßen Zahlstelle (Läpple 1975: 206). So änderte sich bald die Mehrheitsmeinung der sozialdemokratischen Kassenvorstände. Sie bevorzugten Ende des 19. Jahrhunderts das System angestellter Ärzte: Vorstand und Kassenangestellte erhielten dadurch eine politische Aufgabe. Versicherte und Kassen gerieten aber in einen Interessengegensatz (Huerkamp 1985: 226 f.). Kontrolle der Ärzte würde auch Kontrolle der Versicherten bedeuten, auch im Interesse des Arbeitgebers. Es waren die Ärzte, die in harten Kämpfen die freie Arztwahl durchgesetzt haben, und die schließlich selbst die Kontrolle der Versicherten übernahmen.
Der Prozentsatz der Versicherten an der Gesamtbevölkerung stieg zwischen 1883 und 1914 von 20 % auf knapp 50 %. Entsprechend schmaler wurde der Anteil der potentiellen Patienten, die von den Ärzten privat behandelt werden konnten. Da die Ärzte an jeder Privatbehandlung drei- oder viermal mehr verdienten als an einer Kassenbehandlung, haben sie sich dieser Entwicklung widersetzt. Damit hatten sie aber keinen Erfolg.
Für die wirtschaftliche Lage der Ärzte wurde es immer wichtiger, wie die Kassenbehandlung abgerechnet wurde. Die meisten Kassen stellten eine begrenzte Zahl von Ärzten an und zahlten ihnen ein jährliches Pauschalhonorar nach Anzahl der versorgten Patienten. Damit hatten sie die Möglichkeit, die Preise zu drücken, denn es gab genug Ärzte. Wenn ein Arzt mit dem Honorar der Kasse unzufrieden war, konnte er ruhig kündigen, denn man fand schnell einen anderen, der bereit war, für dasselbe Geld zu arbeiten. So bewarben sich 1890 z.B. 150 Ärzte auf 19 Stellen, die der Berliner Gewerkskrankenverein ausgeschrieben hatte (Thiele 1974: 31). Die Kassen zahlten mehr Gehalt, als ein Arzt in freier Praxis verdienen konnte. Dafür mußte der Kassenarzt allerdings erheblich mehr Patienten behandeln. Auf diese Weise gelang es den Kassen, ohne große Beitragserhöhungen und trotz aller Medikalisierung die Versicherten kostenlos zu versorgen. Das bedeutete intensivere Arbeit der Ärzte, ohne daß diese mehr Geld erhielten. Damals entstand die Fünf-Minuten-Medizin. Ein Gespräch wie früher war gar nicht mehr möglich. Die körperliche Untersuchung, die mechanisch-technische Behandlungsmethode entwickelte sich zur einzig möglichen Arbeitstechnik des Kassenarztes. Diese Tätigkeit als Angestellter der Kasse erbitterte viele Ärzte. Die persönliche Beziehung zum Patienten mit ihrem Arztgeheimnis schien ihnen wirtschaftlich günstiger. Statt eines mächtigen Partners, der Kasse, standen ihm dann viele einzelne Patienten gegenüber. Kritischen Ärzten und Bürgern ging es andererseits darum, für die Versicherten eine angemessene Behandlung zu erreichen, wie sie die Wohlhabenden erhielten. Deshalb setzten sich viele Liberale und wenige Sozialdemokraten ebenfalls für die freie Arztwahl ein (Huerkamp 1985: 221-227).
Die große Mehrheit der Ärzte, einschließlich der angestellten Kassenärzte, schloß sich nach und nach der ärztlichen "Bewegung für freie Arztwahl" an. Seit 1900 war der Leipziger Kassenarzt Dr. Hermann Hartmann ihr Führer. Hartmann hatte die Forderung nach "freier Arztwahl" aufgegriffen. Von ihm stammt auch die Idee des Ärztestreiks. Durch einen Boykott sollten die Krankenkassen gezwungen werden, die freie Arztwahl einzuführen. Dr. Hartmann gründete den Leipziger Verband, den heutigen Hartmannbund, als wirtschaftliche Kampforganisation. Er begann, Gelder für eine Streikkasse zu sammeln.
Auf dem 30. Deutschen Ärztetag 1902 in Königsberg wurden gegen nur drei Gegenstimmen seine Forderungen beschlossen:
"1. Daß jeder Arzt, welcher Satzungen der ärztlichen Organisation und die Vereinbarung derselben mit den Kassen anerkennt, in die Organisation (der Ärzte, J.K.) aufgenommen werden muß.
2. Daß die Kassenmitglieder die freie Arztwahl unter den Mitgliedern der Organisation haben.
3. Daß die Pflichten der Ärzte den Kassen und Kassenmitgliedern gegenüber sowie die Gegenleistungen der Kassen ausschließlich durch die ärztliche Organisation mit den Kassen vereinbart werden.
4. Daß die Organisation als solche die Verantwortung für die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen übernimmt und deshalb allein befugt ist, die einzelnen Ärzte wegen Verletzung ihrer kassenärztlichen Pflichten zur Verantwortung zu ziehen.
5. Daß die Kassen und die ärztlichen Organisationen bei allen Verhandlungen als gleichberechtigte Partner erscheinen." (zit. n. Thiele 1974: 32/33).
Angestrebt war eine Umkehrung der bisherigen Machtpositionen. An die Stelle der Nachfragemacht der Kassen sollte das Angebotsmonopol der Ärzteorganisation treten . Die Kassen sollten nur noch mit der organisierten Ärzteschaft Verträge abschließen, nicht mehr mit einzelnen Ärzten. Dann könnten die Mediziner jeder Krankenkasse ihre Bedingungen diktieren, z.B. ihre Gebührenforderungen. Falls sich die Kasse nicht beugen sollte, würden sämtliche Ärzte gleichzeitig ihre Verträge kündigen und die Kassenmitglieder nur noch gegen Barzahlung behandeln.
Die Forderungen der Ärzte bedeuteten auch, daß künftig nur der Ärzteverband bestimmen wollte, was "richtige" medizinische Behandlung sei. Gegenüber einem solchen, vom Ärzteverband definierten Standard würden die Kassen und Patienten machtlos werden. Doch zunächst waren das nur Wünsche.
Ende des 19. Jahrhunderts unterlagen die Ärzte mit ihren Forderungen meist den Kassenvorständen. Wenn alle angestellten Ärzte bei einer Kasse gemeinsam mehr Geld forderten und mit Kündigung drohten, wurden sie entlassen und andere Ärzte angestellt. Jetzt schlossen die Ärzteorganisationen "Schutz- und Trutzbündnisse". Streikbrecher wurden mit standesrechtlichen Verfahren überzogen und in jeder Weise bloßgestellt und gemieden. Mit dieser neuen Taktik hatte der Hartmannbund Erfolg. In zwei spektakulären Ärztestreiks 1904 in Leipzig und Köln zwang er die größten Ortskrankenkassen in die Knie. Er setze Gebührenerhöhungen von über 100 % und freie Arztwahl durch. Während 1902 nur 8 % der deutschen Ärzte im Leipziger Verband waren, waren es zwei Jahre später 57 % (Huerkamp 1985: 283-296). Die Disziplin der Ärzte hielt. Sie gewannen von 1904 bis 1909 167 Konflikte mit den Kassen und setzten überall freie Arztwahl und mehr Honorar durch. Die Behandlungskosten, die die Kassen pro Mitglied und Jahr aufbringen mußten, stiegen von 1900 bis 1909 um 60 %. Das durchschnittliche Kassenhonorar eines Arztes hatte sich im gleichen Zeitraum annähernd verdoppelt (Huerkamp 1985: 207; Thiele 1974: 29). Der Kampf für Einzelleistungsvergütung und freie Arztwahl hat sich für die Ärzte gelohnt.
Seit damals gehen die Deutschen doppelt so oft zum Arzt, wie ihre europäischen Nachbarn. Sie verbrauchen auch wesentlich mehr Medikamente. Bei den Krankschreibungen lag Deutschland dagegen bis in die 60er Jahre unter dem westeuropäischen Durchschnitt. Das war die Art der Behandlung, die den Ärzten damals am meisten nützte.
Besiegelt wurde der Erfolg der Ärzte 1913. Um durchzusetzen, daß die organisierte freie Arztwahl in die Reichsversicherungsordnung aufgenommen wird, kündigten alle deutschen Kassenärzte ihre Verträge zum 31.12.1913. Sie wollten von diesem Zeitpunkt an in den Generalstreik treten. In letzter Minute, am 23.12.1913, kam es zum "Berliner Abkommen" zwischen Kassen und Ärzten. Danach mußten die Kassen für jeweils 1350 Versicherte einen Arzt anstellen. Bei der Auswahl dieser Ärzte bestimmten die Ärzteverbände mit. Die Anstellungsbedingungen wurden zwischen Hartmannbund und Kasse vereinbart. In Streitfällen fand ein Schiedsverfahren statt. Damit war es den Kassen unmöglich geworden, weiterhin die Konkurrenz zwischen den Ärzten auszunutzen. In fast allen Großstädten wurden die freie Arztwahl und die Einzelleistungsvergütung eingeführt (Thiele 1974: 41-42). Gleichzeitig haben die Krankenkassen die Verbandsmacht des Hartmannbundes offiziell anerkannt. In den Händen der Ärzte lag künftig die Definition von Gesundheit, Krankheit und Behandlung. Der Krankenschein setzte sich in ganz Deutschland durch.
Die Dialektik von Druck und Gegendruck hatte auch die Krankenkassen gründlich verändert. Sie gründeten Reichsverbände, um dem Hartmannbund eine zentralisierte Gegenmacht gegenüber zu stellen. In der Folgezeit haben diese Spitzenverbände die Krankenkassen-Politik immer mehr bestimmt. Die lokalen Vorstände der einzelnen Krankenkassen verloren ihre politische Aufgabe. Sie wurden zu reinen Verwaltungsgremien.
In der Weimarer Republik führten neue Ärztestreiks zu einer weiteren Festigung dieser Verbandsmacht. 1923 wurde den Krankenkassen die Vertragsfreiheit gegenüber den Ärzten per Gesetz genommen. Das "Berliner Abkommen" galt unbefristet weiter. Die Vertragsverhältnisse wurden künftig in einem staatlichen Organ geregelt, dem "Reichsausschuß der Ärzte und Krankenkassen", der mit Verbandsvertretern beider Seiten besetzt war. Dieser Ausschuß konnte mit Richtlinien die Behandlung und das Honorar regulieren. Die Verbandsbürokratie erhielt jetzt staatliche Macht.
Während der Weltwirtschaftskrise hat dann die Reichsregierung mit Notverordnungen die gesundheitlichen Rechte der Versicherten eingeschränkt. In der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 wurden die ärztlichen Honorare gekürzt; Behandlungen, Krankschreibungen und Rezepte sollten auf das Notwendigste beschränkt werden. Aus Angst vor einem neuen Ärztestreik erfüllte die Regierung Brüning einen lang gehegten Traum des Hartmannbundes: dessen Kassenärztliche Vereinigungen wurden zur einzigen Zahlstelle für das ärztliche Honorar Die Kassen zahlten einen festen Gesamtbetrag nach der Anzahl ihrer Mitglieder und nach deren Durchschnittseinkommen an den Hartmannbund: das Budget. Der Hartmannbund legte künftig fest, wie es entsprechend den von den Ärzten erbrachten Leistungen auf die Ärzte aufgeteilt wurde. Er bestimmte fortan die Methoden der Abrechnung, nahm Überprüfungen vor, verhängte Kürzungen und beschloß Mengenstaffeln für ärztliche Arbeit. Der Hartmannbund war dafür zuständig, zu überwachen, daß die Ärzte ihre Behandlung auf das unerläßliche beschränkten. Die Kassen schlossen die Behandlungsverträge mit ihm ab, nicht mehr mit dem einzelnen Arzt. Die Kontrolle der ärztlichen Tätigkeit, einschließlich der Kontrolle der Krankschreibungen, wurde von der Ärzteschaft selbst übernommen (Rodenstein 1978: 160).
Für den Patienten wechselte der Kontrolleur. Früher hatten Vertrauensärzte der Krankenkassen oft die Krankschreibungen und Medikament-Verschreibungen der Ärzte gekürzt oder aufgehoben. Jetzt funktionierte die Kontrolle für Patienten unsichtbar. Um die Kürzung des Honorars durch den Hartmannbund zu vermeiden, verschrieben die Ärzte von vorn herein keine teuren Medikamente und schrieben wenig krank. Sie erklärten den Patienten, Krankschreibung und Tabletten seien in ihrem Fall medizinisch nicht notwendig. Diese Art der Beschränkung erwies sich als erfolgreich, sie hat sich bis heute erhalten.
Die nationalsozialistische Regierung vollendete diese Regelung. Wie die Ärzte-Mehrheit 1931 gefordert hatte, wurden die Kassenärztlichen Vereinigungen im Herbst 1933 zu Körperschaften des öffentlichen Rechts, also zu staatlichen Institutionen. Alle zugelassenen Ärzte waren automatisch Mitglieder darin. 1934 übernahm der Hartmannbund über sie die Oberaufsicht, bis sie kurze Zeit später zusammengefaßt wurden in der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands.
Die Ärzte hatten jetzt fast alle standespolitischen Ziele erreicht. Der einzige Wermutstropfen war, daß die weitere Medikalisierung wegen des oben genannten Budgets nicht zu einer Erhöhung der Vergütung führen konnte. Ihr Einkommen erhöhte sich auf andere Weise. In den Jahren 1933 - 1938 wurden, unter aktiver Mitwirkung der Ärzteverbände, rund 8.000 jüdische Ärztinnen und Ärzte (rund 15 % aller Ärzte) aus ihrem Beruf vertrieben (Thom 1989: 43). Die Zahlungen der Kassen an die Ärzteschaft sanken nicht, so erhöhte sich das Einkommen der verbleibenden Ärzte. In der Blütezeit der NS-Rüstungswirtschaft, 1936 - 1939, spülten die höheren Einkommen der Versicherten automatisch mehr Geld in die Taschen der arischen Mediziner. Die meisten jüdischen Ärztinnen und Ärzte, die bis 1938 in Deutschland geblieben waren, wurden in die Konzentrationslager im Osten deportiert und dort ermordet (Thom 1989: 43).
Zum Programm des Nationalsozialismus gehörte auch, daß jeder Deutsche seinen Hausarzt hat. Medikalisierung wurde zur Staatspolitik. Es entsprach der NS-Logik, alle persönlichen Probleme als medizinische und biologische zu sehen. Wenn es jemandem schlecht ging, durfte die Ursache dafür kein gesellschaftliches Problem sein. Medizinische Probleme sind vereinzelte Probleme des Individuums. Über seine Ärzte konnte der NS-Staat diejenigen Menschen kontrollieren, die solche Sorgen hatten. Es galt die Pflicht zur Gesundheit (Kästner 1989).
Der Patient sollte dem Hausarzt bedingungslos vertrauen und ihn als seinen "Gesundheitsführer" ansehen. Dieser mußte dem Patienten helfen, die höchste Leistung für die Volksgemeinschaft zu erbringen. Seine Aufgabe war es, den Volksgenossen die Grillen, Zipperlein und Zweifel auszureden, und ihnen zu helfen, bei der Arbeit und in der Familie ihr Bestes zu geben. Der Arzt sollte sich sehen wie ein Offizier gegenüber seinen Soldaten: als Fürsorger, Ratgeber und Vorgesetzter für alle Lebensbereiche (Reeg 1993: 192; Schmiedebach 1980: 65 ff.).
Um ein gesundes Volk zu schaffen, sterilisierten deutsche Ärzte zwangsweise mehr als 300.000 Behinderte und "Arbeitsscheue", 80.000 Behinderte wurden auf ärztliche Entscheidung hin ermordet (Kästner 1989: 189). Reichsarbeitsminister Ley plante, alle arbeitenden Menschen alle drei bis vier Jahre in einer ärztlichen Vorsorgeuntersuchung examinieren zu lassen. Generalprobe waren Massenuntersuchungen bestimmter Geburtsjahrgänge und Gau-Bewohnerschaften 1936 - 1939, in denen einige Millionen Menschen durchgemustert wurden. Für diese Untersuchungen wurde ein Gesundheits-Stammbuch eingeführt. Darin sollten alle medizinischen Informationen über eine Person gesammelt werden: von der Hebamme über Hausärzte, Schulärzte, Hitlerjugend- und Wehrmachtsärzte bis zu Fachärzten und Betriebsärzten (Reeg 1993: 191). In Hamburg führte das Amt für Volksgesundheit der NSDAP einen ähnlichen Ausweis, den Gesundheitspaß, ein. Bis 1939 wurden 1,1 Millionen Hamburger erfaßt, mit Ausweisen ausgestattet und in einer Kartei registriert (Rothmaler 1993: 140). Die Deutsche Arbeitsfront und die Reichsgesundheitsführung planten, den "Gesundheitspaß" in ganz Deutschland einzuführen, und zwar auch als Berechtigungsausweis für Arztbesuche (Roth 1995: 43 - 47). 1943 wurde die Verwirklichung dieser Pläne auf die Zeit nach dem Sieg verschoben (Roth 1995: 51).
In den Jahren 1941 - 1945 wurde die Mehrheit der deutschen Ärzte zu Selektionszwecken herangezogen: als Feldarzt an der Front, als Arzt im besetzten Gebiet, Arzt für ein Kriegsgefangenenlager oder ein KZ; als Arzt in kriegswichtigen Betrieben, um die Arbeitsfähigkeit zu bescheinigen. Ihre kühle Distanz, der prüfende Blick auf den Patienten konnte sich weiter festigen. Diese Haltung gehört für viele noch immer zum Repertoire der ärztlichen Rolle.
In der sowjetisch besetzten Zone, später in der DDR, wurde nach 1945 ein neues System der ambulanten Gesundheitsversorgung errichtet. Dort gab es Ambulatorien (Gemeinschaftspraxen mit Ärzten aller Fachrichtungen) und Polikliniken, d.h. Abteilungen für ambulante Behandlung in Krankenhäusern. In der Weimarer Republik hatte es bereits einige derartige Einrichtungen gegeben, sie waren 1933 aufgelöst worden. Als Staat und Gewerkschaften in der DDR die Gesundheitsfürsorge übernahmen, haben sie diese Ansätze weitergeführt. An die Stelle der frei praktizierenden Ärzte traten zum einen Betriebsärzte in mehreren hundert Betriebspolikliniken und -ambulatorien. Von ihnen konnten sich die Beschäftigten oft während der Arbeitszeit behandeln lassen. Andererseits gab es öffentliche Ambulatorien und Polikliniken (Ruban 1981: 34 - 40).
Alle Ärzte wurden gegen festes Gehalt beschäftigt, eine Vergütung von Einzelleistungen gab es nicht. Pharma-Unternehmen und Apotheken waren verstaatlicht. Die Kosten des Gesundheitssystems waren ganz erheblich geringer als in der BRD (Ruban 1981: 104 - 106). Ökonomische Gesichtspunkte haben aber auch dort bei der Versorgung eine wesentliche Rolle gespielt. Behinderte, vor allem geistig Behinderte, sind oft in erschreckender Weise vernachlässigt worden. Das gleiche galt für alte, chronisch kranke Menschen. In der gesundheitsstaatlichen Überwachung war die DDR der BRD weit voraus. Eine Wiederbelebung der Laien-Heilkunde hat es nicht gegeben, und die ganzheitlichen Ansätze alternativer medizinischer Richtungen wurden nicht unterstützt. In der DDR ist die Idee des Wissenschafts-Staates verwirklicht worden, die sich nach 1890 in der deutschen Arbeiterbewegung durchgesetzt hatte. Für Selbsthilfe und Selbstverwaltung war kein Raum.
Nach 1989 wurden im Osten die bundesdeutschen Strukturen eingeführt. Im heutigen Land Brandenburg finanzieren die Krankenkassen noch ca. 40 Polikliniken weiter, weil sehr viele Menschen diese Versorgungsform bevorzugen, die außerdem preiswerter als private Praxen ist.
In Deutschland besteht das "Versorgungsmonopol" der Kassenärztlichen Vereinigung bis heute. Einige Strukturen von 1931/34 sind wiederhergestellt worden, soweit sie eine Zeitlang nicht gegolten hatten.
1955 wurde durch Gesetz der Budget-Zwang abgeschafft: die Krankenkassen durften die Tätigkeit der Ärzteschaft wieder nach Einzelleistungen bezahlen. Die Angestellten-Ersatzkassen machten zuerst davon Gebrauch, sie erstatteten den Ärzteverbänden alle abgerechneten Leistungen. Gemeinsam mit den Ärztekammern erstellten die Angestellten-Kassen eine eigene Gebührenordnung. In sie wurden mit der Zeit immer mehr Leistungen aufgenommen, die sich ein Arzt bezahlen lassen konnte, vor allem technische Leistungen. Die Folge war, daß Ersatzkassen-Patienten den Ärzten viel mehr Geld brachten, als die Versicherten der AOK. Deshalb wurden AOK-Mitglieder "schlechter" behandelt. Nur die anderen erhielten oft Laboruntersuchungen von Blut und Urin, Aufnahmen mit Ultraschall und Röntgen, auch Krankengymnastik und Physiotherapie. Viele gut verdienende Angestellte traten aus der AOK aus und in die Ersatzkassen ein. Unter diesem Druck führten auch die AOKs die Einzelleistungsvergütung und die Ersatzkassen-Gebührenordnung ein.
Technisierung der Medizin und aufgeblähte Gebührenordnung haben dafür gesorgt, daß die ärztliche Arbeit völlig neu organisiert wurde. Arztpraxen wurden tayloristisch gestaltet. Wie ein Werkstück auf dem Fließband durchläuft der Patient die Bearbeitungsstationen in der Facharztpraxis (vgl. Schlicht 1994: 28 - 32). Jedem Bearbeitungsschritt entspricht mindestens eine Ziffer in der Gebührenordnung. Entsprechend veränderte sich das medizinische Wissen. Seit 1972 müssen die Medizinstudenten in ihren Staatsexamina Tests zum Ankreuzen (multiple choice) lösen. Bei jeder Prüfung wird in ca. 300 sehr kurzen Fragen technisches Häppchen-Wissen geprüft (Original-Prüfungsfragen 1994). Medizinische Verlage vertreiben mit großem Erfolg Lern-Software, mit der man dieses Wissen am Computer einpaukt. Zwar vergessen die zukünftigen Ärzte nach eigener Aussage das meiste sofort nach der Prüfung. Was im Gedächtnis bleibt, ist das Grundmuster darin: die Verkettung zahlloser einzelner Symptome, Laborwerte und Bilder mit physikalisch-chemischen Prozessen im Körper, und die Verkettung dieser Prozesse mit den einzelnen Krankheiten und Therapien. Solche Wissenschaft paßt zur Fließband-Situation in der Arztpraxis und im Krankenhaus. Gemessen am Qualitätsstandard dieser Medizin arbeiten Computerprogramme (medizinische Expertensysteme) oft besser als Ärzte (Lei u.a. 1991).
Die Ausgaben aller Kassen stiegen seit den siebziger Jahren erheblich. 1993 wurde das Budget (basierend auf dem neuen Stand der Zahlungen) wieder eingeführt. Das heißt, die Kassen zahlen wieder einen festen Betrag nach der Anzahl ihrer Mitglieder an den Ärzteverband. Der Betrag ist an die Lohnsumme gekoppelt. Mehr Leistungen der Ärzte führen nicht mehr zu höheren Zahlungen an sie. Die Abrechnungen der Ärzte sind nur relevant dafür, wie die Gesamtvergütung unter ihnen verteilt wird - wie schon von 1931 bis 1955.
Seit 1913 wurde für eine bestimmte Zahl von Versicherten jeweils ein Kassenarzt zugelassen. Neue Ärzte mußten oft jahrelang auf ihre Kassenzulassung warten. Die Anzahl der Versicherten pro Arzt wurde allerdings mit der Zeit gesenkt, weil die Menschen immer häufiger zum Arzt gingen (1913:1350 Versicherte pro Arzt, 1931: 600, 1955: 500). 1960 hob das Bundesverfassungsgericht diese Zulassungsbeschränkungen ganz auf. Berufsanfänger erhielten sofort ihre Kassenzulassung und durften Versicherte kurieren. Das ging nicht auf Kosten ihrer alteingesessenen Kollegen, da damals das Budget aufgehoben war. Sobald ein Arzt Zeit für seine Patienten hatte, haben die Versicherten das nach Kräften genutzt. Sie ließen sich mehr behandeln als vorher. Die zusätzlichen Behandlungen mußten aus den Versicherungsbeiträgen bezahlt werden. Gesundheitsminister Seehofer hat deswegen 1993 die Zulassungsbeschränkungen wieder eingeführt. Inzwischen kommt ein Arzt auf 315 Versicherte.
Das Bedürfnis nach Zuwendung und Entlastung hat sich in den letzten 100 Jahren mehr und mehr aus der Gemeinde, dem Kollegenkreis und der Nachbarschaft heraus verlagert. Es sind nicht mehr die Vereine, Gewerkschaften und Kirchengemeinden, die den einzelnen stabilisieren. Statt dessen tun es oft die Ärzte mit ihrer Medizin. Die Behandlung ist im gleichen Zeitraum massiv technisiert worden, begünstigt durch die Gebührenordnung. Viele Menschen sind damit jedoch unzufrieden.
Nach 1968 haben alternative Behandlungsmethoden in Deutschland einen Aufschwung erlebt. Ganzheitliche Lehren wie Homöopathie, Anthroposophie oder Naturheilkunde und Therapien wie Akupunktur, Tanztherapie, Psychoanalyse werden auch von Ärzte angeboten. Sie bedrohen die bürokratische Pseudo-Objektivität des Medizinapparates. Obwohl diese Behandlungen bei vielen Patienten wirksamer sind als die Schulmedizin, werden sie durch Vergütungsregelungen, Standards und Kontrollen unterdrückt (vgl. Kiene 1994).
Zulassungsbeschränkungen und Budgets sind Vorboten der Kontrolle und Rationierung der Behandlungen. Das gilt 1995 genauso, wie es 1892 und 1931 galt. Inzwischen sind die Bürokratien nur mächtiger geworden, ihre Kontrollmethoden haben sich verfeinert. Arzt und Patient werden mit Computern, Chipkarten und Datennetzen an die Apparate der Verbände, der Kassen und der Wissenschaft angeschlossen. Die tayloristische Organisation der Behandlungen bringt völlig neue Möglichkeiten der Kontrolle und Lenkung. Die Gesundheitsbürokratie, die Tausende von Menschen beschäftigt und 13 Milliarden Mark jährlich kostet, will mitbehandeln.
Offen ist, wer die Kontrolle ausüben wird. Nach Ansicht der Ärzteverbände soll es bei ihrer eigenen Kontrolle der Behandlungen bleiben. Die Krankenkassen wollen mitreden. Die Ortskrankenkassen schlagen vor, die Konkurrenz zwischen den Ärzte ausnutzen. Sie möchten mit einigen Allgemeinärzten besondere Verträge schließen, die eine intensivere Kontrolle vorsehen. Wenn die Versicherten sich nur dort behandeln lassen, sollen sie einen geringeren Beitrag zahlen. Auch das hatten wir schon einmal.
Die Studentenbewegung seit 68 brachte dem Land eine Bewegung für gesundheitliche Selbsthilfe. Patientengruppen, Behindertenverbände, Gesundheitsläden und Frauen-Therapiezentren wurden gegründet. Sie stellen die erstarrten Strukturen in Frage. Aber sie bleiben beschränkt auf ein Publikum, das intensiveren Kontakt zur Medizin hat. Parteien und Institutionen nehmen die Bürokratisierung und Entfremdung im Gesundheitswesen hin. Eine Trendwende, weg von der Bürokratisierung der Gesundheit, ist nicht in Sicht. In den vergangenen 40 Jahren ist die ärztliche Gebührenordnung das wesentliche Mittel dieser Bürokratisierung gewesen. Darum geht es im nächsten Kapitel.
Dr. von Testname eilt in sein Sprechzimmer. Er schüttelt Erika Mustermann zur Begrüßung die Hand. "Die letzte Patientin für dieses Quartal" denkt er und setzt sich an seinen Schreibtisch. "Sie sind zum ersten Mal hier - was kann ich für Sie tun?" Während Erika Mustermann von ihren Beschwerden erzählt schlägt er die von seiner Arzthelferin vorbereitete Krankenakte auf. "Das hört sich ganz nach einer Blasenentzündung an. Ah ja, da haben wir es ja. Ihre Urinprobe, die sie vorhin abgegeben haben, wimmelt von Keimen". Dr. von Testname stellt ihr routinemäßig noch einige Fragen und trägt die Ziffer 61 (Vollständige Untersuchung mindestens eines Organssystems einschl. Befragung, Beratung und Dokumentation) in ihre Krankenakte ein. Dann schlägt er der Patientin "um andere Ursachen auszuschließen" eine Ultraschalluntersuchung der Harnwege und Nieren vor, da es durchaus sein könne, daß die Blasenentzündung bereits auf die Nierenbecken übergegriffen habe. Als ihn Erika Mustermann fragt, ob diese Untersuchung denn unbedingt notwendig sei, weist er sie auf die Gefahren einer unerkannten Nierenbeckeninfektion hin. Ganz nebenbei streut er noch einige Bemerkungen über das statistische Risiko von Blasenkrebs "von Frauen in ihrem Alter" ein und schickt die Patientin in eine seiner Behandlungskabinen. Zurück im Sprechzimmer erklärt Dr. von Testname, die Annahme einer Blasenentzündung habe sich bestätigt, die Nieren seien dagegen noch nicht angegriffen und auch sonst habe er nichts Auffälliges finden können. Er holt ein Medikament aus seinem Glasschränkchen und gibt es Erika Mustermann zusammen mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für ihren Arbeitgeber. Mit den Worten: "Wenn das Medikament in 10 Tagen noch nicht angeschlagen hat, kommen Sie bitte nochmal vorbei" verabschiedet er sich von ihr. Als Erika Mustermann den Raum verlassen hat, trägt er schnell noch die Ziffern 382 (Sonographie des Harntraktes mit Untersuchung beider Nieren und der Harnblase einmal im Behandlungsfall) nach, fügt eine 71 (Ausstellung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gemäß
3 des Lohnfortzahlungsgesetzes) hinzu und ergänzt - nach kurzer Überlegung - die Ziffer 9 (Erörterung und Planung gezielter therapeutischer Maßnahmen zur Beeinflussung systemischer Erkrankungen mindestens eines Organsystems). Die Ziffer 3500 (Orientierende Untersuchung) wegen der Urinuntersuchung hatte die Arzthelferin bereits eingetragen.
Dr. von Testname schließt das Krankenblatt und lehnt sich einen Moment zurück. - Im letzten Monat des Quartals dürfte er wieder etwas Boden gutgemacht haben. Um wirtschaftlich zu arbeiten, müsse er 400 DM pro Stunde umsetzen, hat ihm sein Steuerberater vorgerechnet. Dieser letzte Behandlungsfall gerade dürfte ihm immerhin etwa 80 DM gebracht haben. Nicht eingerechnet ist der kleine Nebenverdienst von der Pharmafirma für jede Rückmeldung über das neue Medikament, aber der ist auch nicht der Rede wert. Wenn allerdings erstmal die Belastung für das neue Ultraschallgerät wegfällt, liegt er mit seinen jetzigen Umsatzzahlen glatt im Gewinnbereich. Wenn nur nicht alle drei Monate immer diese lästige Abrechnerei wäre. Aber irgendwie muß man ja an sein Geld kommen. Sein Kollege macht das alles schon mit Computer - es soll ja bereits Programme geben ,mit der man jeden Behandlungsfall optimal auslasten kann...- "Jetzt aber erstmal an die Arbeit" unterbricht er sich und geht in die Anmeldung, um zu sehen, wie weit seine Artzhelferin schon mit den Abrechnungsbelegen für dieses Quartal gekommen ist.
Wenn wir uns in ärztliche Behandlung begeben, erwarten wir Beratung und Hilfe für unsere individuellen Probleme. "Können Sie mir einen guten Arzt nennen?" ist eine der häufigsten Anfragen an Patientenberatungsstellen. Noch häufiger ist allerdings die Suche nach einem guten Rechtsanwalt bzw. die Frage nach einer Rechtsberatung, wenn etwas bei der medizinischen Behandlung "schief gelaufen" ist. Durch die Tür einer Arztpraxis schreiten wir in eine andere Welt. Wir sind bereit, die Verantwortung für uns abzulegen und begeben uns in die Hände derjenigen, deren Job es ist, über uns zu befinden (vgl. Anders 1956: 44.). Oftmals, ohne genau zu wissen, wodurch das ärztliche Handeln bestimmt und wodurch der Blick der Ärzte tatsächlich geleitet wird.
Bevor noch ein Arzt individuell an uns tätig wird, gibt die ärztliche Gebührenordnung bereits einen Rahmen vor, der das Arzt-Patient-Verhältnis grundlegend beeinflußt. Wie im ersten Kapitel dieses Buches erörtert, ist die Vorstellung einer Mensch-Maschine, mit Werkzeugen und Untermaschinen in Form von Gliedmaßen und Organen seit der Zeit da Vincis bis heute die zentrale Vorstellung der Medizin (vgl. Ongaro-Basglia 1985: 28f.). Mit der Gebührenordnung wird nicht nur die isolierende, organfixierende Sichtweise des vorigen Jahrhunderts in unsere Zeit transportiert (vgl. Hoffmann 1988: 15), auch die fachliche Aufgliederung der Medizin spiegelt sich in diesem ärztlichen Bezahlungsystem nahezu originalgetreu wider.
Die ärztliche Berufsordnung unterscheidet Ärzte mit eher übergreifenden Tätigkeitsbereichen (Allgemeinmediziner, Kinderärzte und Internisten) von Spezialärzten mit bestimmten, genau eingegrenzten Organen bzw. Organsystemen als Aufgabengebieten. Aus Sicht der Gebührenordnung sind konkurrierende Zuständigkeiten allerdings wieder säuberlich getrennt: Hals-Nasen-Ohrenärzte dürfen zwar bis hinunter in die Luft- und Speisewege behandeln, von den Bronchien abwärts gehören die Patienten abrechnungstechnisch jedoch den Lungenfachärzten. Und während Herz-Kreislauf, Lunge und Magen beispielweise zum Gebührenhoheitsgebiet der Internisten gehören, dürfen Urologen Blase und ableitende Harnwege als Organsysteme für sich beanspruchen. Allerdings könnten zum Beispiel die Nieren - die beiden letztgenannten Fachgruppen zugeordnet sind - zu einer honorarbestimmten Intressenkollision führen. Aber auch hier sorgt die Gebührenordnung für feinsinnigen Verdienstausgleich: Internisten müssen bezüglich chirurgischer Tätigkeiten gebührenblind sein. Vor dem Hintergrund von Einzelleistungsvergütung und Organaufteilung kann von Ärzte ebensowenig eine ganzheitliche Sichtweise ihrer Patienten erwartet werden, wie von Fließbandarbeitern dier Überblick über die Gesamtheit des Produktionsprozesses.
Die Zerstückelung einer medizinischen Behandlung in unterschiedliche Handgriffe gehört zu den besonderen Merkmalen des Abrechnungssystems für niedergelassene Ärzte. Der Rahmen für das ärztliche Honorar wird durch den Ziffernkatalog einer Gebührenordnung festgelegt. Hier sind alle anerkannten medizinischen Behandlungen in genau definierte Einzelleistungen aufgeteilt. In den Gebührenordnungen der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV), dem Bewertungsmaßstab Ärzte (BMÄ) der Primärkassen und der Ersatzkassen-Gebührenordnung (E-GO) sind etwa 2500 Leistungsbeschreibungen aufgelistet, in der staatlichen Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ), die für Privatversicherte gilt, rund 1000 Ziffern mehr. Mit der Einführung eines Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) 1978 wurde beabsichtigt, die unterschiedlichen Gebührenordnungen anzugleichen: "Der Bewertungsmaßstab muß den Inhalt der abrechnungsfähigen Leistungen - durch die entsprechenden Leistungsdefinitionen - und ihr wertmäßiges, in Punkten ausgedrücktes Verhältnis zueinander bundeseinheitlich festlegen" (Wezel/Liebold 1994: Abschitt 4: 1). Für den Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung existiert mittlerweile ein einheitliches Ziffern- und Punktzahlsystem. Das ärztliche Honorar für die jeweiligen Einzelleistungen ergibt sich durch Multiplikation der in der Gebührenordnung festgelegten Punktzahl für eine Leistung mit dem "Preis" eines Punktes, dem Punktwert,. Deshalb ist das "Punkte machen" zur Grundlage der ärztlichen Behandlung geworden.
Der von Kassen und Kassenärztlichen Vereinigungen vereinbarte Punktwert (zur Zeit 11 Pf.) wird durch die "Deckelung der Arzthonorare" (Budgetierung) korrigiert: wenn die Gesamtheit aller Ärzte mehr "Punkte macht", wird der Punktwert gekürzt, so daß die Honorarsumme, die insgesamt an die Ärzte gezahlt wird, gleich bleibt. Der korrigierte Punktwert ergibt sich praktisch, wenn man das von den Kassen gezahlte Budget durch die Summe der Punkte teilt, die alle Ärzte zusammen abrechnen. Es gibt unterschiedliche Budget-Töpfe: aufgeteilt nach 18 deutschen Regionen, nach 5 Leistungsarten: Grundleistungen, Einzelleistungen, Labor usw., und manchmal noch nach Kassenarten. Zur Zeit liegt der Punktwert zwischen 5 und 11 Pfennig, je nach Region, Leistungsart und Kasse (vgl. Broglie u.a. 1990: 30).
Schauen wir uns unter diesen Gesichtspunkten noch einmal unser eingangs geschildertes Abrechnungsbeispiel an. Erika Mustermann ist wie ungefähr 85 % ihrer Mitbürger gesetzlich krankenversichert. Dr. von Testname legt daher den EBM mit BMÄ oder E-GO für seine Honorarzusammenstellung zugrunde.
Aus medizinischer Sicht bildet die "Vollständige Untersuchung" (Ziffer 61) einen wesentlichen Bestandteil medizinischer Behandlungen. Mit 200 Punkten wird sie höher bewertet als Ziffer 4 "Beratung, einschl. symptombezogener klinischer Untersuchung" (120 Punkte) oder etwa Ziffer 8 "Beratung, einschl. symptombezogener klinischer Untersuchung im Bereich von mehr als einem Organsystem" (150 Punkte). Sie darf - im Gegensatz zu den anderen beiden Ziffern - aber nur einmal im Quartal abgerechnet werden. Ökonomisch gesehen ist eine besonders gründliche und gewissenhafte Untersuchung für Dr. von Testname dennoch ein finanzielles Verlustgeschäft. Bezogen auf das Umsatzziel von 400 DM pro Stunde müßte er bei einem Punktwert von beispielsweise 10 Pfennigen 20 Menschen vollständig untersuchen, wofür ihm rein rechnerisch nur jeweils drei Minuten pro Patient Zeit blieben. Im Vergleich zum untersuchenden und beratenden Anteil rechnet sich der medizinisch-technische Leistungsteil der Behandlung schon eher.
Mit 405 Punkten bringt ihm die Ultraschalluntersuchung (Ziffer 382) z.B. genausoviel ein, wie die gesamten übrigen Einzelleistungen zusammen. Die Untersuchung z.B. nur der Nieren hätte ihm als "Sonographische Untersuchung eines Organs" (Ziffer 385) 180 Punkte eingebracht, eine zusätzliche "Sonographische Untersuchung bis zu drei weiteren Organen, je Organ" (Ziffer 386) 70 Punkte, also immerhin 155 Punkte weniger, als die durchgeführte Komplexuntersuchung. Noch einträglicher wäre allerdings, vorausgesetzt Dr. von Testname verfügte über ein eigenes Röntgengerät, eine "Harntrakt-Kontrastuntersuchung" (Ziffer 5080) mit 540 Punkten. Ähnlich hoch vergütet wie die Sonographische Komplexuntersuchung ist auch die bei Urologen beliebte Blasenspiegelung "Zystoskopie ggf. einschl. Urethroskopie und/oder Probeexzision bei der Frau" (Ziffer 1784), die mit 350 Punkten immer noch um die 75 % besser vergütet wird als eine vollständige Untersuchung.
Dr. von Testname und seine Umsatzziele sind natürlich eine Erfindung für unser Abrechnungsbeispiel. Aber die von ihm beispielhaft abgerechneten Leistungen sind allesamt in der Hitliste der 50 umsatzstärksten Leistungen der Arztgruppe "Urologen" zu finden (Krimmel/ Schirmer 1992: Abschnitt 8.51): Rang 1 belegt die Ultraschallkomplexuntersuchung noch vor der "Vollständigen Untersuchung" und der "Harntrakt-Kontrastuntersuchung" (Platz drei). Die ersten beiden Ziffern zusammen abgerechnet ergeben bereits knapp 20% des durchschnittlich erzielten Gesamtumsatzes dieser Fachärztegruppe. Dr. von Testname findet sich also durchaus im Kreise seiner realen Kollegen wieder.
Mit der Notverordnung vom 8.12.1931 (RGBl. I: 699) wurde im System der Gesetzlichen Krankenversicherung die strikte Trennung von Finanzierung und Leistungserbringung eingeführt, die nahezu unverändert auch heute noch Gültigkeit hat. Die Sicherstellung der ambulanten medizinischen Versorgung ist seither das Monopol der freipraktizierenden Ärzteschaft. Als deren Vertretung wurden die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) institutionalisiert. Hatten die Krankenkassen bis dahin noch die Möglichkeit, durch Einzelverträge bzw. Anstellung von Ärzten oder Einrichtung von Ambulatorien die Entwicklung der medizinischen Versorgung zu beeinflussen und zu kontrollieren, so wurden ihre Kompentenzen weitestgehend auf die Finanzierung des durch die Kassenärzte vermittelten Leistungsangebots beschränkt.
Mit der Einführung der Kassenärztlichen Vereinigung als Ärztevertretung, veränderte sich auch das System der kassenärztlichen Abrechnung. Aus abrechnungstechnischer Sicht erweiterte sich das Dreieck Patient-Kasse-Arzt zu einem Viereck Patient-Kasse-Kassenärztliche Vereinigung-Arzt. Vereinfacht läßt sich das Abrechnungssystem anhand von zwei Kreisläufen darstellen, die jeweils in umgekehrter Richtung verlaufen.
Kreislauf der Abrechnungsscheine: Die Krankenkassen stellen ihren Mitgliedern Berechtigungsausweise, z.B. eine Krankenversichertenkarte (früher: Krankenschein) aus, die die Patienten bei den Ärzten abgeben. Die Ärzte übertragen ihre Leistungen auf einen maschinenlesbaren Abrechnungsbeleg, auf den schon die Versichertendaten der Krankenversichertenkarte aufgedruckt wurden, und schickt diese Belege quartalsweise an ihre Kassenärztliche Vereinigung. Diese prüft die Abrechnungen auf Richtigkeit und stellt den Krankenkassen, auf der Grundlage sämtlicher Einzelrechnungen, pro Quartal eine Gesamthonorarforderung; die Krankenkassen erhalten die Abrechnungsbelege zugesandt, beschränken sich aber bisher auf Stichprobenkontrollen.
Kreislauf der Geldscheine: Die Versicherten bezahlen ihren Krankenkassen monatliche Beiträge. Aus diesen Geldern muß die Kasse, nach Abzug der Verwaltungskosten, die Gelder für die unterschiedlichen Bereiche zahlen: Ärztehonorare (ambulante Versorgung), Krankenhaustagessätze (stationäre Versorgung), Arzneimittel usw. Die Gelder für die ambulante Versorgung werden der Kassenärztlichen Vereinigung als Gesamtvergütung zur Verfügung gestellt, diese verteilt sie auf Grundlage der abgerechneten Einzelleistungen unter den Ärzten. Werden mehr Einzelleistungen abgerechnet, als die Krankenkassen aufgrund ihres Beitragsaufkommens zur Verfügung stellen können, müssen sie die Beiträge erhöhen. Durch die Budgetierung der Arzthonorare und der verordneten Leistungen (siehe S. _) wird dies zur Zeit verhindert.
Der Auftrag zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung macht aus den niedergelassenen Ärzten Leistungsanbieter: "Angebot und Nachfrage bestimmen den wirtschaftlichen Erfolg auch des _Unternehmens_ Arztpraxis".(Frenzel/ Mundenbruch 1994: 39) Das Leistungsangebot können die Ärzte weitestgehend in eigener Regie bestimmen. Die Gebührenordnung ist die Grundlage für die materielle Absicherung des Leistungsangebotes. In eigens dafür geschaffenen Arbeitsgruppen von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen wird der Leistungskatalog der Gebührenordnung laufend aktualisiert. Neben der Erhöhung der Gebührensätze ist die Aufnahme neuer Leistungen, die Anpassung der Gebührenordnung an die medizinisch-technische Entwicklung (vgl. Brück 1978: 7f) deren wichtigste Aufgabe.
Der Zusammenhang von medizinisch-technischer Entwicklung und Ausweitung des Einzelleistungsangebotes in der Gebührenordnung soll im folgenden kurz am Beispiel des Ultraschalls angedeutet werden. Die Sonographie wurde im 2. Weltkrieg zur Feindesaufklärung für U-Boote entwickelt. Nach Kriegsende fanden erste Tagungen über therapeutische Einsatzmöglichkeiten der Ultraschall-Technik statt (Leidel 1949). Mit Verweis auf die noch völlig ungesicherten Befunde über die Auswirkungen des Ultraschall auf den Körper lehnten die Krankenkassen eine Aufnahme von Ultraschall-Leistungen in die Gebührenordnungen zu diesem Zeitpunkt ab. Erst mit der Änderung der Mutterschafts-Richtlinien 1979, der Einführung von "zwei Ultraschalluntersuchungen zur Beurteilung der Schwangerschaft im Sinne eines >Screening<" (Hansmann 1981: 725), erzielte die Ultraschalluntersuchung ihren endgültigen Durchbruch im diagnostischen Anwendungsbereich; eine zusätzliche dritte Untersuchung ist Ende 1994 beschlossen worden (Mutterschaftsrichtlinien 1994). Bis Ende der 70er Jahre hatten erst zwei Ultraschall-Untersuchungen Eingang in die Gebührenordnung gefunden. Mittlerweile gibt es einen eigenen Abschnitt für Ultraschalluntersuchungen mit 14 Ziffern (EBM 1994: 70-71), im Bereich der Mutterschaftsvorsorge drei weitere Leistungsziffern (EBM 1994: 44-45, 73) und im Bereich Gynäkologie und Geburtshilfe 9 Ziffern. Inzwischen wird dort unterschieden zwischen normalen Sonographien (720 - 950 Punkte) und der nächsten technischen Generation: "zweidimensionale farbcodierte Doppler-echokardiographische Untersuchung" (1100 - 1450 Punkte) (EBM 1994: 119-120).
Bei Geräten mit geringen Investitionskosten herrscht im Bereich der ambulanten Versorgung vollständige Investitionsfreiheit, lediglich bei medizintechnischen Großgeräten wird bisher steuernd eingeriffen. Bei der Honorierung medizinisch-technischer Leistungen in der Gebührenordnung wird von dem Prinzip ausgegangen, daß auch ein Arzt mit niedriger Untersuchungsfrequenz die technischen Untersuchungen zumindest kostendeckend erbringen kann (vgl. Wanek 1994: 170). Die Anschaffungskosten eines Ultraschallgerätes werden beispielsweise mit ca. 30000 DM angegeben.Da "in der Durschnittspraxis mit 1100 Patienten je Quartal und 14% sonographischer Untersuchungen rechnerisch 616 Untersuchungen anfallen" ergibt sich folgende Kalkulation: "Den Jahreserlösen in Höhe von 18303 DM stehen periodengleiche Kosten von 8799 DM gegenüber, so daß ein Überschuß von 9504 DM jährlich entsteht. Nach gut drei Jahren hat sich damit das Gerät aus seinen eigenen Erlösen finanziert. Addiert man den Jahresüberschuß und die kalkulatorischen Zinsen, so ergibt sich eine Verzinsung des investierten Anfangskapitals von immerhin 35%" ((Miethe 1989 Abschnitt B-I 3.1.1.8: 2-3). Nach drei Jahren bringt ein Ultraschallgerät also reinen Gewinn; die zu erwartende Nutzungsdauer liegt zwischen acht und zehn Jahren. Die Honorarregelungen für medizinisch-technische Leistungen geben nicht nur einen ökonomischen Anreiz zur immer weiteren Ausstattung der Praxen mit Medizintechnik, sondern fordern auch zur überdurchschnittlichen Auslastung dieser Techniken heraus: "Der ökonomische Zwang, im Sinne der Gebührenordnung _Punkte zu machen_, hatte angesichts der bis zur Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes vergleichweise günstigen Honorierung medizinisch-technischer Leistungen und der Chance beträchtlicher Produktivitätsgewinne in diesem Bereich lange Zeit die Wirkung, die Mengenexpansion insbesondere bei den medizinisch-technischen Leistungen voranzutreiben. Darunter litt die Zuwendung zum Patienten" (Alber 1992: 106f.)
Ebenso wie Akkordarbeiter durch die schnellere Ausführung bestimmter Handgriffe ihren Lohn steigern können, steigt das Einkommen von Ärzten mit der Zahl der pro Stunde durchgeschleusten Patienten. Im Unterschied zu Fließbandarbeiter organisieren Ärzte ihren Praxis-Betrieb allerdings selbst - die Zeitvorgaben für die Reparatur sind hausgemacht. Eine Praxis mit vielen Behandlungskabinen bietet die beste Voraussetzung für eine Akkordmedizin im 3-Minuten Takt. Und da fragende Patienten sehr zeitintensiv (sprich: störend) sind, raten Organisationshandbücher gleich zu einer Praxiseinrichtung, die zufällige Patientenkontakte des Arztes von vornherein architektonisch ausschließt.
Darüber hinaus können Ärzte die Höhe ihres Einkommens durch die Ausweitung der Menge der abgerechneten Leistungen nahezu selbst bestimmen. Zwar soll mit einem komplexen Regelwerk, besetehend aus nur einmal im Quartal abrechenbaren Leistungen und Ausschlußziffern, allzu einfachem Mehrfachabrechnen ein Riegel vorgeschoben werden. Aber Schulungsseminare der Kassenärztlichen Vereinigungen und umfangreiche Handkommentare zur Gebührenordnung (vgl. z.B. Broglie u.a. 1991: 66ff) sparen nicht mit Tips wie jeweils am günstigsten abgerechnet werden kann. Wo immer möglich, weisen sie auf sogenannte Abrechnungsketten hin: "Die folgenden Angaben über rechnerisch günstige Ziffernkombinationen helfen Ihnen, kostengünstig arbeiten zu können. Daneben sollten Sie auch darauf achten, daß Sie vor allem solche medizinisch sinnvollen Leistungen zusammen durchführen, die sich mit geringem Zeitaufwand kombinieren lassen. Wenn etwa ein Patient für die Durchführung einer Neuraltherapie 410-466 schon ausgezogen daliegt, benötigen Sie kaum zusätzliche Zeit, um noch 1 ml Xylocain intra- und paravenös zu injizieren (253)" (Machens 1994: 125).
In der Software für Arztpraxen ist vorgesehen, daß Leistungsketten vom Arzt einprogrammiert und mit einem Kürzel jederzeit aufgerufen werden können. "So könnte z.B. eine Leistungskette für die Exzision eine Hauttumors die EBM-Ziffern 61-406-2100-80-203 umfassen (Systemuntersuchung Haut, Infiltrationsanästhesie bis 5 ml, kleine Exzision aus Haut/Schleimhaut, Zuschlag für ambulantes Operieren, Kompressionsverband)", heißt es in einem EDV-Ratgeber für Arztpraxen (Hick 1993: 113). Bei bestimmten Krankheiten, wo Patienten regelmäßig wieder in die Praxis bestellt werden, umfassen solche Leistungsketten 4 aufeinanderfolgende Arztbesuche. Fachliteratur belehrt Ärzte darüber, wie z.B. mit einem Fall von Bronchialasthma 640 Punkte in einem Quartal "gemacht" werden können (Hach 1987, Teil 2 Kap. 7 S. 4). Diese Tips sind so legal wie Steuertricks und fordern keineswegs zum Abrechnungsbetrug auf, sondern nur zur konsequenten Ausnutzung sämtlicher, im Regelwerk liegender Möglichkeiten.
Bei genauerer Betrachtung ergibt sich, daß Ärzte nicht nur das Angebot medizinischer Leistungen bereitstellen und beeinflussen, sondern auch steuernd auf die Nachfrage einwirken können. Denn mit der Erstellung eines Krankheitsbefundes stecken sie auch den Behandlungsrahmen ab, für den sie hinterher die Leistungen erbringen. Im Zusammenhang möglicher Leistungsausweitungen erfreut sich seit geraumer Zeit der Risikobegriff besonderer Beliebtheit: die Diagnostizierung von Risikopatienten begründet nahezu jede Ausweitung einer Behandlung als medizinische Notwendigkeit. Als Beispiel bietet sich wiederum die Ultraschall-Untersuchung an. Bei einer normal verlaufenden Schwangerschaft können Ärzte mittlerweile bis zu drei Ultraschall-Untersuchungen abrechnen. Obwohl es sich hier um eine kann-Bestimmung handelt, ist die Durchführung dieser Untersuchung bereits zur gängigen Praxis bei der "Schwangerschaftsüberwachung" geworden. Aber damit nicht genug. Mit der Feststellung einer Risikoschwangerschaft können statt der drei nunmehr bis zu zehn Ultraschalluntersuchungen abgerechnet werden. Ein Präventionsleitfaden der AOK verzeichnet als Risikoschwangerschaften die Schwangerschaften
Inzwischen ist die obere Grenze des "Risikoalters" auf 35 Jahre heruntergesetzt worden. Bei derzeit sinkender Zahl von Schwangerschaften wird die Risikodefinition so ausgeweitet, daß die Anzahl der Risikoschwangerschaften (und damit die Amortisation der Ultraschallgeräte) konstant bleibt. Und da Risikofaktoren heutzutage überall lauern können, wundert es nicht, wenn sich aus dem medizinisch-technischen Leistungs-Angebot früher oder später eine Patientennachfrage nach diesen Angebot entwickelt.
Aufgrund der Ineffizienz der Institution verbandsinterner Selbstregulation wurden durch Eingriffe des Gesetzgebers Prüfausschüsse im Abrechnungssystem eingerichtet. Diese paritätisch - aus Vertretern von Kassenärztlicher Vereinigung und Krankenkassen - besetzten Ausschüße haben vor allem die Aufgabe, das Abrechnungsverhalten von 2 % der Ärzten im Quartal auf "Wirtschaftlichkeit" zu überprüfen. Geprüft wird, ob die Abrechnungsmengen einzelner Ärzten mit dem Durchschnitt der entsprechenden Ärztegruppe innerhalb eines kassenärztlichen Abrechnungsbezirkes übereinstimmt, wobei bis zu 19% Überschreitung des Druchschnittswertes als normale Streuungsbreite gilt. Allerdings werden in der Regel Überschreitungen bis zu 49 % toleriert, erst danach werden Honorarabzüge vorgenommen. Zur besseren Selbstkontrolle erhalten die Ärzte von ihren Kassenärztlichen Vereinigungen in regelmäßigen Abständen Übersichtsstatistiken über die abgerechneten Leistungen der Vergleichsgruppe. Anhand von Strichlisten bzw. eigenen Statistiken müssen Ärzte ihr Budget der Einzelleistungen für das laufende Quartal ermitteln und entsprechend einteilen. Ganz allgemein greift dieser Kontrollmechanismus nur schlecht und vertieft vorhandene Ungerechtigkeiten des Abrechnungssystems noch weiter. Beispielsweise dürften Fachärzte mit hohem technischem Leistungseinsatz, die gleichzeitig mit einem überschaubaren Leistungsspektrum von 20 - 30 Ziffern arbeiten, kaum Schwierigkeiten haben, ihre Einzelleistungsvergütung auf hohem Niveau zu halten (vgl. Dr. Med. Mabuse 1982: 28).
Sozial oder ganzheitlich arbeitende Mediziner, die versuchen, den individuellen Problemlagen ihrer Patienten gerecht zu werden, werden gleich mehrfach "bestraft":
Im Gegensatz zu einer Klempnerrechnung, kann uns eine zu hohe Ärzterechnung nicht nur unser Geld, sondern möglicherweise auch unsere Gesundheit kosten. Aus Sicht der Patienten ist es daher keineswegs ein Vorteil, wenn die "abgerechneten Taten" aus Angst vor der Wirtschaftlichkeitsprüfung auch begangen werden.
Mit zwei Jahren Verspätung wurde Ende 1994 die Einführung der Krankenversichertenkarte (KVK) abgeschlossen. Sie war im Gesundheitreformgesetz (GRG) von 1988 beschlossen worden und ersetzt den bisher üblichen Krankenschein als Mitgliedsausweis. Aber nicht die Forderung nach breiter öffentlicher Diskussion über die sozialen Folgen dieser Technik, vorgebracht von einer kleinen Schar kritischer Informatiker und Datenschützer sowie der unabhängigen Patienten-Beratungsstellen, hat diesen Aufschub erwirkt, sondern der hinhaltende Widerstand der organisierten Ärzteschaft. Und obwohl die Krankenkassen den Ärzten den Einstieg in das Computerzeitalter mit einem Zuschuß von 750 DM pro ÄrztIn erleichterten, haben die Ärzte berechtigten Grund zur Sorge: "Dieser >Eckstein< des GRG-Transparenzkonzeptes ermöglicht die problemlose Erstellung maschinenlesbarer Belege als Voraussetzung der Zusammenführung und Auswertung der umfangreichen Datenmengen u.a. zum Zwecke der Wirtschaftlichkeitsprüfungen" (Wanek 1994: 392).
Die Krankenversichertenkarte ist "anerkanntermaßen ein erster Schritt, um Ärzte und Patienten an die neue Technologie zu gewöhnen" (BSI 1994: 5). Aber auch ohne "Gewöhnung" hat die Bürokratisierung des ärztlichen Abrechnungssystems bereits einen Grad erreicht, der den Anteil mit Computer ausgestatteter Arzt-Praxen rapide ansteigen läßt: Je nach Gebührenordnung bis zu 3500 Ziffern, eine unüberschaubare Zahl an Ausschlußziffern und ständige Aktualisierungen der Ziffernfolge lassen die Praxis-EDV schon rein äußerlich als Sachzwang erscheinen. Allerdings erschöpft sich abrechnungsstatistisch gesehen das Behandlungsrepertoire vieler Ärzte in 20 - 30 Positionen. Und je nach Fachrichtung machen zwischen 5 - 15 Ziffern bereits 50 - 75 % des Praxisumsatzes aus (vgl. Frenzel/ Mundenbruch 1994: 39).
Erst wenn die EDV auch zum Praxis-Management eingesetzt wird, rechnet sich die Anschaffung tatsächlich. Die entsprechenden Programme vorausgesetzt, kann eine optimale Auslastung der Abrechnungsscheine erreicht werden. Schon bevor eine Patientin das Sprechzimmer betritt, zeigen solche Programme, welche Nummern noch verfügbar sind - Ärzte brauchen nur noch auf die Vorschläge des Computers zu klicken. Solche Programme weisen natürlich auch auf Anschlußnummern hin, die sich gegebenenfalls anbieten und die sonst vielleicht einfach übersehen worden wären. So wundert es nicht, daß immer mehr Ärzte sich von findigen Softwareherstellern helfen lassen, um in dem Wirrwarr von Nummern, Definitionen und Statistiken nicht vom rechten Pfad abzukommen. Und das vorgegebene Umsatzziel wird nahezu nebenbei erreicht!
"Ich gehe zum Arzt - denn der will ja auch leben. Mit dem Rezept gehe ich dann zur Apotheke - die wollen ja auch leben. Zu Hause werfe ich die Pillen dann weg - ich will ja auch leben!" (Patientenweisheit aus dem Gesundheitsladen Köln.)
"Non-compliance" heißt übersetzt soviel wie "mangelnde Zusammenarbeit" und meint Patienten, die ärztliche Ratschläge einfach nicht befolgen. Aus Sicht der Patienten erweist sich dieses Verhalten als schlichte Überlebensstrategie in einem ritualisierten Handlungssystem, das Gesundheitswesen heißt.
1986 wurden an Versicherte der Gesetzlichen Krankenversicherung 18,7 Mrd Tagesdosen Medikamente (Reichelt 1988: 83) verordnet, 1988 waren es ca. 730 Millionen Arzneimittelpackungen mit rd. 21,5 Mrd. Tagesdosen (Alber 1992: 89) . Rein rechnerisch entfielen damit auf jedes Krankenkassenmitglied 340 bzw. 390 Tagesdosen, also über eine Tagesdosis pro Tag - Tendenz steigend. "Das griechische Pharmakon (ebenso wie das lateinische medikamentum) hatte sowohl die positive Bedeutung von Heilmittel, Arznei, Zaubertrank als auch die negative von Gift . (...) Die positive oder negative Bedeutung hängt direkt von dem Gebrauch, dem Zweck, dem Kontext ab, in dem die Substanz verwendet wird, von der Menge und Qualität, von der Eigenart des Leidens, von dem Spielraum, der dem Leidenden offensteht, sich seines Körpers mit Hilfe fremder Substanzen zu vergewissern, bzw. davon in welchem Maße er von ihr bestimmt und konditioniert wird" (Ongaro-Basaglia 1985: 99). Die doppelte Wortbedeutung: Arznei - Rauschmittel ist noch im englischen Begriff drug lebendig. Die Selbstmedikation ist kaum noch praktizierbar, da die Abgabe von Medikamenten per Verschreibungspflicht in ärztliche Verwaltungsmacht übergegangen ist. Von Selbstmedikation wird heute eher abfällig gesprochen, und erlaubt ist sie auch nur mit Mitteln, denen kaum oder nur geringe objektive Wirkungen zugeschrieben werden.
Das Produktionsvolumen der Pharmaindustrie in der Bundesrepublik wird für 1991 mit rund 31 Mrd. DM (vgl. Huber 1992: 41) angegeben. Der Etat für "Marketingmaßnahmen", wozu vor allem Geschenke an Ärzte gehören, wird auf ca. 5 Mrd. DM jährlich geschätzt. Das A und O des Pharmaumsatzes ist die direkte, persönliche Betreuung der Ärzte durch Pharmareferenten, denn bei etwa 80000 Medikamenten und Hunderten Neuzulassungen pro Jahr brauchen auch Ärzte manchmal den richtigen Durchblick. Bei umsatzstarken Praxen kann sich die Pharmaindustrie einen Referenten für die Betreuung von lediglich drei Kassenärzten leisten. Der Konkurenzkampf um die größten Marktanteile unter den "ca. 2000 Arzneimitteln, die rd. 90 % der gesamten Arzneimittelausgaben der GKV verursachen" (Alber 1992: 89) ist hart. Von daher sind die Pharmaberater mit reichhaltigen Budgets ausgestattet. Von 50 DM-Gutscheinen für das Ausfüllen von "Erkenntnisberichten" über ein Pharmapräparat, über ADAC-Schleuderkurse, Kompensationszahlungen in Form von sogenannten Naturalrabatten (das sind kostenlose diagnostische Hilfsmittel z.B. Röntgenkontrastmittel, die über die Gebürenordnung abgerechnet werden können), bis zu kostenlosen Arzneimittel-Mustern reicht die Palette der stets gut aufeinander abgestimmten Provisonstechniken. Und ohne Subvention der Arzneimittelhersteller könnten kaum Fortbildungen der Ärzteschaft stattfinden. Besonders verschreibungsfreudigen Ärzten werden z.B. die Flugreisen zu Kongressen finanziert (vgl. Huber 1992: 42 f.).
Woher weiß ein Pharma-Unternehmen, welche Ärzte bei "seinen" Medikamenten verschreibungsfreudig waren und dafür belohnt werden sollten? Die Patienten lösen ihre Rezepte in der Regel in Apotheken in unmittelbarer Nähe der jeweiligen Arztpraxis ein. Die Apotheken-Umsätze mit den verschiedenen Arzneimitteln wiederum werden zu Abrechnungszwecken über die Apothekenrechenzentren elektronisch erfaßt. Diese stellen die Verkaufsstatistiken demInstitut für medizinische Statistik zur Verfügung. Das Institut liefert der Pharmaindustrie exklusiv kleinräumige Übersichten unter dem Titel "Regionaler Pharma-Markt" (RPM). Durch RPM kann die "Leistung" eines Pharma-Referenten überprüft werden. Der Referent kann seinerseits feststellen, wie "seine" Ärzte verschrieben haben, und kann seine Zuwendungen entsprechend verteilen (Huber 1992: 41).
Gegensteuerungsversuche der Gesundheitsbürokratie, mittels Zuzahlungen der Patienten den Arzneimittelkonsum zu drosseln, müssen wirkungslos bleiben. Sie fördern keineswegs, wie behauptet, deren "Selbstverantwortlichkeit" im Medikamentenumgang, sondern tragen höchstens zu einer Entlastung der Krankenkassen bei den Arzneimittelausgaben bei. Bisher haben die Patienten stets alles, was ihnen der Azt verschrieben hatte, brav bei den Apotheken abgeholt. Wenn die Krankenkasse es nicht bezahlte, dann zahlten sie selbst. Dennoch gehen die Kostendämpfungsversuche im Gesundheitswesen auch an den Pharmaunternehmen nicht spurlos vorbei. Eine Steigerung des Umsatzes ist bei festgeschriebenen Gesundheitsausgaben in der Gesetzlichen Krankenversicherung künftig nur zu erreichen, wenn die Patienten mehr zur Kasse gebeten werden: "Patienten sollten sich nach Auffassung der 31 größten deutschen Pharmafirmen viel stärker an ihren Behandlungskosten beteiligen" (Kölner StadtAnzeiger 1994). "Wer leben will, muß zahlen" lautete bereits vor einigen Jahren die Devise des Gesundheitsökonomen Walter Krämer (Krämer 1982). Aber auch in einem "Schlanken Gesundheitswesen" , in dem nur noch Kernbereiche durch die Krankenversicherung finanziert werden, wird sich die Pharmaindustrie weiterhin lukrative Absatzmärkte zu verschaffen wissen: z.B. mit der Patentierung gentechnisch hergestellter Medikamente.
In den vorangegangen Betrachtungen zur medizinischen Handlungsrelevanz der Gebührenordnung ging es keineswegs darum "einzelne Ärzte als profitgierige Individuuen zu denunzieren" (Wulff 1971: 969). Vielmehr sollte der Blick auf einen Teil der Patient-Arzt-Beziehung gelenkt werden, der für die meisten Patienten im Verborgenen bleibt und daher von ihnen nicht hinterfragt werden kann.
Die Mängel des ärztlichen Abrechnungssystems sind seit langem bekannt und die medizinische Überversorgung als Nachteil des jetzigen ärztlichen Honorierungssystems immer wieder benannt worden (vgl. z.B. Abholz 1992; 1994). Dessenungeachtet wird das System der Einzelleistungsvergütung von Standespolitikern seit jeher als die einzig angemessene ärztliche Vergütungsform heftig verteidigt. Nur diese leistungsbezogene Honorierungsform, so die Argumentation, könne eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung garantieren. Aus der Sicht der Patienten darf, angesichts der vielen nachgewiesenen Fehldiagnosen, überflüssigen Behandlungen und Operationen, dies allerdings bezweifelt werden.
Nur selten als Nachteil benannt wird die "naturgemäß" mit dem System der Einzelleistungsvergütung verbundene Notwendigkeit eines "starken Prüfungs- und Überwachungsapparat(es)" (Wimmel 1951: 60). Der Computereinsatz zur Herstellung von Transparenz im Leistungsgeschehen der Gesetzlichen Krankenversicherung ist daher die logische Konsequenz dieser Grundbedingungen: Computer ersetzen nur die ohnehin schon weitgehend formalisierten Abläufe. Die quantitative Bewertung der ärztlichen Leistung trägt bereits die Logik der Gewinnmaximierung in sich. Die Fixierung auf die Einkommenssteigerung erklärt auch, warum aus den Reihen der Ärzte bisher so wenig Kritik an der zunehmenden Bürokratisierung des Abrechnungssystems laut wird. Die Gesundheitsbürokratie, allen voran die gesetzlichen Krankenkassen, versuchen, durch den Einsatz der Datenverarbeitung das Abrechnungsverhalten der Leistungsanbieter transparenter zu machen. Die Ärzte schaffen sich Computer und Spezialsoftware an, um die Gesundheitsbürokratie auszutricksen. Der Computereinsatz verlagert nur die Ebene der Auseinandersetzung, dreht die Spirale aus Überwachung und Kontrolle und Gegenmanövern eine Umdrehung weiter. Chip- und Computerindustrie drehen ein bißchen mit.
Egal ob über die Einführung eines Duales Systems von pauschal bezahlten Hausärzten und einzelleistungsbezahlten Techno-Medizinern diskutiert oder an die Selbstheilungskräfte der ärztlichen Selbstverwaltung durch Stärkung der Ärzteopposition appeliert wird - die Reformdiskussionen finden unter Ausschluß der Patienten statt. Gewiß, sie sollen künftig die Rechnungen ihrer Ärzte besser kontrollieren können z.B. mit Hilfe der geplanten medizinischen Chipkarten. Aber wäre dadurch tatsächlich etwas gewonnen? Könnten Patienten tatsächlich mehr kontrollieren als nur die Menge der abgerechneten Leistungen, ohne gleich zu Experten des Abrechnungssystems werden zu müssen? Privatpatienten erhalten bereits Rechnungen ausgestellt und sind deswegen doch wohl kaum als mündiger anzusehen.
Die Deformation der Gesundheit durch die Verdienststrategien kann nur aufgebrochen werden, wenn Patienten zu Experten Ihrer Gesundheits- und Lebensbedürfnisse werden. In wieweit hierbei ärztliche Hilfestellung oder Begleitung von Nöten ist und wie diese bezahlt wird, dürfte dann kein besonderes Problem mehr darstellen.
Erika Mustermann hat Schmerzen im Knie. Deshalb sucht sie die Praxis von Dr.med. von Raitzenstein auf. Von der Arzthelferin wird sie aufgefordert, sich mit ihrer Chipkarte auszuweisen. Ihre MediCard kommt in den blinkenden Schlitz des Empfangscomputers. Das ärztliche Expertensystem Galileus bittet um die Freigabe des medizinischen Datenbereichs auf ihrer Karte. Dazu gibt Erika Mustermann ihre persönliche PIN, die zwölfstellige persönliche Geheimnummer, ein. Galileus führt die Vor-Anamnese durch, indem es ihre Krankengeschichte auf spezielle Fragen hin analysiert. Im Sprechzimmer wird Erika Mustermann bereits von einem der Assistenzärzte erwartet. Auf dem Computer präsentiert Galileus dem Arzt eine vorstrukturierte Grundinformation über ihren aktuellen Gesundheitsstatus. Der Arzt befragt sie nochmals kurz und ergänzt die Angaben im Computer.
Er untersucht ihr Knie. Danach gibt er den Befund seiner "eingehenden körperlichen Untersuchung eines Organsystems" in den Rechner ein. Galileus macht ihn darauf aufmerksam, daß die Patientin vor 15 Monaten an der Hüfte operiert wurde. Mit dem Einverständnis von Erika Mustermann wird die Akte umgehend elektronisch von der Orthopädischen Klinik angefordert und überspielt. Galileus berechnet eine erste Diagnose, die der Arzt bestätigt. Daraufhin schlägt Galileus eine optimale Behandlungsstrategie vor. Der Arzt klärt die Patientin auf und empfiehlt ihr, dem Therapieplan zuzustimmen. Nachdem Erika Mustermann das JA-Feld angeklickt hat, bucht Galileus die bei den Behandlungspartnern vorab eingeholten Termine. Er spielt den Behandlungsplan und die Rezepte auf die MediCard. Auf dem Heimweg geht Erika Mustermann schnell noch am Automaten vorbei, um sich ihre aktuelle Medikamentenzuteilung abzuholen. Morgen früh wird sie zur Krankengymnastik gehen, nachmittags hat Galileus für sie ein Schlammbad im Therapiezentrum gebucht.
Erika Mustermanns Arztbesuch ist in dieser Form noch Utopie. Allerdings schreitet die Computerisierung des Gesundheitswesens mit großen Schritten voran. Wir gehen dabei gewohnt gründlich vor: Deutschland ist weltweit Vorreiter, seinen Bürgern die Nutzung einer Technologie - diemal in Form der Krankenversichertenkarte - gesetzlich vorzuschreiben. Sie ist aber nur die sichtbare Spitze des Eisbergs einer Umstrukturierung unseres Gesundheitswesens (Hammer/Roßnagel, 1989; Schaefer, 1993). Der großen Wandel vollzieht sich dagegen eher unsichtbar für die Allgemeinheit: 1994 waren bereits mehr als die Hälfte aller Arztpraxen mit EDV ausgerüstet - Tendenz stark steigend. Das ist nicht allein der Karte zuzurechnen. Auch der Zwang, künftig die Abrechnung nur noch mit komplizierten Diagnoseverschlüsselungen und Abrechnungsmodalitäten durchführen zu können, wird seinen Teil dazu beigetragen haben. Innerhalb kürzester Zeit wird ein ganzer Berufsstand - natürlich mit finanzieller Unterstützung der Versicherten - computerisiert. Auch Krankenhäuser sind ohne KIS, einem Krankenhausinformationssystem, nicht mehr arbeitsfähig; Sie müssen komplexe Statistiken führen und ihren Kostenträgern regelmäßig vorrechnen, daß sie noch profitabel arbeiten - oder sie werden geschlossen.
Medizin ohne Computer und Chipkarten wird man sich bald nicht mehr vorstellen können, sollte sich dieser Trend fortsetzen. Bereits jetzt arbeiten Medizininformatiker an europaweiten Computernetzwerken, die die Institutionen der verschiedenen europäischen Gesundheitswesen verbinden sollen. Der spanische Arzt soll in dänischen Krankenakten stöbern können, wenn er einem Unfallopfer Erste Hilfe leistet. Experten aus Norwegen und Belgien werden dem deutschen Kollegen via Videokonferenz und ferngesteuertem Operationsbesteck bei einer Transplantation hilfreich zur Seite stehen. Expertensysteme wie APACHE III werden auf der Intensivstation über Leben und Tod befinden. Und nicht zuletzt: Die Arbeitskräfte werden im Binnenmarkt Europa erst dann wie freie Nomaden umherziehen, wenn sie sicher sein können, im fremden Land auch krankenversicherungs- und medizintechnisch versorgt zu werden.
Und was meinen die Patienten, Erika Mustermann und Willi Normalverbraucher, dazu? Sie stellen schließlich die größte Gruppe auf dem "Spielfeld" Gesundheitswesen. Um sie dreht sich offiziell alles, sie stehen im Mittelpunkt aller Bemühungen - und damit allen anderen im Wege, wie führende Medizininformatiker auf Fachtagungen flachsen. Laut Umfragen der Technikerkrankenkasse und des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen, die 1993 anläßlich der Einführung der Krankenversichertenkarte durchgeführt wurden, wird das elektronische Krankenscheinpendant von den Versicherten sehr gerne angenommen. Es ist ja wirklich praktisch, ohne Krankenschein direkt zum Facharzt gehen zu können, zumal der Datenschutz in den Broschüren der Krankenkassen sehr ernst genommen wird. So werden neue Technologien mustergültig eingeführt. Die Medizin eignet sich sehr gut als Testfeld der Ingenieure und Informatiker, denn die gesellschaftliche Akzeptanz ist in diesem Bereich sehr hoch - sie erwartet kein großer Widerstand. "Der Patient wird die Medizinische Chipkarte von sich aus fordern!" freuen sich die Kartenprotagonisten schon heute - und wahrscheinlich behalten sie sogar recht, denn ihre Verheißungen sind sehr verlockend.
C. Peter Waegemann, Veranstalter kommerzieller Chipkartenkongresse, rechnete bereits 1992 mit ca. 50 Anwendungen, die mit der Chipkarte im Gesundheitswesen machbar seien (Waegemann, 1993). Neben der Krankenversichertenkarte, einer rein verwaltungstechnischen Anwendung, sind sehr viele medizinische Anwendungen möglich: Notfallkarten, Gesundheitskarten und Apothekenkarten sind nur einige Beispiele, die heute schon in Deutschland erprobt werden. Allerlei Pässe lassen sich auf einem entsprechenden Kärtchen unterbringen: Impfungen, Blutspenden, Organspendewilligkeit, Allergien, AIDS-Befund, Röntgenuntersuchungen und weiteres sind problemlos in wenige Bytes zu speichern. Für chronisch Kranke soll in Zukunft nur noch mit Dialyse-Karten, Krebsnachsorge-Karten und dergleichen eine adäquate Behandlung sicherzustellen sein. Schwangeren wird ein elektronischer Mutter- und Säuglingspaß verpaßt. Und für Beschäftigte im Gesundheitswesen werden Professional Cards zum Berufsalltag gehören.
Die "Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen" machte 1994 darauf aufmerksam, daß sich diese Karten schnell gegen die Patienten und Bürger richten könnten, z.B. in Form einer "KrankenerfassungsCard, RisikogruppenCard, DurchleuchtungsCard, EntsolidarisierungsCard und einer 08/15-BehandlungsCard" (Gesundheitsladen Köln, 1994). Und tatsächlich: Bei der Definition und Realisierung von Chipkarten-Projekten werden Vertreter von PatientInnenstellen und Selbsthilfegruppen nicht gefragt. Industrie- und Standesinteressen dominieren und auf Nachfrage bei den Verantwortlichen behaupten diese schlicht, daß sie selber ja auch Patienten seien und daher deren Interessen implizit Berücksichtigung fänden.
Die Kartentechniker treibt ganz andere Sorgen um: "In Frankreich und anderen Ländern ist man schon viel weiter - wir werden zum Entwicklungsland, wenn die Deutschen erst jahrelang die Folgen diskutieren wollen!" unken sie. Sie berauschen sich auf Kongressen und Workshops immer wieder erneut an den "Chancen" der Karte, daß sie gar nicht merken, wie sich ihre Kritikfähigkeit dabei verflüchtigt. In Sonntagsreden fordern die Techniker zwar sozialorientierte Technikgestaltung - tatsächlich sind adäquate Anstrengungen in dieser Hinsicht nicht zu erkennen. Einige geplante Chipkartenprojekte sollen nun kritisch unter die Lupe genommen werden. Beim Studium der nachfolgend beschriebenen Chipkarten ist zu beachten, daß vieles noch nicht Realität ist. Bis auf die Krankenversichertenkarte findet in Deutschland bisher noch keine weitere Karte Anwendung im Routinebetrieb. Daher müssen oft Vermutungen angestellt werden, wie es sein könnte - in der Hoffnung, daß die Grenze zwischen Realität und Fiktion jeweils klar erkennbar bleibt. Über die Plausibilität der Annahmen möge der Leser selbst urteilen.
Die Krankenversichertenkarte (KVK) wurde durch das Gesundheitsreformgesetz von 1988 eingeführt. Gesetzliche Grundlage ist
291 im Fünften Sozialgesetzbuch (SGB V). Der Gesetzgeber hatte nicht unbedingt eine Chipkarte vorgesehen: Ein Pappkärtchen hätte es auch getan - ihm kam es nur auf die eindeutige Identifikation aller Versicherten an. Die Krankenkassen favorisierten die Magnetstreifenkarte, um Maschinenlesbarkeit zu erreichen. Die Ärzte, jahrelang gegen jegliche Versichertenkarte, setzten sich schließlich an die Spitze der Bewegung und forderten ein zukunftsweisendes Konzept: Die Chipkarte. Die KVK wurde von Ende 1993 bis Anfang 1995 in Deutschland flächendeckend an alle Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung verteilt. Rund 90 Prozent der Bevölkerung, das sind ca. 73 Millionen Menschen, verfügen heute über dieses Kärtchen. Bei den Ärzten, Krankenhäusern und Altenheimen wurden in diesem Zeitraum ca. 150000 Lesegeräte und Formulardrucker installiert, um diese Karte auch benutzen zu können. Der hundertjährige Krankenschein hat damit ausgedient.
Die KVK ist das grundlegende Glied in der Kette der Datenübertragung im "Neuen Gesundheitswesen": Der auf ihr gespeicherte Datensatz dient allen Leistungserbringern, von der Hebamme über den Apotheker bis zum Arzt, als Leitinformation aller ihrer Leistungsdatensätze, die sie an die Abrechnungsstellen schicken. Mit dieser Leitinformation lassen sich alle Daten dort auch wieder automatisch zusammenführen (siehe Kapitel 4). Die KVK stellt nur eine Komponente dieser neuen "stromlinienförmigen Datenflüsse" dar: Ärzte, Krankenkassen, Krankenhäuser, Patienten, Krankheiten und Medikamente müssen geeignet durchnumeriert werden, damit alle diese Daten mit Computern verarbeitet werden können. Schätzungsweise müssen 20 dieser Numerierungssysteme (Nummernkreise) aufgespannt werden, um unser Gesundheitssystem effektiv zu computerisieren. Gelinge dies nicht, drohe ein elektronisches "babylonisches Verständigungswirrwar", warnen die Verantwortlichen (Geiss, 1994). Für viele Ärzte war die Einführung der KVK der richtige Zeitpunkt, sich einen Computer für die Verwaltung ihrer Praxis, ein Arztpraxissystem, zuzulegen. Diese Systeme leisten wertvolle Dienste bei der optimalen und schnellen Abrechnung. Viele Ärzte rechnen heute schon papierlos via Diskette ab. Umfassende ISDN-Vernetzung der Praxen, Apotheken, Abrechnungsstellen und Leistungsträgern wird dann bald auch die Disketten obsolet machen.
Welche Daten auf der KVK gespeichert werden dürfen, wurde durch den Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch festgelegt. Neben den Daten zur ausstellenden Krankenkasse sind es folgende versichertenbezogene Daten: Versichertennummer, Versichertenstatus, Ergänzung zum Status: Ost/West, Titel, Vorname, Namenszusatz, Familienname, Geburtsdatum, Straßenname und Hausnummer, Wohnsitz-Ländercode, Postleitzahl, Ortsname, Gültigkeitsdatum und die einfach strukturierte Prüfsumme. Es erheben sich aber immer wieder Stimmen aus dem Lager der Sozialbürokraten und Medizintechniker, die Beschränkungen des Gesetzgebers endlich neu zu überdenken - Potentiale der Karte würden sonst ungenutzt brachliegen. Es muß darauf geachtet werden, daß diese Schranken nicht schleichend fallen und "sinnvolle kleine Ergänzungen" die kleine KVK schließlich zu einer Super-Pflicht-Gesundheits-KVK aufblähen.
Die KVK wird als Wegbereiter weiterführender Kartensysteme angesehen. Zum einen wird durch die KVK die technische und organisatorische Infrastruktur mit all den Computern, Kartenlesern, Computernetzen, der Software, den Nummernkreisen und der Schulung des Personals geschaffen. Zum anderen werden Hemmschwellen gegenüber einer Neuen Technologie mit einer leicht zu handhabenden Versichertenkarte natürlich sehr schnell abgebaut. Es ist - bewußt aus diesem Grunde? - kein komplizierter Paßwortschutz in die KVK eingebaut worden. Bereits Mitte 1994 wurde die Karte von den beteiligten Institutionen als erfolgreiches Jahrhundertprojekt gefeiert. Nach dem Nachweis der Machbarkeit und der Akzeptanz stünden nun viele Interessenten Schlange, die dieses Ausweis- und Abrechnungssystem auch haben wollten. Sogar international dient sie als nachahmenswertes Beispiel: Österreich soll als erstes Land eine KVK-kompatible Versicherungskarte herausbringen und die wechselseitige Anerkennung im grenzüberschreitenden Verkehr mit Deutschland vereinbaren (Geiss, 1994). Das wird der Anfang der länderübergreifenden elektronischen Zusammenarbeit sein. Aber auch außerhalb des Medizinbetriebes stößt die KVK auf wirtschaftliche Verwertungsinteressen: Sie wird bereits jetzt als computerlesbare Stechkarte in einem "genialen Zeiterfassungssystem für kleine und mittlere Betriebe" genutzt. Weitere nicht-medizinische KVK-Anwendungen in Tankstellen und Banken werden "nicht ausgeschlossen" (Kumpfert, 1995). Die Privatwirtschaft weiß, wie sie aus unseren Versicherungsbeiträgen Profit schlagen kann.
Die gesamte Krankengeschichte auf einem kleinen Kärtchen: Arztbriefe, Befunde, Röntgenbilder, Allergien, Impfungen, Medikamente, Besonderheiten - das sind die Träume vieler Medizininformatiker! Das Thema der lebensbegleitenden Krankenakte wird in der Fachwelt intensiv diskutiert. Vorbei wären dann mit einem Schlag die Zeiten, in denen Ärzte jungfräuliche Krankenakten anlegen mußten, wenn ein neuer, unbekannter Patient die Praxis betrat. Von der Wiege bis zur Bahre - alles wäre jederzeit über jeden Patienten computergerecht verfügbar.
Eine Krankenakte ... la Carte würde verschiedene Bereiche besitzen: Allgemein zugänglicher Bereich: Hier würden solche Daten gespeichert, die auch jetzt zum Teil unsere Krankenversichertenkarte enthält: Name, Adresse, Geburtstag und administrative Daten wie die Versichertennummer. Zusätzlich könnten z.B. die Telefonnummern der nächsten Angehörigen in diesem Bereich abgelegt werden.
Notfall-Bereich: Hier wären Informationen für den Rettungsdienst verfügbar: Blutgruppe, Hinweise auf Unverträglichkeit von Medikamenten, Besonderheiten wie Schrittmacher, Diabetes und AIDS-Status.
Dokumente: Impfpaß, Röntgenpaß, Mutter- und Säuglingspaß, Medikamente-Paß, Diabetesausweis, Organspendepaß, AOK-Präventionspaß und Behandlungspläne für beispielsweise die Krebsnachsorge. Beliebige medizinische Ausweise sind auf dem Chip möglich.
Krankengeschichte: Enthält die detaillierte Krankengeschichte des Kartenbesitzers und evtl. auch die von Familienmitgliedern.
Für jeden Datenbereich wäre jeweils ein genau bestimmter Personenkreis zugriffsberechtigt. Und da fangen die praktischen Probleme bereits an: Wer darf wann was lesen und was nicht? Wer darf die Karte mit neuen Daten versehen? Beispielsweise könnten alle den allgemeinen Bereich einsehen, auf die Notfalldaten aber hätten nur der Hausarzt und, via Professional-Card, das Rettungspersonal Zugriff. Die eigentliche Krankengeschichte würde wahrscheinlich noch feiner unterteilt werden, mit jeweils detailliert geregelten Zugriffsrechten. Der Orthopäde soll schließlich nicht ungefragt auf die Befunde des Gynäkologen zugreifen können - das Arztgeheimnis gilt auch unter Kollegen. Wenn der Orthopäde doch mal einen Blick auf diese Daten werfen möchte, sollte das nach Rücksprache mit dem Patienten aber problemlos möglich sein. Die verschiedenen Pässe müßten jeweils speziell geschützt werden. Schließlich soll der Grenzbeamte bei der Prüfung des Impfstatus nichts über die Organspendewilligkeit und den AIDS-Befund des Reisenden erfahren. Natürlich darf es technisch nicht möglich sein, daß der Betriebsarzt oder der Bankangestellte in unserer Krankenakte stöbert, bzw. uns zur Öffnung dieser Datenbereiche zwingen kann. Gleichzeitig soll der Kartenbesitzer - als Herr über seine Karte - aber jederzeit am heimischen Fernsehgerät alle Daten einsehen können. Eigentlich eine Unmöglichkeit, alle diese technischen und juristischen Anforderungen in einem Kartenkonzept zu vereinen - die Techniker sind da aber optimistisch und versprechen praktikable Lösungen. Wir dürfen gespannt sein, wie sie dieses nicht-triviale Zugriffsproblem lösen wollen. Auf jeden Fall sollte eine Gesundheits-Chipkarte für den 25-jährigen Computerhacker genauso durchschaubar und einfach zu bedienen sein wie für seine 93-jährige bettlägerige Großmutter.
Weiterhin ist die Frage offen, welche Daten wie lange in der elektronischen Akte aufgenommen werden sollen und welche nicht. Viele Forscher beschäftigen sich mit der Definition "minimaler Basisdatensätze" für die verschiedenen Medizindisziplinen: Welche Daten braucht ein Diabetiker auf seiner DiabCard, damit seine Behandlung überall in Europa sichergestellt werden kann? Welche Daten sind für einen Europäischen Notfallausweis unabdingbar? Soll die gesamte Krankengeschichte auf die Karte oder reicht die Speicherung eines Teils des Datenbestandes? Ist die Speicherung von Daten für einen gewissen Zeitraum sinnvoller als die lebenslange Dauerspeicherung? Ein viel diskutiertes Modell in diesem Zusammenhang verzichtet auf die lebenslange Speicherung auf der Karte. Der "Arzt des primären Vertrauens", auch als Hausarzt bekannt, übernähme die Pflege der Daten für den Kartenbesitzer. Der Patient kann mit ihm jederzeit über die zu speichernden Daten diskutieren und seine Karte von ihm aktualisieren lassen. Beispielsweise kann für eine Reise lediglich der aktuelle Impfstatus eingespielt werden oder für eine Bewerbungsuntersuchung das Gen-Profil. Aber warum so kompliziert? Warum soll der Kartenbesitzer - als Herr über seine Karte - seine Daten nicht selber einspielen dürfen? Dieses Recht wird ihm aber von allen Seiten abgesprochen. Er sei dazu nicht in der Lage. Man könne sich dann auf die Daten nicht verlassen - schließlich sei beispielsweise ein Impfpaß ein amtliches Dokument. Es bedarf also einer Autorität, um Vertrauen in die Daten haben zu können. Dem Bürger traut man nicht. Der oft postulierte mündige Patient kommt nicht aus seiner Unmündigkeit heraus. Aber warum sollte eigentlich der vom Bürger frei zu wählende "Arzt des primären Vertrauens" dieses amtliche Vertrauen genießen dürfen? Er könnte genauso ein "Chaot" sein wie seine Patienten. So ist es unwahrscheinlich, daß es den "Arzt des eigenen Vertrauens" geben wird, dem die volle Macht über die Karte gegeben wird.
Ob sich nun auf der Karte eine komplette Krankengeschichte befindet oder nicht: Alle Daten müßten irgendwo außerhalb der Karte sicher verwahrt werden, um nicht bei Verlust der Karte unwiderruflich verloren zu sein. Gäbe es dann eine zentrale Stelle, die diese Speicherung übernähme? Das könnte der Hausarzt sein, ein noch zu schaffendes Bundesgesundheitsregister oder privatwirtschaftliche "Gesundheits-Schufas". Vielleicht gäbe es eine dezentrale Sicherung, d.h. jeder Befund und jedes Röntgenbild würde am Erzeugungsort gespeichert. Auf der Chipkarte des Patienten wären dann Verweise auf diese Datenquellen eingetragen, aber auch diese müßten irgendwo zentral gesichert werden.
Wird der glückliche Kartenbesitzer wenigstens seine eigene Krankengeschichte lesen und verstehen können? Dazu benötigt er zumindest einen Computer mit Kartenleser. Dazu kommt dann noch ein einfach zu bedienendes Programm, mit dem er sich den Karteninhalt anschauen kann. Dieses Programm würde die gespeicherten Zahlenkolonnen in eine patientengerechte Darstellung bringen. Das hört sich gut an, erregt aber die Datenschützer: Daten würden manipuliert für eine schöne Darstellung, dem Kartenbesitzer würde lediglich eine Teilsicht auf seine gespeicherten Daten erlaubt.
Für den Fall, daß mal kein Kartenleser verfügbar sein sollte, sollen wichtige Informationen über den Gesundheitsstatus als Piktogramme auf den Kartenkörper aufgedruckt werden. Beispielsweise könnten Blutgruppe, Behinderungen, Besonderheiten wie Herzschrittmacher, Organspendewilligkeit und die HIV-Infektion solche Informationen sein. Ein Foto des Kartenbesitzers auf dem Kartenkörper soll Verwechslungen vermeiden. Sanitäter sollen sich mit den Piktogrammen noch schneller den notwendigen Überblick während einer Rettungsaktion verschaffen und Reiseveranstalter könnten mit einem Blick auf die Karte eine behindertengerechte Fahrzeugausstattung anbieten. Gut gemeint, kann der Schuß nach hinten losgehen: Die Chipkarte könnte als moderner "Judenstern" Karriere machen, da quasi für jedermann ersichtlich wäre, ob der Kartenbesitzer beispielsweise seine Organe der Gesellschaft vorenthält oder eine HIV-Infektion vorliegt. Auch noch so unverdächtige gesundheitliche Informationen, die öffentlich zur Schau getragen werden (müssen), könnten die gesellschaftliche Diskriminierung fördern, solange die Menschen es nicht gelernt haben, vernünftig miteinander umzugehen.
Durch die vollständige oder auch teilweise Krankenakte auf dem Chip kämen übrigens die Mediziner in ungeahnte Bedrängnis: Würden sie regreßpflichtig, wenn ihnen im Falle einer Falschbehandlung nachgewiesen werden könnte, daß sie sich vor der Behandlung des Patienten nicht ausführlich mit dessen elektronischer Akte beschäftigt hatten? Und wenn sie korrekt sein wollten: Welche Teile der Krankengeschichte müßten sie lesen, um sicher zu sein, daß sie alle wesentlichen Informationen für die Behandlung kennen? Sie müßten für jede Behandlung alle explizit berücksichtigten und nicht-berücksichtigten Daten als beurteilt markieren und diese Beurteilung in die aktuelle Behandlungsakte mit aufnehmen. Die zeitintensive Kartenanamnese müßte deshalb in den Gebührenordnungen der Ärzte sehr hoch bewertet werden. Neben dem finanziellen Aspekt hätte dies auch noch einen weiteren gewichtigen Vorteil für den Arzt: Sollte der Patient ihm vorsätzlich wichtige Informationen vorenthalten, kann dieses nachträglich aus der Dokumentation erkannt werden - der Patient trüge dann die Folgen einer Fehlbehandlung allein.
Ein großes Problem der Speicherung medizinischer Daten auf Chipkarten oder in Datenbanken wird ihr Kontextverlust sein. Nur nackte Daten können abgespeichert werden. Erst wenn ein Mensch diese Daten interpretiert, werden Informationen daraus. Eine andere Person kann die gleichen Daten völlig anders interpretieren, und zu verschiedenen Zeitpunkten können die Interpretationen völlig unterschiedlich aussehen. Um nackte Daten interpretieren zu können, müßte der Mensch den Bezugsrahmen - den Kontext - dieser Daten berücksichtigen. Wenn der Rahmen, der zum Zeitpunkt der Datenerhebung gültig war, nicht mehr gegeben ist, kann es zu Verständnisproblemen und verhängnisvollen Neu-Interpretationen kommen. Beispielsweise wurden die Bluterdateien, die jahrelang in Kliniken zur Unterstützung der Behandlung aufgebaut wurden, als datenschutzrechtlich völlig problemlos bewertet. Durch die HIV-Infizierung dieser Patientengruppe mit verseuchten Blutprodukten änderte sich die Situation. Aus der harmlosen Bluter-Datei wurde eine hochsensible AIDS-Datei, die nun auch für nicht-medizinische Institutionen interessant wurde (Kongehl, 1993).
Zunächst hieß sie APO-Card, dann wurde man sich der Doppeldeutigkeit des Namens bewußt und taufte sie noch schnell um in A-Card : Die neue Beratungs-Chipkarte der Apotheken, die "den Dialog zwischen Patient, Apotheker und Arzt kommunikativer als bisher" organisieren soll. Anfang 1996 soll sie flächendeckend kommen, diese "freiwillige Ergänzung zur Krankenversichertenkarte" (Diener/Kirsch, 1994). Erika Mustermann kann sich dann auf diesem Kärtchen ihre umfangreichen Medikamentenkäufe von ihrem Apotheker protokollieren lassen: Pharmazentralnummer und Datum, Dosierungshinweise und Chargennummer würden gespeichert - und das für alle Medikamente, die rezeptpflichtig oder rezeptfrei für diesen Kunden über den Ladentisch wandern. Laut Apothekerverband sollte sich besonders die "hochmedikamentierte Altersgruppe der 80 bis 84-jährigen" über diese neue Möglichkeit sehr freuen.
Die Apotheker wollen zwei Fliegen mit einer Karte schlagen: Erstens wollen sie sich als akademischer Partner des Arztes empfehlen. Sie wollen in Zukunft mehr Verantwortung bei den medikamentösen Aspekten der Behandlung übernehmen. "Pharmaceutical Care" scheint nun praktikabel geworden durch das Datenträgergespann Chipkarte-Patient, das zwischen Arzt und Apotheker pendelt. Wahrscheinlich spielen aber auch Überlegungen eine Rolle, rezeptfreie Arzneimittel in Zukunft im Supermarkt zu vermarkten und rezeptpflichtige Medikamente direkt vom Arzt ausgeben zu lassen - da kommt die Karte gerade recht, um die Kompetenzfrage zu klären. Zweitens bedeutet die Patientenchipkarte eine Marktchance, denn die Apotheken könnten sich so zum Mittelpunkt einer neuen zukunftsträchtigen Infrastruktur entwickeln und bald die vielfältigen medizinischen Daten der Bundesbürger managen.
Damit nicht eine Springflut von Patientenkarten den Markt überschwemmt und die A-Card damit ins Abseits drängt, wollen sich die Apotheker rechtzeitig die richtigen "Untermieter" auf die Karte holen - die A-Card würde damit zur MultiCard avancieren. Für die Krankenkassen könnten beispielsweise die Zuzahlungen bei den verordneten Medikamenten dokumentiert werden, oder der ADAC könnte einen Autofahrer-Notfallausweis auf der A-Card unterbringen. Auch nicht-medizinische Anbieter wie Banken und Kaufhausketten dürften ihre Dienstleistungen auf der A-Card plazieren. Diese Organisationen müßten dafür zahlen, bräuchten dann aber keine eigenen Karten mehr auf den Markt zu werfen. Diese Firmen könnten auch die Werbefläche hinten auf der Karte mieten - wie jetzt schon bei der Telefonkarte. Die A-Card dürfte sich dann auch unter Sammlern großer Wertschätzung sicher sein. Ob die A-Card in Zukunft völlig freiwillig zu verwenden ist, kann bezweifelt werden. Sie besitzt die Potenz einer Pflichtkarte, denn als Medikamentenkarte wird sie ihren Beitrag in einer "rationalen Arzneimittelversorgung" leisten wollen, was bei zukünftigen Gesundheitsreformstufen nicht unberücksichtigt bleiben wird.
Gesundheitskarten der Krankenkassen sind im Kommen. Auf ihnen können Versicherte Bonuspunkte sammeln, um sich so eine saftige Beitragsrückerstattung zu sichern. Im Rahmen des neuen Wettbewerbs zwischen den einzelnen Krankenkassen um "gute Risiken" ist dies sicherlich ein schlagkräftiges Argument für den kosten- und gesundheitsbewußten Bürger. Um diesen Bonus zu bekommen, müßten sie allerdings regelmäßig zum Gesundheits-Checkup bei Ihrer Krankenkasse vorbeischauen und gegebenenfalls auch Angebote zur Gesundheitserziehung und Prävention wahrnehmen.
Das hört sich gut an, kann aber den Beginn der "Rationierungsgesellschaft", in der "knappe Ressourcen gerecht verteilt" (Dethloff, 1992) werden sollen, bedeuten. Was das heißt, wird unten eingehend diskutiert. Krankenkassenvertreter beteuern zwar stets die Freiwilligkeit solcher Kartenangebote, aber im Zuge weiterer Sparmaßnahmen werden sich die Versichertengemeinschaften vielleicht einmal dazu entschließen, denjenigen, die sich vorsätzlich gesundheitsschädigend verhalten, keinen Schutz mehr zu gewähren. Und das würden beispielsweise diejenigen sein, die keine selbstverantwortliche, gesunde Lebensführung auf der Gesundheitskarte nachweisen können. Damit bekämen auch völlig freiwillige Karten schnell Zwangscharakter (Stark, 1993; Wellbrock, 1994).
Wer aber definiert, welches Verhalten gesundheitsschädigend oder gesundheitsfördernd ist? Was ist als Risikofaktor anzusehen und was nicht? Wird man gezwungen, Cholesterin zu meiden, obwohl der Zusammenhang zwischen Eierkonsum und Herzinfarkt wissenschaftlich überhaupt nicht nachgewiesen ist? Womöglich erkranken und sterben gerade diejenigen früher, die sich krankenkassenkonform verhalten. Kann die Kasse dann wegen Körperverletzung oder Totschlag in Regreß genommen werden? Und wer stellt mit welcher Methode den Verstoß gegen die Gesundheitsregeln fest? Wird es einen Katalog geben, der Aufschluß über die Kostenstruktur von detailliert definierten Verhaltensweisen gibt? Wird Denunziation in die Gebührenordnungen der Ärzte aufgenommen werden müssen oder werden eigens "Gesundheitspolizisten" von den Kassen beschäftigt? Können sich Nachbarn so ein kleines Zubrot verdienen? Die individuelle Risikofaktorensuche lenkt ab von den wirklichen Krankmachern in Industrie und Gesellschaft. Es ist nicht zu erwarten, daß Chipkarten einen Beitrag zur Vermeidung krankmachender Arbeits- und Wohnverhältnisse leisten werden.
Die Betriebskrankenkassen in Sachsen planten bereits 1993 eine BKK-Gesundheitskarte, auf der u.a. Cholesterin- und Blutdruckwerte gespeichert werden, um Bonuspunkte für "gesunde Lebensweise" gutzuschreiben. Bei den AOKs laufen solche Pläne seit 1994 unter dem Namen "VitalCard". Andere Kassen werden sich diesem Wettbewerb nicht entziehen können. Anscheinend koordinieren die Kassen aber nicht einmal ihre Kartenpläne, so daß demnächst vielleicht eine wahre Flut zueinander inkompatibler Gesundheitskarten mit den verschiedensten Diensten und Risikofaktoren über uns hereinbrechen wird.
Nierenkranke, Krebspatienten und Defibrillatorträger können aufhorchen. Für sie und viele andere chronisch Kranke werden zur Zeit eigene Chipkartensysteme (u.a. DiabCard, OnkoCard und DefiCard) erprobt. "Shared Care" heißt das Zauberwort, was soviel wie "verteilte Pflege" heißt und das verbreitete Verfahren des 21. Jahrhunderts werden soll (Elsässer/Köhler, 1993). Mit Shared Care sollen die Kostenprobleme gelöst und ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Patient und medizinischem Personal Realität werden. Außerdem soll damit die Kommunikation unter Medizinern verbessert werden. Das alles sei nur mit Chipkarten machbar, sagen die Techniker - nur mit ihnen soll die wachsende Schar chronisch Kranker in Zukunft eine angemessene Behandlung genießen können. Aber was ist, was will Shared Care?
Als größter Kostenfaktor in unserem Gesundheitswesen wurde schon seit langem der Krankenhausbereich ausgemacht. So wurde stets nach Alternativen Ausschau gehalten. Mit dem Konzept der verteilten Krankenpflege meint man, fündig geworden zu sein: Mit ihr soll der kostenintensive Daueraufenthalt im Krankenhaus auf ein Minimum reduziert werden, indem ein Netz von (privaten?!) ambulanten Stationen verschiedenster Tätigkeitsfelder aufgebaut wird, das die gleichen Aufgaben übernehmen soll. Der chronisch Kranke wird Teile seiner Behandlung an diesen "Servicestationen" bekommen: Die Bestrahlung wird regelmäßig im Städtischen Radiologiezentrum durchgeführt, komplizierte Untersuchungen führt der niedergelassene Facharzt für Krebserkrankungen durch. Zur Einstellung des Herzschrittmachers fährt man ins SIEMENS-Servicecenter, bei der Selbsthilfegruppe läßt man sich die Sitzungstermine zur psychosozialen Aufarbeitung seines Leidens bescheinigen, und auch der wöchentlich vorbeischauende Zivildienstleistende kann seine Serviceleistungen am Patienten auf der SharedCare-Karte dokumentieren. Auf dieser Karte könnte auch ein Dauerrezept abgelegt sein, mit der die Medikamente regelmäßig am Automaten gezogen werden können. Diese Service-Stationen bedienen jeweils Teilaspekte der Gesamtbehandlung, der Hausarzt steuert das Geschehen durch entsprechende Einträge auf dem Chip, er wird im wahrsten Sinne des Wortes "Gesundheitsmanager". Der Patient indessen wandelt zwischen den Institutionen, im Gepäck seine stets aktuelle elektronische Krankengeschichte, die er selber nicht einsehen und verstehen kann.
Die Grundidee, um die häusliche Pflege herum ein ambulantes Netz an Gesundheits- und Sozialdiensten aufzubauen, um unnötige Krankenhaus-Daueraufenthalte zu reduzieren und die Abschiebung in Pflegeanstalten zu verhindern, ist durchweg positiv zu bewerten. Außerdem sind Anstrengungen zu begrüßen, die das Gespräch zwischen Patient und Arzt, zwischen den Ärzten und den anderen Gesundheitsarbeitern fördern. Allerdings ist es sehr zweifelhaft, daß sich diese Ziele gerade mit Shared Care und Chipkarten erreichen lassen. Die Arbeitsteilung - die Taylorisierung - im Gesundheitswesen wird durch Shared Care zwangsläufig ein großes Stück vorangetrieben. Der Spezialisierungsdruck bei Ärzten und Personal kann zu erhöhten Kommunikationsdefiziten führen, die durch technische Kommunikationskanäle allein wohl nicht kompensierbar sind - man spricht einfach nicht mehr die gleiche Sprache. Schließlich wird die Kommunikation via Chipkarte nach genormten Standards organisiert sein: Die Form dominiert den Inhalt.
Die interne Diskussion in Fachkreisen wird im übrigen von hinten aufgezäumt. Medizininformatiker und Gesundheitsökonomen diskutieren zunächst über die Mittel (z.B. Chipkarten), um dann später vielleicht mit der Gesellschaft in den Diskurs über die Inhalte und Grundsätze eines "Neuen Gesundheitswesens" zu treten. Die Rahmenbedingungen dieses späten Diskurses sind dann aber bereits technologisch fixiert - nichttechnische Alternativen wären damit von vornherein ausgeschlossen. Wer Shared Care lediglich technologisch begreift, um Kosten-Nutzen-Bilanzen zu verbessern, reduziert die Patienten noch radikaler auf ihre bloßen Daten, da persönliche Beziehungen aufgrund der perfektionierten Taylorisierung dann keine Rolle mehr spielen können. Das wäre ein großer Schritt zurück, weit hinter den Status Quo des Molochs Krankenhaus! Wer sozialorientiertes Shared Care möchte, muß darauf bestehen, daß sich erst alle gesellschaftlich relevanten Gruppen an der Diskussion über die Ziele unseres Gesundheitswesens beteiligen. Beispielsweise wäre es in diesem Zusammenhang sinnvoll, über ambulante Gesundheitsarbeit zu reden. Erst wenn die Ziele feststehen und breit akzeptiert sind, sollte über Technologien gestritten werden.
Immer mehr Karten werden in Umlauf gebracht: Die Bankkarte, verschiedene Kreditkarten, Telefonkarte, BahnCard und die Krankenversichertenkarte bringen jetzt schon unsere Portemonnaies zum Bersten. Und es werden noch viel mehr Karten dazukommen: der maschinenlesbare EU-Führerschein, die Asyl-Card, die elektronische Busfahrkarte, die diversen Gesundheitskarten, die elektronische Geldbörse, die Autobahnmaut-Karte: Karten über Karten - und kein Ende in Sicht! Da kommt den Kartenfreunden die multifunktionale Karte gerade recht: Auf einer einzigen Karte könnten viele Anwendungen ("multi") untergebracht werden. Kreditkarte, Telefonkarte, Führerschein und die Gesundheitskarte - alles wird auf eine einzige Karte gesetzt!
Die einzelnen Anwendungen würden mit komplizierter Krypto-Logik gegeneinander abgeschottet werden, der Kartenbesitzer könnte jedes einzelne Bit im Zugriff jederzeit schützen und freigeben, versichern uns die Mathematiker (Beutelspacher, 1993). Theoretisch ist das durchaus überzeugend. Leider wird nicht klargestellt, wie das praktisch funktionieren soll: Wird sich der 89-jährige Otto Normalverbraucher dreißig Paßwörter merken müssen? Oder gibt es ein Superuser-Paßwort, das dann doch hinten auf der Karte stehen würde ? Alle Bankkonten und Gesundheitsakten stünden dem Dieb offen. Oder werden gar biometrische Erkennungsverfahren zum Einsatz kommen müssen, die bei jedem Zugriff den Fingerabdruck und den Augenhintergrund des Zugriffsberechtigten verifizierten? Das wäre in der Tat sehr sicher - mathematisch betrachtet. Gesellschaftlich gesehen wäre das der Beginn eines Sicherheitsstaates, der weit über alle Vorstellungskraft hinausginge.
Beschäftigte im Gesundheitswesen (neudeutsch Professionals genannt) werden bald nur noch mit Chipkarte arbeiten - ohne dieses Ding werden sie nicht einmal eine Patientenakte einsehen können. Der Professional erhält eine speziell auf ihn und seine berufliche Funktion ausgestellte Karte - die Professional Card. Die ausstellende Stelle wie beispielsweise das Krankenhaus oder die Kassenärztliche Vereinigung vermerken auf ihr alle relevanten Daten wie Personenidentifikationsnummer, Gültigkeitsvermerke, Zugangsberechtigungen und elektronische Unterschrift. Mit einer gültigen Karte kann der Besitzer verschiedene, speziell für ihn freigegebene Dinge tun: Wenn er Daten eines Patienten über das Terminal einsehen möchte, wird ihm das nur mit seiner Professional Card möglich sein. Nur mit ihr kann er auf die Chipkarte eines Patienten zugreifen und darauf neue Daten einspielen - auf der Patientenkarte wird dann die Arztkennung der Professional Card automatisch festgehalten. Wenn er die Schleuse des OPs betritt, wird dies aus Sicherheitsgründen via Karte abgecheckt und im Hauptcomputer gespeichert werden. Pfleger werden ihre aktuellen Aufträge via Terminal und Professional Card entgegennehmen und bestätigen. Mit einer Chipkarte für jeden Mitarbeiter oder Freiberufler können Zugriffs- und Zutrittsberechtigungen vergeben werden, die damit auch sehr leicht kontrollierbar werden. Durch das stark arbeitsteilige und technikzentrierte Gesundheitswesen werden Verantwortlichkeiten zur Unkenntlichkeit verstümmelt - der Patient trägt letztendlich den Schaden allein. Durch Professional Cards könnten Handlungsstränge wieder personell nachvollziehbar gemacht werden. Professionelle Verantwortung, die gerade noch verloren schien, könnte wieder übernommen werden. Dieses ist aber nur dann notwendig, wenn wir uns für ein Gesundheitswesen entscheiden, welches nach diesem Technomuster organisiert ist. Aber wollen wir das?
Für die meisten von uns unsichtbar, verändert sich unser Gesundheitswesen von Grund auf: Information hält Einzug in die Institutionen. Man nimmt zwar wahr, daß immer mehr Computer die Rezeptionen und Sprechzimmer unserer Mediziner erobern - spürt dabei aber nicht die Tragweite dieses Technisierungsprozesses. So ist es durchaus verständlich, daß sogar prinzipiell kritische Gesundheitspolitiker nicht den fundamentalen Unterschied zwischen einer Krankenakte aus Papier und einer Multimedialen Krankenakte erkennen und sich die Vorteilsargumentation der Kartenindustrie zu eigen machen. Es kursieren mehrere Märchen in den Diskussionen um die Chipkarte, die Befürchtungen zerstreuen sollen. Sie sind sehr einfach im Aufbau, ihre Wirkung auf die Entscheidungsträger sollte jedoch nicht unterschätzt werden.
Das erste Märchen erzählt davon, daß Chipkarten "einfache und wertneutrale Werkzeuge" in der Hand des Arztes und des Patienten seien (Köhler, 1994b). Der Patient habe es allein in der Hand, wie er seine Karte benutzt. Er könne sie im Zweifelsfall einfach wegwerfen und sehr gut ohne dieses Werkzeug weiterleben. In der Dokumentation des "Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik" zur Technikfolgenabschätzung der Medizinischen Chipkarte wird von den Sozialwissenschaftlern die These von der "Wertneutralität der Chipkarte" bekräftigt. Daß durch Chipkarten aber ein großtechnisches System etabliert werde, dem sich nicht einmal schärfste Kritiker entziehen könnten, wird hingegen nicht ernstgenommen. Patienten könnte das gleiche Schicksal treffen wie das jener Kernkraftgegner, die ihren Strom aus der Steckdose beziehen müssen. So wird es wohl in Zukunft dem Patienten nicht mehr möglich sein, ohne Chipkarte eine adäquate Behandlung zu erhalten. Stromkonsumenten und Chipkarten-Patienten müssen im System leben und denken - Alternativen wird es für sie nicht mehr geben. Und genau das macht den Unterschied zwischen Großtechnologie und einem einfachen Werkzeug aus.
Das zweite Märchen handelt davon, daß Chipkarten eine "echte Alternative zu Computernetzwerken" seien (Köhler, 1994b). Das wäre wirklich eine feine Sache: Computerhacker könnten dann nicht auf die Daten in den Karten zugreifen, so wie sie es ständig in den Netzen tun. Und außerdem könnten keine zentralen Datensammlungen aufgebaut werden. Leider sind Chipkarten nicht geeignet, die große Vernetzung der Institutionen zu verhindern und damit dessen Gefahren zu vermeiden. Im Gegenteil - durch Chipkarten wird die Computervernetzung erst attraktiv. Karten allein wären nicht in der Lage, die riesigen Datenmengen durch Europa zu bewegen, wie es durch Netze möglich sein wird. Aber durch sie erst wird "rechtsverbindliche, abhör- und einbruchssichere" Telekommunikation auf den Netzen machbar - Karten steuern und sichern die großen Datenströme im Netz. Und dieses Sicherheitsversprechen ist eine wesentliche Vorraussetzung für die Institutionen, auf diese schnellen Netze zu setzen. Bereits 1993 empfahlen Bangemann und die Mitglieder seiner "Gruppe von Persönlichkeiten zur Informationsgesellschaft" dem Europäischen Rat dringend ein Projekt "Netze für das Gesundheitswesen", das hauptsächlich von der Privatwirtschaft finanziert werden solle. Ziel sei es, die Arbeitnehmer an die veränderten industriellen Produktionssysteme anzupassen. Seit einigen Jahren wird übrigens im Rahmen des EU-Forschungsprogramms AIM (advanced informatics in medicine) diese Vernetzung - unter intensiver Beteiligung der Industrie und unter Ausschluß kritischer Wissenschaftler - auch praktisch vorangetrieben (Dippoldsmann, 1993; DVD 1992).
Das dritte Märchen berichtet vom "optimalen Datenschutz durch Chipkarten" (NN, 1994). Es gibt eine Sorte von Datenschützern, die den Begriff Datenschutz wortwörtlich als "Schutz der Daten vor unberechtigtem Zugriff" versteht. Solche "Schützer der Daten" sind natürlich von den technischen Möglichkeiten der Krypto-Verschlüsselungen, Teilschlüsselvergabe und Pseudonymisierungsmöglichkeiten der Chipkartentechnologie begeistert. Die Krypto-Mathematik gibt ihnen die Möglichkeit, Daten wie in einer Festung vor "feindlichen Angriffen und Ausspähversuchen" zu sichern - und Chipkarten seien das ideale Medium, diese Methoden für jedermann bereitzustellen (Beutelspacher, 1993). Aber vor wem sollen Patientendaten geschützt werden - wer ist der Feind? Womöglich der Patient selbst? Datenschutz sollte aber in erster Linie verstanden werden als Schutz der Persönlichkeitsrechte des Bürgers. Dann spielen technische Sicherungskonzepte eine untergeordnete Rolle - oder wären sogar kontraproduktiv wie im Falle der Patientendaten. Die "militärische" Sicherung der medizinischen Daten soll offensichtlich betrieben werden, damit man dem Patienten, dem Bürger nicht mehr trauen muß - nur die "objektiven" Daten zählen. Das wird in Fachkreisen dann "vertrauenswürdige" Informationstechnik genannt, Vertrauen zwischen den Menschen ist nicht mehr nötig. Für die Persönlichkeitsrechte des Bürgers, wie beispielsweise das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung, interessieren sich nur wenige dieser Datenschützer.
Das größte Märchen schließlich malt das Bild des "Mündigen Patienten", der nach 2000 Jahren Unterjochung durch Schamanen und Kassenärzte dank Chipkarte seine medizinische Behandlung nun endlich selber in die Hände nehmen kann (Köhler, 1994b; Wettig, 1994). Der Patient wäre in Zukunft gleichberechtigt an allen medizinischen Entscheidungen beteiligt. Seine Krankengeschichte wäre nur den Personen zugänglich, denen er auch vertraut. Der Patient könne gezielt Informationen zu seiner medizinischen Behandlung beisteuern - oder auch zurückhalten. Patienten sind aber gerade dann, wenn sie es am Nötigsten hätten, alles andere als selbstbewußt, rational-abwägend und mündig. Die Chipkarte allein wird an dieser Situation nichts ändern. Um dem Patienten ein Stück Selbstbestimmung wiederzugeben, bedarf es weit mehr. Und auch bei der Chipkartengestaltung werden Patienten nicht gefragt. Ihre Interessen werden nicht explizit berücksichtigt. So ist es sehr unwahrscheinlich, daß die Patientenchipkarte automatisch zur Emanzipation seines Besitzers führt.
Angeblich wird uns nur der Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft davor bewahren, wieder in die Steinzeit zurückzufallen. Alle reden von der Lebensnotwendigkeit von Multimedia und den Datenautobahnen - die Patienten mögen sich bitte freimachen und in den Cyberspace begeben. Jürgen Dethloff, Erfinder der Chipkarte, schätzt ihren Nutzen für die Gesellschaft sehr hoch ein. Frei interpretiert, liest sich die Dethloff'sche Vision (Dethloff, 1992) folgendermaßen: In Zukunft - in einer nicht näher definierten postindustriellen Gesellschaft, wahrscheinlich aber in der sagenumwobenen Informationsgesellschaft - würden unsere Ressourcen immer knapper: Luft, Wasser, Geld, Gesundheit, Arbeitsplätze, Wohnraum, Urlaubsreisen, Freiheit und Kindergartenplätze reichten schon heute nicht mehr für jeden. Es werde also notwendig sein, hauszuhalten. Die Verteilung der Ressourcen sollte möglichst ""gerecht" sein - näheres wird eine Verordnung regeln. Optimal wäre es, wenn sich jede Person freiwillig so verhalten würde, daß sie der Gesamtgesellschaft am wenigsten schadet - dann wären sogar unwürdige und bürokratische Kontrollen unnötig. Nun ist es leider so, daß sich Individuen meist nicht so ideal verhalten. Persönlicher Egoismus, Faulheit und die Angst, von anderen übervorteilt zu werden, bestimmt das menschliche Dasein auf Erden. Also muß das "freiwillige Wohlverhalten" mit etwas Technik unterstützt werden: Es müßte ein gesellschaftlicher Regelkreis etabliert werden, der mit der Regelspannung positiver und negativer Motivationseinheiten arbeitet. Der gesellschaftliche Zielzustand würde dann im voraus eingestellt - die Gesellschaft würde sich selbständig einregeln. Die Chipkarte soll als technisches Vehikel der Motivationseinheiten, der Stimulanzien, dienen. Mit ihr soll eine Art "Omnibus"-System aufgebaut werden, mit dem alle möglichen Dinge geregelt werden könnten - Chipkarten dienen als "Omnibus to Motivated Behaviour" (Dethloff, 1992).
Die Gesundheitskarten der Krankenkassen können als erste Schritte in Richtung dieses "Motivated Behaviour" interpretiert werden (Stark, 1993): Mit Bonuspunkten für gesundheitliches Wohlverhalten und Zuschlägen für Fehlverhalten als Stimulanzien soll ein gesundheitlicher und finanzieller Zielzustand der Versichertengemeinschaft erreicht werden. Kommen dann irgendwann weitere Regelbereiche wie beispielsweise die Müllmenge und das Fahrverhalten hinzu (Kuhlmann, 1994), könnten sogar Motivationspunkte zwischen den Bereichen getauscht werden. Diese Gedanken entstammen offensichtlich einer utilitaristischen Grundhaltung - das Glück der Mehrheit soll mit der Chipkarte maximiert werden. Daß dieser Utilitarismus nicht unbedingt human sein muß, liegt auf der Hand: Mit diesem "ethischen" Bewertungsmaßstab ließe sich beispielsweise auch Mord begründen mit dem Ziel, die Organe einer Person mehreren Menschen zukommen lassen zu.
"Angesichts der Verletzlichkeit der >Informationsgesellschaft< wird ihre Offenheit zur leeren Versprechung. Die psychische Mobilität und die intellektuelle Bereicherung in freien weltweiten Computernetzen und offenen Informationssammlungen, der unbegrenzte Zugriff auf den geistigen Reichtum der Gesellschaft, der freie Austausch von Ideen und Informationen - alle diese Träume zerschellen an den geschlossenen Benutzergruppen, den Chipkarten-gestützten Zugangskontrollen, den eng beschränkten Zugriffsrechten, den verschlüsselten Datensammlungen und den abgekapselten Informationsbunkern. Statt >free flow of information< und offener Netze werden Abschottung, Kontrolle, Überprüfung und Überwachung das Bild der >Informationsgesellschaft< prägen."(Roßnagel u.a., 1989, 203f)
Überwachung und Kontrolle werden genau jene Freiheiten einschränken und begrenzen, mit denen heute für den Umbau zur Informationsgesellschaft geworben wird. Es wird exakt definiert werden müssen, wer welche Dinge dann noch machen darf und wer nicht - schließlich gelte es, "Angriffsformen des 21. Jahrhunderts" (Roßnagel u.a., 1989, 210) abzuwehren. Ein dichtes Netz von Kontrollinstanzen, Aufsichtsbehörden und sogenannten TeleTrust-Centern ("Vertrauensstellen") wird aufgebaut werden - nicht umsonst wurde ein eigenes "Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik" in Bonn errichtet. Anarchie und Unsicherheiten werden sich Behörden und Industrie nicht leisten wollen. Die Infrastruktur eines effektiven Sicherungsapparates existiert momentan nur in den Köpfen der Technokraten - der finanzielle und organisatorische Aufwand für die Umsetzung wird gewaltig sein. Bei Einsatz biometrischer Verfahren könnte das im schlimmsten Falle sogar bis zur erkennungsdienstlichen Totalerfassung der Gesamtbevölkerung gehen.
Mit der Chipkarte wird die Informationsgesellschaft erst möglich - sie wird die Eintrittskarte in das gesellschaftliche Leben sein. Ohne Chipkarten wären wir "nackt": Fernsehen, telefonieren, einkaufen, autofahren - und natürlich der Arztbesuch - werden ohne Karte nicht mehr möglich sein. Verkauft wird uns das heute anders: Endlich bargeldlos zahlen, "Video on demand" sehen, weltweit funktelefonisch erreichbar sein - und der "Mündige Patient" würde Realität werden. Das alles wäre natürlich völlig freiwillig, niemand würde zu seinem Glück gezwungen. Aber ist das kartenlose Leben des elektronischen Einsiedlers tatsächlich vorstellbar? Eine Gesellschaft, in der die Chipkarte zu einer Art "Personen-Äquivalent" mutiert und nur noch "Datenschatten" rechtsverbindlich miteinander interagieren können? Was wir Menschen machen, wird keinen mehr wirklich interessieren. Verträge würden nur noch elektronisch unterschrieben - man würde am Computer mit seiner Chipkarte digital signieren - die handschriftliche Unterschrift sei schließlich leicht fälschbar und äußerst unpraktisch. Die elektronische Krankenakte erhielte beim Arztbesuch mehr Gewicht als das persönliche Gespräch. Sogar die Beichte in der Kirche könnte ein Computer übernehmen - inklusive virtuellem Fegefeuer zur Abbuße.
Zusammen mit der Dethloff'schen Vision einer "gerechten Welt" und den sich eröffnenden Steuerungs- und Kontrollpotentialen bekommt der Begriff "Informationsgesellschaft" schnell einen totalitären Zug. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um ihren Sinn oder Unsinn muß erst noch geführt werden. Der Preis für den Einstieg in die Informationsgesellschaft darf auf keinen Fall der absolute Sicherheitsstaat sein!
Mit dem ersten Chipkartenpatent, der "Urmutter aller Chipkarten", das von den beiden Deutschen Jürgen Dethloff und und Helmut Gröttrup 1968 eingereicht wurde, beginnt die offizielle Geschichte der Chipkarte (Köhler, 1994a, 9ff). Es ist eine typische Technikgeschichte der "Großen Männer", der Erfinder und Pioniere der ersten Stunde - und der derzeitigen Projektleiter in Forschung, Wirtschaft und in den Selbstverwaltungsorganen. Auf großen internationalen Kongressen halten sie visionäre Eröffnungsvorträge oder ergattern einen "Bruno" (genannt nach dem Chipkarteningenieur Bruno Struif), den selbstgestifteten Oscar der deutschen Chipkartenelite. In dieser kleinen Chipkartengeschichte hingegen soll der Blick auf sonst unbeleuchtete Stellen der Technikentstehung gelenkt werden.
Das Projekt der "Krankengeschichte ... la Card" hat seine Wurzeln in der Medizinischen Dokumentation. Ihre Anfänge lassen sich bis in die Zeit der ägyptischen Hochkulturen (Papyrus Smith) und des Griechen Hippokrates zurückverfolgen. Im "Corpus Hippokraticum Epidemien I und III" sind einige der ersten überlieferten Zeugnisse medizinischer Dokumentation zu finden. In ihnen sind bereits Anamnese, Status präsens, Epikrise und Prognose in ausführlichen Krankenjournalen mit treffsicherem Ausdruck abgefaßt. Seit Jahrtausenden gehört also die Anfertigung von Krankenakten zu den ureigensten Tätigkeiten der Mediziner.
Heutzutage hingegen hätten Ärzte die rechte Lust am Dokumentieren verloren, glaubt man dem Experten Lawrence L. Weed (Weed, 1978). Er klagt über seine Kollegen, daß diese recht lustlos und unsystematisch dokumentierten. Krankenakten seien sehr oft unleserlich, diffus, subjektiv und unvollständig geführt, so daß sie als Instrument der Kommunikation zwischen Ärzten und medizinischem Personal nicht zu gebrauchen seien. Weed wollte diesen Zustand anarchischen Dokumentierens beenden und empfahl sich mit dem strukturierten, problemorientierten Krankenblatt. Die Zeiten der unleserlichen Notizen, die nur der Autor entziffern konnte, sollten endgültig vorbei sein! Das Körperteile-Menschenbild der "Taylormedizin" unterstützte die dafür notwendige Standardisierung und Normierung der medizinischen Sprache in idealer Weise - und vice versa. In modernen Krankenblättern finden sich folgerichtig hauptsächlich Rubriken zum Ankreuzen und zum Eintragen von Nummern für die maschinengerechte Verarbeitung. Individuelle Einschätzungen, die sich nicht in dieses Schema pressen lassen, sind nicht mehr dokumentationswürdig. Damit entfernt sich aber die Dokumentation zwangsläufig immer mehr vom Patienten und vom betreuenden Arzt - von den Subjekten des individuellen Geschehens wird das Gewicht verlagert auf das vermeintlich medizinisch Objektivierbare. Ziel ist die maschinenverwertbare Arztdokumentation.
Weed soll übrigens schon 1976 auf einem NATO-Workshop gefordert haben, die Krankengeschichte in die Patientenhände zu geben (Köhler, 1994a, 1). Damit war er aber kein Vorkämpfer der PatientInnenstellen. Meiner Einschätzung nach wird Weed den Patienten lediglich in der Rolle des Datenträgers gesehen haben, denn er forderte nicht explizit eine für Medizinlaien verständliche Darstellung der Akte - nur die Mediziner sollten endlich gegenseitig ihre Befunde verstehen und austauschen können. Ob allerdings Mediziner ein Interesse daran haben könnten, sich von ihren Kollegen in die Karten schauen zu lassen, ist fragwürdig. Welcher Arzt dokumentiert schon gerne öffentlich seine Unsicherheit in der Diagnose oder offenbart seinen Konkurrenten Konzepte in der Therapie? Schließlich wird der Ärztestand nicht umsonst als "verstrittenster Haufen" (persönliche Einschätzung einer Ärztin über ihre Kollegen) bezeichnet.
Die Rolle der Medizinischen Dokumentation und Statistik im Dritten Reich wird unter Medizininformatikern selten, wenn überhaupt, reflektiert. Das liegt vielleicht daran, daß es Informatik damals als Disziplin noch nicht gab. Nichtsdestotrotz wurde im Nationalsozialismus Medizininformatik betrieben. Karl-Heinz Roth, Götz Aly und andere kritische Sozialwissenschaftler wiesen nach (Aly/Roth, 1984; Pfäfflin, 1984; Roth, 1984), daß die Nationalsozialisten nur "mit Hilfe von Zahlen, Lochkarten, statistischen Expertisen und Kennkarten" ihre Macht festigen, die Tötung von Menschen bürokratisch organisieren - und schließlich auch effektiv und effizient durchführen konnten. "Jede Marsch- und Arbeitskolonne existierte zunächst als Zahlenkolonne, jeder Vernichtungsaktion ging die Erfassung voraus, die Selektion an der Rampe beendete die Selektion auf dem Papier." (Aly/Roth, 1984, hintere Umschlagseite). Einige Verantwortliche der NS-Vernichtungsbürokratie führten auch in der Nachkriegszeit das Zepter der deutschen Medizininformatik und Biostatistik und prägten dieses Fach (Aly/Roth, 1984, S.96ff).
Am 14.7.1933 wurde das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" von der nationalsozialistischen Reichsregierung verabschiedet. Eine wesentliche Voraussetzung zur konsequenten Durchführung dieses Gesetzes war der schnelle und zielgerichtete Zugriff auf das Datenmaterial aus mehreren Volkszählungen und der Erhebungen in den psychiatrischen Anstalten, Pflegeheimen, Gesundheitsämtern, Krankenkassen und Zuchtanstalten. Medizininformatiker und Biostatistiker schufen die wissenschaftliche und technische Basis für die "Sterilisierung und Aussonderung Gemeinschaftsunfähiger", indem sie mit Hilfe damals modernster Lochkarten- und Rechentechnik die deutsche Bevölkerung einem feinen Raster der Erfassung und Klassifikation aussetzten. Dabei sollten beispielsweise nicht nur "sichtbar Erbkranke", sondern auch "wahrscheinlich Erbbelastete" in das Visier genommen werden. Die beiden Wissenschaftler Kranz und Koller (Kranz/Koller, 1939/41) wiesen die Nazis besonders darauf hin, daß nur durch diese Weitung des Blickes eine radikale Aussonderung der "Landesverräter, Rasseschänder, wegen Abtreibung Straffällige, sexuell Hemmungslose, Süchtige, Trinker und Prostituierte (..) Arbeitsscheuen und gewohnheitsmäßigen Schmarotzer ..." gewährleistet werden könne (Aly/Roth, 1984, 107) - was wahrscheinlich das Todesurteil für viele Tausende von Menschen bedeutete.
In Hamburg ging man einen Schritt weiter: Für jeden Hamburger Bürger sollte ein Gesundheitspaß angelegt werden (Pfäfflin, 1984). Das Hamburger Gesundheitspaßarchiv, das Instrument zur "Durchordnung des Volkes, wie sie unter nationalsozialistischer Führung vor sich geht", organisierte und verwaltete sie. Von den Vertrauensarztkarten der AOK und den Invalidenakten der Landesversicherungsanstalt, von Geburts- und Todesbescheinigungen bis zu Protokollen schulärztlicher Untersuchungen und Meldungen der Krankenhäuser liefen alle nur denkbaren Schriftstücke durch das Archiv und füllten so die Gesundheitsakten der Hamburger Bürger. Hamburg galt als Vorbild für Versuche zur Erfassung der deutschen Gesamtbevölkerung. 1939 waren 1,1 Millionen Hamburger erfaßt und verkartet und 400000 Gesundheitspässe warteten auf ihre Ausgabe, als zu Kriegsbeginn die "erbpflegerischen Maßnahmen" vorübergehend zurückgestellt - und erst einige Jahre nach Kriegsende ganz eingestellt wurden.
Der Hamburger Gesundheitspaß und die Aktensammlungen der Nationalsozialisten gehören zur Geschichte der Medizinischen Informatik und der Patientenchipkarte. Sie macht verständlich, warum sich heute - und gerade in Deutschland - schärfste Kritik an den Plänen unserer Gesundheits- und Sozialtechniker entzündet.
Kritiker der Krankenversichertenkarte überlegten sich schon früh, wie man dieses Stück Plastik austricksen könnte, um wie Sand im Getriebe der Gesundheitsverwaltung zu sein. Kann der Chip mit dem Bügeleisen bearbeitet werden? Kann man sie notleidenden Menschen schenken, um sich dann neue Karten von der Kasse zu holen? Kann man dem Chipspeicher - unter Lebensgefahr! - mit Strom aus der Steckdose beikommen? Sollen die Ärzte und Arzthelfer mit kritischen Fragen zum Datenschutz genervt werden? Sollte man die Karte an die Krankenkasse - oder gar an Seehofer - zurückschicken? Stets war man sich doch klar darüber, daß dieser individuelle, persönliche Widerstand nichts ändern würde. Die Karte ist ja nur ein kleiner sichtbarer Zipfel des großen Gesundheitsapparates - der auch ohne sie weiterläuft. Um erfolgreich Sand im Getriebe der Gesundheitsmaschinerie zu sein und damit das rasante Tempo zu bremsen, um die Entwicklung zu reflektieren und zu lenken, braucht es Bündnispartner: Kritische Patienten, Bürger, Ärzte, Techniker und Politiker müssen miteinander ins Gespräch kommen. Das "Institut für Informations- und Kommunikationsökologie" und die "Deutsche Vereinigung für Datenschutz" veröffentlichten zu diesem Zweck 1992 ihre "gelbe Broschüre" zur Kritik der Krankenversichertenkarte (KVK) (DVD 1992) und veranstalteten 1993 in Bremen eine Arbeitstagung mit dem Titel "Computerisierte Medizin - Wo bleiben die PatientInnen?".
Anfang 1994 begannen die PatientInnenstellen, sich dieser Thematik anzunehmen und forderten öffentlich ein Moratorium zur KVK (Gesundheitsladen Köln, 1994): Ihre Ausgabe sollte zunächst gestoppt werden, um eine Denkpause zu ermöglichen. Das vom Gesetzgeber durchgesetzte hohe Tempo der Einführung dieser Technologie war ihnen nicht geheuer. Patienten sollten die Möglichkeit haben, sich frühzeitig mit Chancen und Risiken vertraut zu machen und diesen Prozeß mitzugestalten. Gerade wenn ausdrücklich mit dem Patientennutzen argumentiert werde, müßten auch Patientenvertreter mit an Diskussionen und Entscheidungen beteiligt werden. Das war nie der Fall. Krankenkassen gelten zwar offiziell als Vertreter der Versicherten - faktisch haben Versicherte dort nur wenig Einfluß (Wanek, 1994).
Zeitgleich mit der Moratoriumsforderung wurde ein Musterbrief vom Gesundheitsladen Köln entworfen, mit dem die Versicherten sich bei ihren Krankenkassen über die KVK und ihren gesellschaftlichen Aspekten informieren konnten. Diese Aktion der PatientInnenstellen stieß auf reges Interesse. Die Kassen, die zunächst jeden Brief individuell beantworteten, antworteten dann irgendwann selber mit einem Muster-Antwortschreiben. Die Musterbriefaktion wurde 1995 mit einem zweiten Musterbrief der PatientInnenstellen fortgesetzt. Mitte 1994 forderten die "Deutsche Vereinigung für Datenschutz" und die "Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen" gemeinsam den sofortigen Ausgabestop der Krankenversichertenkarte und starteten eine entsprechende Unterschriftenaktion. Es waren übrigens nicht nur "arbeitslose Volksschullehrer, die die Chipkarte als Unterdrückungsinstrument der Herrschenden" (Dethloff, 1992) ablehnten. Viele prominente Informatiker, Medizinsoziologen, Juristen und Datenschützer unterstützten diese Aktion.
"... laß Dir nichts einreden, sieh selber nach! Was du nicht selber weißt, weißt Du nicht. Prüfe die Rechnung, du mußt sie bezahlen." (Bertold Brecht)
Der Bundesgesundheitsminister rief 1994 zum Ideenwettbewerb auf, um unser Gesundheitswesen für das neue Jahrtausend flottzukriegen. Ärztefunktionäre, Krankenkassen, Apothekerverbände und Techniker zerbrachen sich ihre Köpfe und polierten zum Teil uralte Ideen auf Hochglanz, um sich im Wettstreit der Akteure vorteilhaft zu positionieren. Große Entwürfe empfahlen sich für grundlegende Reformen. Chipkarten sollen uns die "gerechte und effiziente Gesellschaft" bringen, Shared Care soll das Behandlungsparadigma des 21. Jahrhunderts werden. Der Minister vergaß derweil, diejenigen nach ihren Wünschen zu befragen, die das Ganze finanzieren sollen und für die das ganze Spektakel eigentlich veranstaltet wurde: Die Patienten, die Versicherten und die Gesundheitsarbeiter.
Daß langsam ein Umdenkprozeß stattfindet, belegt der 1995 erstmalig von der AOK Berlin und der Berliner Ärztekammer initiierte, hochdotierte "Berliner Gesundheitspreis" - Ein Ideenwettbewerb, in dem Patienten und Gesundheitsarbeiter konstruktive Vorschläge für ein anderes Gesundheitswesen machen sollen. Das Problem wird hier sein, daß fertige Projektbeschreibungen eingereicht werden sollen. Diese Konzepte müssen aber erst einmal erarbeitet sein - welche Patient hat die schon fertig in der Schublade liegen? Insgesamt weist diese Initiative aber in die richtige Richtung. Die Bürger können sich aber auch ohne Leistungsdruck, auf eigene Initiative, zu Wort melden und Ideen und Visionen bezüglich ihres Gesundheitswesens entwickeln. Diesen Prozeß wollen wir mit diesem Buch anregen. Unser große Traum ist es, daß die Bürger in naher Zukunft ihre Geschicke selber in ihre Hände nehmen und beginnen, Gesellschaft mitzugestalten. Dabei gibt es viele Ebenen, aktiv zu werden: Das kann bei der Entwicklung eines eigenen Verständnisses von Krankheit und Gesundheit beginnen, geht über die Gestaltung des persönlichen Patient-Arzt-Verhältnisses weiter bis zur direkten Mitbestimmung über die politischen und organisatorischen Grundlagen unseres Gesundheitswesens.
Wir, die Autoren dieses Buches, wollen hier einige unserer Träume vorstellen, wie ein bürgerfreundlicheres Gesundheitswesen ausehen könnte. Es sind zum Teil sehr persönliche Träume, die noch nicht exakt ausformuliert sind und mehr das Gefühl, daß es auch anders gehen könnte, vermitteln - zum Teil sind unsere Träume auch schon sehr konkret. Neben unseren Ideen gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen, die von anderen Menschen und Initiativen für ein anderes Gesundheitswesen entwickelt wurden und werden. Es gilt, diese Ideen im Zusammenhang zu betrachten, denn nur so ergibt sich jenes farbenfrohe Bild eines patientenorientierten Gesundheitswesens. Jede und jeder ist aufgerufen, dazu eigene Ideen zu entwickeln und Vorschläge zu machen. Im Anhang werden Initiativen genannt, an die sich Interessierte wenden können.
Durch die Arbeit an diesem Buch weiß ich jetzt genauer Bescheid darüber, was passiert, wenn ich zu einer Ärztin gehe. Ich kenne auch meine Rechte genauer, würde mich also eher trauen, hartnäckig nachzufragen, würde darauf bestehen, daß ich Einsicht in meine Krankenunterlagen bekomme oder zu einer anderen Ärztin gehen, wenn ich einer nicht mehr traue. Vielleicht würde ich auch eine Freundin mitnehmen, wenn ich mich selbst gerade nicht so durchsetzungsstark fühle. Doch das ist nur ein sehr bescheidener Anfang, von unten, vom schwächsten Glied in der Kette aus, Strukturen zu verändern.
Am liebsten wäre es mir, wenn ich selbst solche Unterstützung außerhalb des Gesundheitswesens organisieren könnte, daß ich im Krankheitsfall allenfalls "medizinische Service-Leistungen" in Anspruch nehmen müßte, aber nicht auf Verständnis, Vertrauen und Fürsorge von Professionellen angewiesen wäre. Ein Gesundheitsbetrieb kann ohnehin keinen Ersatz bieten für Menschen, die sich aus freien Stücken um mich kümmern; schon gar nicht, wenn er so organisiert ist, daß Ärzte wie Unternehmer wirtschaften müssen. Ich möchte mit Vertrauten beratschlagen, welche Diagnosen ich einhole und welche Konsequenzen ich daraus ziehe.
Mein Ziel ist es, nicht mehr auf die Sicherheitsversprechen einer verwissenschaftlichten Medizin und den Glauben an die eine richtige Behandlung angewiesen zu sein. Obwohl ich noch nie ernstlich krank war, ahne ich, wie schwer das ist. Denn die eigenen Gewißheiten sind ein schwaches Bollwerk gegen die Angst vor Krankheit und Tod. Außerdem kann die Medizin drohen: "Wenn Sie sich nicht entsprechend verhalten, kann Schlimmeres passieren, und dafür können wir keine Verantwortung übernehmen." So wartet hinter jedem eigensinnigen, abweichenden Verhalten anscheinend ein unkalkulierbares Risiko, schlimmstenfalls der Tod. Um mich nicht einschüchtern und verunsichern zu lassen, rede ich mit anderen darüber, wie wissenschaftliche Wahrheiten fabriziert werden, wie sie Eingang finden in die medizinische Praxis und warum sich die Menschen so und nicht anders verhalten. Das nimmt mir den Respekt vor der Wissenschaft und einer verwissenschaftlichten Medizin. Was dort ausgedacht und praktiziert wird, hat ja oft nicht viel mit mir und meinen Wahrnehmungen zu tun. Trotzdem ist es immer wieder aufs Neue anstrengend, sich den Bildern zu entziehen, die die wissenschaftliche Medizin samt der neuen biomedizinischen Techniken Menschen auf den Leib schneidert.
Besonders deutlich ist mir dies daran geworden, wie sich Vorstellungen von Schwangerschaft und einer "verantwortungsvollen" Schwangeren verändert haben. Schwangerschaft ist ein Musterbeispiel dafür, wie Medizin und Medizintechnik in den Alltag vordringen, das eigene Erleben überformen und mit Fachvokabular verklausulieren.
Obgleich sich alle einig sind, daß Schwangerschaft keine Krankheit ist, gehen über 90% aller Schwangeren im ersten Drittel der Schwangerschaft zum Arzt. Ehe sie sich versehen, bekommen sie dort einen Mutterpaß ausgehändigt, und der Apparat der Routine-Untersuchungen setzt sich in Gang: regelmäßige Arzttermine, eine ausführliche Anamnese, einschließlich der Erhebung von "Risikofaktoren", wie psychischer Belastung und wirtschaftlichen Problemen, Blut-, Urin- und mindestens drei Ultraschalluntersuchungen usw.. Das in den Mutterschaftsrichtlinien vorgeschriebene Programm wird routinemäßig abgearbeitet, Datensammlungen werden angelegt. Die Zustimmung der Schwangeren setzen die Ärzte dabei stillschweigend voraus. Die Krankenkasse zahlt noch 100 DM Belohnung, wenn die junge Mutter in ihrem Mutterpaß die ärztliche Bestätigung nachweisen kann, daß sie "regelmäßig die Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen sowie die Untersuchungen nach der Entbindung in Anspruch genommen hat".
Der Automatismus, mit dem zweifelhafte wissenschaftliche Erkenntnisse in die ärztliche Routine aufgenommen werden, zeigt sich etwa bei der Ausweitung der vorgeburtlichen Diagnostik. Ärztinnen müssen heute jede schwangere Frau über 35 auf die Möglichkeit einer vorgeburtlichen genetischen Untersuchung hinweisen. Ansonsten riskieren sie es, auf Schadensersatz verklagt zu werden, wenn ein Kind mit einer "nach dem Stand von Wissenschaft und Technik vermeidbaren" Behinderung zur Welt kommt. Im Kontext der Arzt-Patientin-Beziehung wirkt die Information wie eine Empfehlung, an der Untersuchung teilzunehmen. Frauen, die sich vor ihrem 35. Geburtstag noch sicher gefühlt haben, bekommen jetzt den Eindruck, sie seien "Risikoschwangere". Dabei wird in Fachkreisen offen diskutiert, daß die undifferenzierte Altersgrenze weniger medizinisch begründet ist als durch Berechnungen, wie vorhandene Labor-Kapazitäten optimal ausgenutzt werden können. Dennoch, 60-80 % der Frauen über 35 lassen nach Schätzungen von Humangenetikern heute die Erbanlagen ihres werdenden Kindes durchchecken. Die massenhaften Untersuchungen schaffen eine neue Normalität: Sie verwandeln Schwangerschaft in ein überwachungsbedürftiges Risiko. Wer sich dieser Überwachung entzieht, muß sich Verantwortungslosigkeit gegenüber dem werdenden Kind vorwerfen lassen.
Die derzeit bestehenden, gut funktionierenden Kontrollstrukturen laden zu einer Technisierung geradezu ein. Deshalb verwundert es nicht, daß es mittlerweile auch Projekte zum maschinenlesbaren Mutterpaß gibt. So testet der Konzern Bayer 1995 optische Chipkarten bei Fachärzten für Gynäkologie in der Region Leverkusen. Auf solchen Chipkarten lassen sich noch mehr Daten speichern als bisher auf Papier, etwa Meßwertreihen fötaler Herztöne und Ultraschallbilder. In der Bundesärztekammer und unter Humangenetikern wird erwogen, Reihenuntersuchungen auf alle Schwangere, unabhängig vom Alter oder sogar auf alle Frauen, unabhängig von einer Schwangerschaft auszudehnen. Das ließe die Datenberge weiter anwachsen, so daß eine digitalisierte Speicherung notwendig wird. Ein immer feineres Datennetz spannt sich um Schwangere und Neugeborene. Die Frauen werden zur Beurteilung des Schwangerschaftsverlaufs immer unwichtiger.
Frauen könnten andere Wege einschlagen, um sich Gewißheit zu verschaffen. Sie könnten selbst entscheiden, welche Ereignisse während der Schwangerschaft sie wichtig finden und gern aufschreiben wollen, z.B. was sie geträumt haben und wann sie zum ersten Mal Kindsbewegungen gespürt haben. Sie könnten deutlich machen, daß sie nicht alles, was als Vorsorge "angeboten" wird, automatisch auch in Anspruch nehmen wollen. Ohne Unterstützung ist es nicht einfach, diese "Angebote" auszuschlagen.
Seit den siebziger Jahren sind in verschiedenen Städten Frauengesundheitszentren und Gesundheitsläden entstanden. Sie können Frauen den Rücken stärken, die von bestimmten Medizintechniken unbehelligt bleiben wollen oder die ihr Kind zu Hause zur Welt bringen wollen. Frauen können sich an diese Stellen wenden, sie unterstützen oder selbst Initiativen ins Leben rufen. Wir können uns eigene Leibbilder ausdenken, eine eigene Kultur beleben, die inkompatibel ist mit den Praktiken der herrschenden Medizin.
Immer mehr Hebammen machen sich selbständig. Ihre Kompetenz könnten Frauen viel stärker in Anspruch nehmen und sich dafür einsetzen, daß ihre Leistungen endlich angemessen vergütet werden. Außerdem müßten GynäkologInnen verpflichtet werden, sachlich über die Möglichkeiten einer Hausgeburt zu informieren und darauf hinzuweisen, daß auch eine Hebamme die Vorsorge machen könnte.
Frauen sollten einer Frauenheilkunde das Vertrauen entziehen, die fest in Männerhand ist. Um Druck auf Ärzte auszuüben, könnten Frauen eigene Qualitätsmerkmale aufstellen und gezielt bestimmte Ärztinnen weiterempfehlen, die diese Qualitätsstandards teilen, andere dagegen boykottieren. In einigen Städten gibt es in Gesundheitsläden und Frauengesundheitszentren die Möglichkeit, sich durch Erzählungen und Karteien über Ärztinnen in ihrer Stadt zu informieren.
Obwohl Frauen den geringsten Einfluß auf die Formulierung der Forschungsfragen haben, sind sie es, die letztlich die Folgen der biomedizinischen Forschung zu spüren bekommen. So bringt die vorgeburtliche Diagnostik Frauen in das Dilemma zu entscheiden, ob sie ein Kind bekommen oder die Schwangerschaft abbrechen lassen. Der gesellschaftliche Konflikt, einer eugenischen Auslese und der Diskriminierung behinderter Menschen wird auf dem Rücken von Frauen ausgetragen. Auch sind es überwiegend Frauen, die sich um kranke und behinderte Menschen kümmern. Mehr Frauen in Forschung und Forschungspolitik könnten dazu beitragen, daß Forschungsgelder umgelenkt werden: weg von der Entwicklung von Risikotechniken hin zu einer Forschung, die an der Geschichte und der Lebensrealität von Frauen ansetzt und sie mächtiger macht - anstatt sie zum "fötalen Umfeld" herabzuwürdigen.
Gerade in einer Zeit, in der sich der Staat zurückzieht und alles den Selbstregulierungskräften der Verbände und des Marktes überläßt, haben PatientInnen keine Stimme. Privatpersonen aber werden in der veröffentlichten Meinung nicht registriert, solange sie sich nicht als direkt Betroffene ausweisen können. Deshalb sollten sich Gleichgesinnte zusammenschließen.
Als Journalistin würde ich gern dazu beitragen, daß Menschen, die schon heute gegen die Normen des Gesundheitswesens leben und praktizieren voneinander erfahren und ihr Wissen öffentlich wird.
In Essen gibt es eine Ärztin, Beate Zimmermann, die auch Mitglied im Genarchiv ist. Das Genarchiv ist eine Organisation von Frauen, die sich kritisch mit Gen- und Reproduktionstechnik beschäftigen. Sie haben ein Archiv in Essen aufgebaut, es gibt dort einen Versammlungsraum, dort hat Beate ihre Praxis.
Beates Medizin ist insofern anders, als sie sich sehr ausführlich mit ihren Patienten unterhält. Viele von ihnen haben schon einen langen Leidensweg in Krankenhäusern und bei Ärzten hinter sich und erleben das erste Mal eine Ärztin, die ihnen hilft. Beate setzt fast keine Medizintechnik ein. Von dem, was die Krankenkassen für ihre Behandlungen zahlen, kann Beate nicht leben, trotz eines anspruchslosen Lebensstils. Ihre Patientinnen zahlen ihr deshalb zusätzlich 40 Mark pro Monat, egal, ob sie gerade in Behandlung sind oder nicht. Dafür behandelt Beate sie, wenn sie es brauchen. Beate und ihre Patientinnen sind eine Art Selbstversorgungs-Genossenschaft. Ich finde dieses Modell sehr gut.
1993 waren Ute Bertrand und ich zu einer Veranstaltung im Genarchiv. Dort haben wir einige von Beates Patientinnen kennengelernt, Beate selbst war auch da. Was wir über die Krankenkassen und ihre Datenverarbeitung erzählten, war Wasser auf ihren Mühlen. Denn am liebsten, so erklärten die Patientinnen uns, würden sie aus der gesetzlichen Krankenkasse austreten. Sie haben keine Lust, zweimal zu zahlen: Zum einen für die Behandlung, die sie brauchen und die ihnen hilft, zum anderen für die Krankenkasse. Bei den wirkungslosen und teuren Technik-Behandlungen der anderen Ärzte hatte die Krankenkasse monatlich das zehnfache von dem ausgegeben, was Beate braucht. Die Patienten mußten nichts zuzahlen. Jetzt, wo die Behandlung viel billiger ist und hilft, müssen sie sie selbst bezahlen. Das sehen sie nicht ein. Die jetzige Krankenversicherung sei eine Umverteilung aus ihren Taschen in die von High-Tech-Ärzten und Pharma-Konzernen. Und die künftigen Kontrollen würden eine Behandlung wie die von Beate vollends unmöglich machen.
Damals haben wir noch mit Engelszungen auf das Publikum eingeredet, in der gesetzlichen Krankenversicherung zu bleiben. Wir sind gegen Ent-Solidarisierung. Jeder Austritt von Selbständigen und freiwillig Versicherten zwingt die Krankenkassen, bei ihren verbleibenden Versicherten immer schärfer zu rationieren und zu kontrollieren. Wir sind für politische Veränderungen, für eine andere Krankenkassen-Politik. Aber: keine einzige Krankenkasse darf Beate das bißchen Geld bezahlen, das sie braucht. Es würde nichts nützen, bei den Krankenkassenwahlen eine eigene Liste aufzustellen und zu gewinnen. Das ganze verrückte Honorar-System ist gesetzlich vereinheitlicht. Verbesserungen gehen nur für alle Krankenkassen, alle Versicherten und Ärzte, oder gar nicht. Nur Seehofer und der Bundestag könnten da was ändern, darauf haben wir nicht gehofft. Man konnte also nichts machen. Unser resignativer Vorschlag war: drin bleiben, weiter zahlen, es ist das kleinere Übel.
Leider fällt mir die richtige Antwort manchmal erst hinterher ein. Und die wäre folgendermaßen: "Wer sehr wenig verdient, sollte nicht doppelt zahlen. Diese können beispielsweise aber ihren Job so ändern, daß sie in keiner Sozialversicherung mehr sind. Also z.B. auf Honorarbasis oder 560-Mark-Jobs. (Von Arbeitslosenversicherung und Rente hat man bei den niedrigen Einkommen sowieso fast nichts.) Und dann bezahlen sie nur noch Beate. Und schließen noch eine private Versicherung ab fürs Krankenhaus. Aber wer genug verdient, sollte erst mal in der Krankenkasse bleiben. Ich bleibe auch drin. Wenn einige Versicherte massenweise Ultraschalluntersuchungen, Valium usw. haben wollen, sollen sie das von mir kriegen. Das ist auch Umverteilung. Jeder kann selbst bestimmen, welche Bedürfnisse er hat; und die mehr verdienen, müssen mehr davon zahlen, also ich auch. Aber wir, d.h. ich und alle die, die viel verdienen und freiwillig in der gesetzlichen Krankenkasse sind, wir können etwas dafür tun, daß die Sozialversicherung sozial bleibt. Wir müssen ein Ultimatum stellen, mit ganz konkreten Forderungen. Also: Bezahlung der Behandlerinnen nach Arbeitszeit oder Kopfpauschalen. Keine Zuzahlungen, keine Einschränkung von Leistungen. Die Behandlungen und Medikamente entweder umsonst, beliebig oft und für jeden der will, oder gar nicht - auch nicht privat und für Geld. Und das fordern wir bis zum Tag X - sagen wir in drei Jahren, und wir sammeln Unterschriften unter unser Ultimatum. Wir sind natürlich bereit zu Verhandlungen und Kompromissen. Aber wenn wir nichts erreichen, dann treten wir am Tag X alle aus der Krankenkasse aus und machen etwas eigenes. Das müssen wir natürlich öffentlich machen. Was haltet Ihr davon?" Das hätte ich sagen sollen und würde ich jetzt sagen.
In den letzten drei Jahren gab es Foren und Podiumsdiskussionen zur medizinischen Chipkarte, mit Ministerialen, Ärzten, Kassen-Vertretern, mit Industrie und Wissenschaft. Gegen etwa 20 Milliarden DM ökonomische Interessen habe ich nur Argumente gehabt. Das lohnt nicht den Aufwand. Diskutieren mit wichtigen krawattierten Herren tut man ja nicht aus Vergnügen. Es hat keinen Sinn, Kritik zu üben, ohne Alternative im Rücken. Unser Motto muß werden: "Wir können auch anders." Deswegen wäre das jetzt mein Vorschlag.
Ein Patiententagebuch wäre ein Buch, in das jede und jeder selbst hineinschreibt, was einem für die eigene Gesundheit wichtig ist. Konfrontiert mit der Idee des Patiententagebuches reagieren Ärzte überwiegend ablehnend. Egal, ob verpackt in ein mitleidiges Lächeln oder offen artikuliertes Unverständnis - Ärzte scheinen sich einig zu sein: "Sowas wie ein Poesiealbum? - Und was soll das bringen? - So ein Quatsch - das geht doch gar nicht". So auch ein Arzt in einem Leserbrief an eine Computerzeitschrift: "Welcher Behandler will vierzig (oder mehrere hundert) Seiten durchlesen und auswerten..." wenn "vom behandelnden Mediziner, Pfleger und anderen Heilpersonen schriftlich Notizen, Skizzen, Tabellen und Kurven eingetragen werden..." (Wettig, 1994). Weitere, ähnlich klingende Bedenken ließen sich hier wiedergeben.
Assoziiert wird hier allerdings das Patiententagebuch als Krankenakte bzw. genauer, als Anhäufung zahlreicher, im Laufe einer Patientenkarriere angesammelter, ärztlich-medizinische Dokumentationen. So gesehen wäre das Patiententagebuch eine aus der Ärztehand gegebene Krankenakte, etwas vollständiger - dafür aber auch unhandlicher. Patienten wären nur die Träger dieses "dicken Buches" und in dieser Logik wäre eine Speicherchipkarte mit den gesammelten Daten tatsächlich praktischer. Allerdings bliebe zu fragen, ob die Motivation des behandelnden Mediziners besser ist, wenn er mehrere hundert Seiten an einen Lesegerät durchlesen und auswerten soll. Wenn es nicht der Mühe wert scheint, sich von professioneller Seite durch die gesamte Krankengeschichte durchzuarbeiten, sagt dies dann nicht auch darüber etwas aus, was für einen Haufen wertloses Zeug sich in den Schubladen der Ärzten im Laufe unserer Patientenkarriere ansammelt?
Aber auch Patienten assozieren zunächst eine medizinische Krankenakte, allerdings integriert in ein Tagebuch mit ihren Notizen und Beobachtungen. So ein Patiententagebuch hätte dann möglicherweise die äußere Form eines Ringbuches, hier könnten die Ergebnisse mit den Blutwerten hineingeklebt, Röntgenbilder eingeheftet werden usw. Natürlich müßte dieses, eventuell durchaus umfangreiche, Buch dann zu jeder Behandlung mitgeschleppt werden. - Es sei denn, Ärzte würden ihre Befunde nicht nur aus der Hand geben, sondern auch so verständlich erklären, daß wir wüßten, was sie bedeuten und das Buch könnte in den meisten Fällen zu Hause liegenbleiben. Immerhin wäre das Patiententagebuch eine Krankenakte in der Verfügungsgewalt der Betroffenen, geboren aus dem Ärzte-Patienten Miß-Verhältnis, eine Notlösung - und doch wäre dies ein Fortschritt zur bisherigen Praxis.
Vielleicht wäre es aber auch ein bißchen mehr. Im Tagebuch könnten Patienten Fragen und Problemstellungen selber formulieren. Der entscheidende Unterschied zu einer Krankenakte bestünde in dem Perspektivwechsel. Ärzte müßten auf ihre Patienten, auf unsere Sprache, eingehen und nicht umgekehrt. Und noch entscheidender: Fragen und Problemstellungen wären nicht auf isolierte (objektivierte) Fakten und vereinzelte Krankheitsereignisse gerichtet, sondern aus der (subjektiven) Gesamtsicht meines individuellen Lebens formuliert, in dem Gesundheit und Krankheit nur zwei unterschiedliche Seiten ein und desselben Prozesses sind.
Vermittelt über Tagebücher könnte unter Patienten ein Erfahrungsaustausch stattfinden, wie ich beispielsweise mit entzündeten oder gebrochenen Körperteilen umgehen, leben kann, ohne mich auf diese zu reduzieren. Etwa über einen gebrochenen Arm, der auch ohne medizinischen Eingriff wieder zusammenwächst, von Nieren, die wieder besser arbeiten, obwohl ich medizinisch gesehen ein sicherer Dialyse- bzw. Transplantationskandidat bin, vom Leben mit dem Darmkrebs, obwohl mich die Medizin bereits für tot erklärt hat.
Ein Patiententagebuch wäre eine patientenorientierte Technik, ein Hilfsmittel auf dem Weg zu einer veränderten Patienten-Ärzte-Kommunikation. Eine Chipkarte kann dies niemals sein, auch wenn auf ihr extra ein Bereich für "subjektive Reflektionen" eingerichtet würde. Solche sogenannten Patientenchipkarten sind für bürokratische Verwaltungsaufgaben erdacht und entwickelt worden und können nicht losgelöst von ihrem geplanten Gebrauch betrachtet werden: "Angesichts der totalitären Züge der Gesellschaft läßt sich der traditionelle Begriff der _Neutralität_ der Technik nicht mehr aufrechterhalten (...) die technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau der Technik am Werke ist" (Marcuse, 1980, 18). "Patientennutzen" ist in diesem Zusammenhang nur ein Verkaufsargument und soll die fehlende soziale Akzeptanz verschaffen.
Aber ein Tagebuch ist tatsächlich unbequem, besonders für uns selbst. Verlangt es doch Auseinandersetzung da, wo wir bisher gewohnt waren, die Verantwortung abzugeben und in die Hände der Ärzte zu legen. Denn es war ja ihr Job, über uns zu befinden - über unser Leben!
"Ein Allheilmittel gibt es nicht, sondern einzig die Verpflichtung zur insistenten, unnachgiebigen Selbstkritik." (Theodor W. Adorno)
Als Medizininformatiker stelle ich den Einsatz von Technik, und speziell der Informations- und Kommunikationstechnik, nicht grundsätzlich in Frage. Sie kann einen nützlichen Beitrag zu einer menschenwürdigen Medizin liefern - wenn sie entsprechend gestaltet wird. Mich stört in meinem Fach aber die Selbstüberschätzung und der Alleinvertretungsanspruch der maßgeblichen Akteure für das "richtige" Vorgehen bei der Computerisierung der Gesundheit. Deshalb bin ich dafür, innerhalb des Faches mehr wissenschaftliche und politische Selbstkritik zuzulassen, und auch die anderen Akteure im Gesundheitswesen einzuladen, die Vorhaben kritisch zu bewerten und mitzugetalten. Eine notwendige Voraussetzung für sinnvolle und gesellschaftlich akzeptable Technikgestaltung ist meiner Ansicht nach die direkte Beteiligung von Bürgern (Partizipation) an konkreten Technikprojekten. Ich glaube, daß Partizipation zu gesellschaftlich nützlichen und bürgerfreundlichen Systemen führen kann, die zudem noch demokratisch besser legitimiert und gesellschaftlich breiter akzeptiert wären.
Heute werden Entscheidungen in unserem Gesundheitswesen üblicherweise am grünen Tisch der Krankenkassen, Ärzteverbände, Ministerien und der Industrie - unter weitgehendem Ausschluß der Bürger - ausgehandelt. Kassenfunktionäre, Ärzte, Politiker wie Techniker fühlen sich berufen, stellvertretend für den Patienten zu sprechen. So werden auch seither alle deutschen Chipkartenprojekte ohne eigenständige Bürgerbeteiligung geplant und durchgeführt. Die Technik sei zu kompliziert, und die Verflechtungen im Gesundheitswesen seien so unübersichtlich, sagen uns die Experten. Der Normalbürger sei überfordert, in allen Detailfragen zu folgen. Partizipation sei daher praktisch leider nicht machbar. Es ist also nicht zu erwarten, daß die Leiter von Chipkartenprojekten von sich aus auf die Idee kommen, Patienten einzuladen, ihre Projekte kritisch zu kommentieren und um Hilfe zu bitten.
Stellen wir uns trotzdem einfach mal vor, daß wir darauf bestehen, bei der Bewertung und Gestaltung von Chipkartensystemen nach unserer Meinung gefragt zu werden. Vorstellbar ist beispielsweise, daß sich Leute von Selbsthilfegruppen, PatientInnenstellen und Bürgerinitiativen in einem Chipkartenbeirat zusammenfinden. Dieser selbstorganisierte Beirat beobachtet die laufenden und die geplanten Chipkartenprojekte kritisch und bildet sich eine eigene, unabhängige Meinung. Und der Beirat steht mit den anderen Akteuren - wie den Krankenkassen - im Gespräch. Er informiert sich über alle relevanten Aspekte konkreter Chipkartenprojekte und zieht bei Bedarf auch mal den einen oder anderen Experten zu Rate. Und er zeigt Alternativen zu unnötig erachteten Technikprojekten auf.
Eine wichtige Aufgabe ist die Information der gesellschaftlichen Gruppen durch ihre Vertreter im Beirat. So wird der aktuelle Stand der Dinge in die Gesellschaft hineingetragen. Der Chipkartenbeirat wäre praktisch das Expertengremium zur gesellschaftlichen Bewertung der Chipkartentechnik. Umgekehrt könnten Ideen und Anforderungen von den gesellschaftlichen Gruppen über den Beirat in laufende Chipkartenprojekte konstruktiv eingebracht werden. Die Beteiligung der Betroffenen an den technischen, organisatorischen und politischen Entscheidungen setzt voraus, daß sich die Bürger sachkundig machen und auch bereit sind, im gesellschaftlichen Diskurs Stellung zu beziehen. Daran müssen sie selber arbeiten - das kann ihnen keiner abnehmen. Die Beteiligung an der Beiratsarbeit wird auch viel Zeit und Geld kosten. Hier könnten beispielsweise die gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam die Grundfinanzierung solcher Beiräte übernehmen. Es wäre aber auch eine Art Verursacherprinzip definierbar, in dem die Kosten zum Teil aus den Chipkartenprojekten heraus - oder direkt vom Bundesgesundheitsminister - finanziert würden.
Frühzeitige und umfassende Beteiligung kann rechtzeitig zeigen, wo Konsens möglich ist und Dissens zum Umdenken zwingt. Dazu muß von allen Seiten mit offenen Karten gespielt werden - vielen Akteuren wird das schwerfallen. Das allein schafft aber das notwendige Vertrauen in das Geschehen. Nach den sonst üblichen Lippenbekenntnissen zum "Mündigen Patienten" und dem immer wieder betonten "hohen Patientennutzen von Chipkartensystemen" wäre ein echtes Partizipations-Experiment für alle sehr lehrreich. Ich möchte im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit dieses gesellschaftliche Experiment unterstützen. Interessenten mögen sich bitte an mich wenden! Vielleicht führt die Beteiligung nebenbei endlich zu einem Gesundheitswesen, das auch Otto Normalbürger auf Anhieb versteht? Es sollte effektiv und effizient, aber nicht unbedingt kommerziell-bürokatisch sein. Der Tendenz, daß die Strukturen durch moderne Technologien immer komplexer und undurchschaubarer werden, muß entgegengetreten werden. Neue Technologien müssen angemessen und bürgerfreundlich gestaltet werden. Ich möchte ein "Transparentes Gesundheitswesen", das heißt : Für den Laien durchschaubare, und warum nicht auch einfache, Strukturen auf allen Ebenen. Dafür würde ich sehr gerne auf den "Gläsernen Arzt" und den "Gläsernen Patienten" verzichten!
Unsere Untersuchung begann mit dem Mann im Kreis auf der Krankenversichertenkarte, einem Symbol der Renaissance. Wenn so viele fasziniert sind von jener Zeit und ihrer Kultur, was vermissen wir dann für uns, was ist verloren gegangen. Leonardo da Vinci und sein Freund Machiavelli konnten noch selbst überlegen, wohin sie wollten. Viele Wege lagen frei vor ihnen. Wissenschaft, Verwaltung und Technik waren noch keine Dogmen geworden. Inzwischen sind sie geronnen zur Realität und Weltanschauung, die das Denken und Leben formt und einengt. Der Wunsch, sich aus dieser Enge zu befreien, macht die Renaissance zur Utopie.
Die Helden der Renaissance haben den Unterschied zwischen Fantasie und Erfahrung, zwischen Sollen und Sein für die Nachwelt aufgestellt. Ihnen selbst war er noch nicht eingebrannt. Ob Leonardo ein Musikstück komponierte, oder eine naturwissenschaftliche Theorie erfand: er konnte Fantasie und Messung frei kombinieren. Macchiavelli mochte die Handlung eines Theaterstücks ersinnen, oder eine neue Gesellschaftstheorie, jedesmal brachte er seine Subjektivität und die Überlieferung nach Lust und Laune in Verbindung. Da es für sie keinen Unterschied gab zwischen Finden und Erfinden, zwischen Kunst und Wissenschaft, konnten sie beides zugleich betreiben.
Wenn wir uns aus der Gesunden Neuen Welt von Bürokratien und Institutionen befreien wollten, müßten wir uns diese Freiheit des Denkens zurück erobern. Neue Wege würden erst dadurch sichtbar werden.
Sie haben gegen Ihre Krankenkasse einen Rechtsanspruch auf Auskunft (§§ 79 SGB X, 305 SGB V.) Die Kassen sind verpflichtet, ihren Versicherten auf Antrag Auskunft zu erteilen über die zu Ihrer Person gespeicherten Daten, über deren Herkunft (wer hat sie an die Kasse übermittelt?), deren Empfänger (an wen können sie weitergegeben werden?) und über den Zweck der Speicherung. Die Auskunft ist unentgeltlich innerhalb von zwei bis drei Wochen zu erteilen.
Wenn Sie der Ansicht sind, daß Ihre Daten von der Krankenkasse rechts- oder verfassungswidrig erfaßt oder verarbeitet werden, oder wenn Ihrem Recht auf Datenschutz und Auskunft nicht entsprochen wird, können Sie
Wenn Sie sich an den "falschen" Datenschutzbeauftragten gewandt haben, wird dieser Sie an den richtigen verweisen oder den Vorgang weitergeben. Aus Platzgründen haben wir die Anschriften der 16 Landesbeauftragten für den Datenschutz nicht aufgeführt. Sie können sie beim Bundesbeauftragten erfahren, sie stehen auch in jeder Datenschutz-Broschüre.
Bundesbeauftragter für den Datenschutz, Riemenschneiderstraße 11, 53175 Bonn, Tel.: 0228 / 819950
Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD e.V.), Reuterstraße 44, 53113 Bonn, Tel.: 0228 / 222 498
Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (F!FF e.V.), Reuterstraße 44, 53113 Bonn, Tel.: 0228 / 219 548
Genarchiv e.V., Friederikenstr. 41, 45130 Essen
Institut für Informations- und Kommunikationsökologie (IKÖ e.V.), Fachgruppe Verdatung, c/o Universität Bremen, Postfach 330 440, 28334 Bremen
Verband Demokratischer Ärztinnen und Ärzte e.V. (VDÄÄ), Kurfürstenstraße 18, 60486 Frankfurt/M
Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen, c/o GesundheitsAkademie, Forum für sozialökologische Gesundheitspolitik und Lebenskultur e.V., Braunschweiger Straße 53 b, 28205 Bremen, Tel.: 0421 / 4984251 + 4988634
Patientenstelle Bielefeld im Gesundheitsladen, Mellerstraße 46, 33613 Bielefeld, Tel.: 0521 / 133561
PatientInnenstelle des Bremer Gesundheitsladens e.V., Hamburger Straße 61, 28205 Bremen, Tel.: 0421 / 493521
PatientenBeratung Hamburg, Heidberg 42, 22301 Hamburg, Tel.: 040 / 2796465
PatientInnenstelle Köln im Gesundheitsladen, Vondelstraße 28, 50677 Köln, Tel.: 0221 / 328724
Patientenstelle München im Gesundheitsladen, Auenstraße 31, 80469 München, 089 / 772565
Patientenstelle Zürich, Hofwiesenstraße 3, CH-8042 Zürich, Tel.: 01-3619256
Patientenstelle Basel, Hebelstraße 53, CH-4051 Basel, Tel.: 061-2614241
Patientenstelle Innerschweiz, St. Karli-Quai 12, CH-6000 Luzern 5, Tel.: 041-511014
Patientenstelle Ticino/Tessin, casa postale 1077, CH-6500 Bellinzona, Tel.: 092-261128
Clio, (Zeitschrift für Frauen und Gesundheit), FFGZ Berlin, Bamberger Str. 51, 10777 Berlin
Dr.med. Mabuse - Zeitschrift im Gesundheitswesen, Mabuse-Verlag, Kasseler Straße 1 a, 50486 Frankfurt / Main
Gen-ethischer Informationsdienst (Kritische Zeitschrift zu Gentechnik und Medizin- und Biotechnik), Schöneweider Str. 3, 12055 Berlin
Jahrbuch für kritische Medizin, Argument Verlag, Rentzelstrasse 1, 20146 Hamburg
Koryphäe, Medium für feministische Naturwissenschaft und Technik, Cloppenburger Str. 35, 26135 Oldenburg
Randschau, (Zeitschrift für Behindertenpolitik), Mombachstraße 17, 34127 Kassel
WechselWirkung, Technik, Naturwissenschaft, Gesellschaft, remember e.G., Mariabrunnstrasse 48, 52064 Aachen
Widersprüche, (Kritische Zeitschrift im Sozial- und Gesundheitswesen), Postfach 102062, 63020 Offenbach
Feministisches Frauengesundheitszentrum Berlin, Bamberger Str. 51, 10777 Berlin, (030) 2 13 95 97
Frauengesundheitszentrum Bremen, Hohenlohestr. 40, 28209 Bremen, (0421) 34 00 90
Feministisches Frauengesundheitszentrum Frankfurt, Kasseler Str. 1a, 60486 Frankfurt/M., (069) 70 12 18
FMGZ Freiburg, Adlerstr. 12, 79098 Freiburg, (0761) 3 36 76
Frauengesundheitszentrum Göttingen, Goetheallee 9, 37073 Göttingen, (0551) 48 45 30
Frauenselbsthilfeladen Hamburg, Marktstr. 27, 20357 Hamburg, (040) 4 39 53 89
Feministisches Frauengesundheitszentrum Kiel, Knooper Weg 32, 24103 Kiel, (0431) 9 44 49
Frauengesundheitszentrum Köln, Roonstr. 92, 50996 Köln, (0221) 23 40 47
Frauengesundheitszentrum München, Güllstr. 3, 80336 München, (089) 7 25 02 03
Frauengesundheitszentrum Oldenburg, Eike-v.-Repkow-Str. 36, 26121 Oldenburg, (0441) 2 61 21
Frauengesundheitszentrum Regensburg, Badstr. 6, 93059 Regensburg, (09421) 6 08 83
Frauengesundheitszentrum Straubing, Egererstr. 7, 94135 Straubing, (09421) 608 83
Feministisches Frauengesundheitszentrum Stuttgart , Kerner Str. 31, 70182 Stuttgart, (0711) 29 63 56
Bundesminister für Gesundheit, 53108 Bonn
Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Godesberger Allee 183, Postfach 20 03 63, 53133 Bonn
Berliner Gesundheitspreis, Geschäftsstelle, Rungestraße 3-6, 10179 Berlin, Tel.: 030 / 25 31 13 30 (Der Ideenwettbewerb "Berliner Gesundheitspreis" der AOK und der Ärztekammer Berlin sucht Konzepte und Vorschläge, wie unser Gesundheitswesen menschlicher und kostengünstiger gemacht werden kann und wendet sich an alle Beteiligten im Gesundheitswesen, speziell auch an Patienten und Gesundheitsarbeiter. )
Die Arbeit an diesem Buch begann 1990-1992. Damals verfaßte eine Arbeitsgruppe des "Instituts für Informations- und Kommunikationsökologie e.V." (IKÖ) eine Broschüre über die Krankenversichertenkarte. Als EDV-Jurist und ehemaliger Krankenkassen-Programmierer war Jan Kuhlmann daran beteiligt. Seine weitere Arbeit am Thema wurde vom Sommer 1992 an erleichtet durch Arbeitsgelegenheit und Zeit für selbstbestimmte Forschung im Studiengang Informatik der Uni Bremen. Ute Bertrand war kurz vor ihm in der Bremer Informatik wissenschaftliche Mitarbeiterin geworden. Sie beschäftigt sich schon seit langem mit dem Zusammenhang zwischen Informations- und Biotechnologie und ist mittlerweile als Wissenschaftsjournalistin tätig. Claus Stark ist Medizin-Informatiker und arbeitet halbtags an der Fachhochschule Heilbronn in einem Meßtechniklabor. In der anderen Hälfte des Tages promoviert er über die gesellschaftlichen Aspekte medizinischer Chipkarten.
Wir drei bildeten Anfang 1993 zusammen mit der Hamburger Sozialwissenschaftlerin und Medizin-Programmiererin Cornelia Gunßer und der Brackenheimer Erzieherin Inge Allinger eine Arbeitsgruppe, die sich Gedanken über das Konzept dieses Buches machte. Cornelia Gunßer und Inge Allinger sind später aus der Arbeitsgruppe ausgeschieden, weil sie durch andere Arbeiten ausgelastet waren. Wir möchten uns bei beiden sehr für ihre Diskussionsbeiträge und ihre Mitarbeit bedanken.
1994 ist Hans-Jürgen Jonas dazugekommen. Er ist Sonderpädagoge und arbeitet im Gesundheitsladen Köln, wir kennen uns schon länger durch die Zusammenarbeit mit den Patientenstellen.
Viele Menschen haben uns geholfen, indem sie uns in Gesprächen und Diskussionen Informationen gaben und uns halfen, unsere Standpunkte zu klären: Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte, Datenschutz-Fachleute, Verbandsfunktionäre, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Vielen Dank an sie alle.
Ganz besonders danken wir Erika Feyerabend, Ludger Fittkau, Wolfgang Hien, Wolfgang Linder, Deborah Stone, Ludger Weß und Beate Zimmermann für ihre Anregungen und ihre Ermutigung, und Beate Koglin vom Campus Verlag für ihre Unterstützung.
Ute Bertrand, Hans-Jürgen Jonas, Jan Kuhlmann, Claus Stark
Juni 1995
Abholz, H.-H., "Wie soll man das Bezahlen? - Ein Vergleich ärztlicher Honorierungssysteme", in: Arbeit und Sozialpolitik 46, S. 18-25
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